[analysiert]: Klaudia Hanisch über den politisch-gesellschaftlichen Rechtsruck in Polen und Ungarn.
Über Jahrzehnte war Polen die Gesellschaft mit der stärksten pro-europäischen Orientierung in der EU. Dies war nicht immer unproblematisch: Denn während Demokratie und Marktwirtschaft als strukturgebende Elemente der überwiegenden Mehrheit bis 1989 nur vom Hörensagen bekannt gewesen waren, stiegen die Erwartungen an diese horrend an. Heute kann man sagen, dass diese besonders bei sozial schwächeren Gesellschaftsschichten enttäuscht worden sind. Auch ist das Verständnis von der Europäischen Union, deren Institutionen und Funktionsweisen zwölf Jahre nach dem EU-Beitritt weitgehend schleierhaft geblieben sind nicht zuletzt eine Folge einer idealisierten Betrachtung aus der Ferne. Dass auch im alten Europa über Lösungen stets gestritten worden ist und die komplexen europäischen Krisen mit ihren Aporien – Eurokrise, Flüchtlingskrise, „Brexit“ – auch heute kein Todesurteil für das durchaus geschwächte Projekt Europa bedeuten müssen, erscheint jedenfalls im Osten der EU schwieriger nachvollziehbar.
Das Bewusstsein der Krise der europäischen Leitidee ist in Polen und Ungarn stärker angekommen als im alten Europa. Selbst der polnische linksliberale Intellektuelle Jacek Żakowski spricht von einem Interregnum, einem spannungsgeladenem Zeitraum, nachdem die bisherige soziale und politische Ordnung erodiert sei und eine neue sich noch nicht herauskristallisiert habe.[1] Dass in Polen und Ungarn Parteien Regierungen stellen, welche die liberale Demokratie infrage stellen und dies mit einem zuvor nicht denkbaren Sendungsbewusstsein als Ausdruck ihrer Souveränität gegenüber Brüssel oder Berlin verteidigen, sei nicht zuletzt ein Symptom dieser Krise.[2] Dabei gelten die politische Linie und der Regierungsstil Viktor Orbáns in Ungarn für die neue polnische PiS-Regierung durchaus als nachahmungswürdig. Spätestens seit seinem spektakulären Wahlsieg 2010 übt Orbán große Faszination auf polnische Politiker aus. Das liege v.a. daran, dass er wie kaum ein anderer es schaffte, am eigenem Beispiel zu beweisen, dass die Politik die Realität tatsächlich gestalten könne.[3]
In beiden Ländern ist das gesellschaftspolitische Denken derzeit verstärkt von einem utopischen Streben gekennzeichnet, das der amerikanische Politikwissenschaftler Michael Barkun als „improvisationalen Millenarismus“ bezeichnet hat und sich nahtlos in die Tradition des Millenarismus einordnen lässt. Dieser sei hochgradig eklektisch, bediene sich bei diversen, auch disparaten Überzeugungen und Weltanschauungen und münde in einer spannungsreichen Mischung aus heterodoxen religiösen Überzeugungen, Grenzwissenschaft, Verschwörungstheorien und oft radikalen politischen Ideen.[4] Sowohl das große Narrativ von Jarosław Kaczyńskis PiS wie auch von Viktor Orbáns Fidesz weisen wesentliche Züge des improvisationalen Millenarismus auf: Beide begründen ihr Vorgehen mit der Notwendigkeit eines Bruchs mit der kommunistischen Vergangenheit – mehr als zwanzig Jahre nach der Wende. Der postsozialistischen Postmoderne, die der polnische Außenminister Witold Waszczykowski im oft zitiertem Bild-Interview als einen „neuen Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen“[5], beschreibt, setzen sie traditionelle nationale Werte entgegen, von denen sie meinen, sie relativ frei bestimmen zu können.
Zentral sind dabei die sakralisierten Begriffe der Nation und der Familie. Entsprechend manichäisch und apokalyptisch wird formuliert, große narrative Linien mit klaren Freund- und Feindbildern werden gezogen. In dieses Schema fallen die regelmäßigen plumpen und befremdlich wirkenden Provokationen der PiS- Abgeordneten Krystyna Pawłowicz, die etwa zum Boykott von deutschen Waren und Banken aufrief. In der PiS-Binnenlogik bestätigt der heraufbeschworene Konflikt mit Deutschland die wachsende Geltung Polens auf dem europäischen Parkett.[6] Beide Parteien verbindet auch eine Geschichtspolitik rund um den Opfertopos der jeweiligen Nationen – auch wenn der Machtpolitiker Orbán im starken Gegensatz zur PiS heute wieder die Nähe zu Vladimir Putin sucht.
Seit dem Regierungsantritt der PiS gewinnt man den Eindruck, die Veränderung unter den zwei Legislaturperioden der Fidesz-Regierung werden in Polen in immensem Tempo nachgeholt. Kurz vor dem Weihnachtsfest brachte sie im Sejm die umstrittene Reform des Verfassungsgerichts durch und noch zu Silvester verabschiedeten die PiS-Abgeordneten das neue Mediengesetz. Bereits jetzt ist abzusehen, dass stärker an die Regierung gebundene Staatsmedien, ein geschwächtes Verfassungsgericht sowie ausgeweitete elektronische Überwachung und Datenerfassung nur der Anfang sind. Im Gegensatz zum offiziellen Narrativ von PiS und Fidesz von der Vollendung der Entkommunisierung sieht der britische Historiker polnischer Herkunft Adam Zamoyski in der Dimension der angestrebten staatlichen Kontrolle in Bereichen wie Wirtschaft, Gerichtsbarkeit, Kultur und Zivilgesellschaft und der Demontage des Systems der Checks and Balances einen Rückschritt der politischen Kultur in die Ära des Realsozialismus.
Im nächsten Schritt machte Viktor Orbán vor, wie man aufkeimende Kritik kanalisiert und die europäische Bühne nutzt, um Wähler für sich zu mobilisieren und eine nicht allein demonstrative Geschlossenheit des eigenen politischen Lagers zu erzwingen.[7] Sein Vorgehen nannte Orbán selbst den Pfauentanz. Während die europäischen Institutionen mit Diplomatie beschwichtigt werden sollen, wird in Budapest ein harter Kampf um das Bestehen der von Brüssel geknechteten ungarischen Nation inszeniert. Doch während Orbáns Diplomatie auf europäischem Parkett lange zurückhaltender agierte, spricht PiS offener und offensiver von einer deutschen Vorherrschaft in der EU. Dies könnte an der fehlenden politischen Raffinesse und an dem rhetorisch unbeholfenen polnischen Außenminister liegen. Harold James, Professor für European Studies an der Universität Princeton, zufolge sprechen jedoch Tempo und Intensität der umstrittenen Veränderung für ein strategisches Vorgehen, um negative Kritik aus dem Ausland, v.a. aus Deutschland, zu provozieren und so im Land politisches Kapital zu schlagen.[8] Der deutsch-amerikanische Historiker Walter Laqueur warnt derweil davor, die polnischen Befindlichkeiten und historischen Ressentiments gegenüber Deutschland zu bagatellisieren.[9] Auffällig ist, dass mittlerweile auch Politiker der ehemaligen Regierungspartei PO – Grzegorz Schetyna und Donald Tusk, der auch EU-Ratspräsident ist – deutsche Politiker für ihre „hysterischen Aussagen“ rügen. Damit ist v.a. Martin Schulz’ Vorwurf der „Putinisierung der europäischen Politik“ gemeint, der in Polen starke negative Reaktionen auch jenseits des PiS-Lagers hervorgerufen hat.[10]
Doch formiert sich seit einigen Monaten in Polen eine außerparlamentarische Opposition. Sie hat sich die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit Polens auf die Fahne geschrieben und tritt pro-europäisch auf. Das Tempo der Politisierung übertrifft die Erwartungen der politischen Eliten. Auch die bisher scheinbar politisch desinteressierte Mittelschicht, die sich seit dem Systemwandel stark ins Private zurückgezogen hat, verfolgt das politische Geschehen im Lande mit einer seit 1989 nicht dagewesenen Betroffenheit und organisiert sich zunehmend in der Bürgerbewegung Komitet Obrony Demokracji, kurz KOD (Komitee zur Verteidigung der Demokratie). Deren Anführer ist der bis dahin wenig in Erscheinung getretene Informatiker Mateusz Kijowski. Trotzdem schaffte KOD in den letzten Wochen bei mehreren Demonstrationen in über dreißig polnischen Städten hunderttausende Menschen auf die Straßen zu bringen. Vierzig Prozent der befragten Polen identifizieren sich mittlerweile mit den Zielen der Initiatoren.[11]
KOD ordnet sich ambitioniert in der Traditionslinie der Solidarność der 1980er Jahre und des Komitees zum Schutz des Arbeiters (KOR) ein, bedient sich deren Symbolik und erprobter Strategien. Einige ihrer Demonstrationsredner, wie Karol Modzelewski oder Henryk Wujec, sind in Polen als Legenden der damaligen antikommunistischen Protestbewegung bekannt. Die Prognose des Leiters der Denkfrabrik Krytyka Polityczna, Sławomir Sierakowski, zum KOD fällt optimistisch aus: Die Dynamik des Widerstandes werde nicht so schnell verpuffen wie in Ungarn. Auch er argumentiert historisch: Vor dem Mauerfall in den 1980er Jahren „gab es in Tschechien 300 Dissidenten, in Ungarn vielleicht 30, während im polnischen Untergrund etwa 30 Tausend Aktivisten die Solidarność organisierten“. Diese Protesttradition werde nun nach mehr als 25 Jahren revitalisiert.[12]
Währenddessen legt die im Frühjahr 2015 gegründete gesellschafts- und wirtschaftsliberale Partei Nowoczesna Ryszarda Petru (Richard Petrus Moderne) in den Umfragen von Monat zu Monat zu; im Dezember hat sie das erste Mal die PiS als stärkste Kraft überholt.[13] Die einstige Regierungspartei PO befindet sich derweil in einem Prozess der personellen und programmatischen Umstrukturierung. Vieles spricht dafür, dass sie den Weg in Richtung einer Christdemokratie einschlagen und in Zukunft versuchen wird, konservative, von der PiS enttäuschte Wählergruppen anzusprechen. Links des polnischen Parteienspektrums herrscht unterdessen immer noch weitestgehend Leere.
Klaudia Hanisch arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Żakowski, Jacek: Unia i NATO będą dalej od Polski. Trzęsienie ziemi wszystkiego, in: Wirtualna Polska, 30.12.2015, URL: http://wiadomosci.wp.pl/kat,141202,title,Unia-i-NATO-beda-dalej-od-Polski-Jacek-Zakowski-trzesienie-ziemi-wszystkiego,wid,18073482,wiadomosc.html [eingesehen am 19.01.2016]; vgl. Bauman, Zygmunt: Times of Interregum, in: Ethics & Global Politics, Jg. 5 (2012), H. 1, S. 49–56.
[2] Ebd.
[3] Chapman, Annabelle: Poland and Hungary’s defiant friendship, Politico, 6.01.2016, URL: http://www.politico.eu/article/poland-and-hungarys-defiant-friendship-kaczynski-orban-pis-migration/ (eingesehen am 18.01.2016).
[4] Siehe Barkun, Michael: A culture of conspiracy. Apocalyptic Visions in Contemporary America, Berkeley, Los Angeles/London 2003.
[5] O.V.: Bild-Interview mit Polens Außenminister: Haben die Polen einen Vogel?, in: Bild, 03.01.2016, URL: http://www.bild.de/bild-plus/politik/ausland/polen/hat-die-regierung-einen-vogel-44003034,var=a,view=conversionToLogin.bild.html [eingesehen am 18.01.2016].
[6] Majewska, Dominika: Posłanka Pawłowicz idzie na wojnę z Niemcami. „Bojkotujmy towary i banki niemieckie!“, in: natemat.pl, 14.01.2015, URL: http://natemat.pl/167865,poslanka-pawlowicz-idzie-na-wojne-z-niemcami-bojkotujmy-towary-i-banki-niemieckie [eingesehen am 18.01.2016].
[7] Vgl. Zalan, Eszter: How to build an illiberal democracy in the EU, in: EUObserver, 08.01.2016, URL: https://euobserver.com/political/131723 (eingesehen am 18.01.2016).
[8] O.V.: Is Poland a failing democracy, in: Politico, 13.01.2016, URL: http://www.politico.eu/article/poland-democracy-failing-pis-law-and-justice-media-rule-of-law/ [eingesehen am 13.01.2016].
[9] Ebd.
[10] M.M.: Schetyna: Nie możemy osłabiać partii, in: Rzeczpospolita, 12.01.2016, URL: http://www.rp.pl/Platforma-Obywatelska/160119827-Schetyna-Nie-mozemy-oslabiac-partii.html [eingesehen am 18.01.2016].
[11] Vgl. Makowski, Jarosław: Cztery uwagi po manifestacjach KOD, in: Newsweek, 10.01.2016, URL: http://opinie.newsweek.pl/demonstracje-komitetu-obrony-demokracji-dlaczego-kod-manifestuje,artykuly,377060,1.html [eingesehen am 18.01.2016].
[12] Stasiński, Maciej: Sławomir Sierakowski: Wygramy z PiS-em, bo nas więcej niż ich, in: wyborcza.pl, 16.01.2016, URL: http://wyborcza.pl/magazyn/1,149898,19482854,slawomir-sierakowski-wygramy-z-pis-em-bo-nas-wiecej-niz-ich.html [eingesehen am 16.01.2016].
[13] Sondaż IBRIS: Nowoczesna wyprzedziła Prawo i Sprawiedliwość, in: wprost.pl, 16.12.2016, URL: http://www.wprost.pl/ar/528992/Sondaz-IBRiS-dla-Onetu-Nowoczesna-liderem-PiS-na-drugim-miejscu/ [eingesehen am 16.01.2016].