[kommentiert]: Franz Walter über Politik ohne Leidenschaften.
Vor gut zwei Jahren konnte man, wenn in Deutschland von Politik die Rede war, in schöner Regelmäßigkeit den Stoßseufzer vernehmen, dass hierzulande einfach „ein Obama“ fehle. Eine Führungsperson mit Charisma also. Mit Authentizität, Glaubwürdigkeit, rhetorischer Kraft und einer mitreißenden Vision von Zukunft. Jemand, der auch junge Leute, Künstler und Intellektuelle wieder für die öffentlichen Angelegenheiten, für ein genuin politisches Projekt begeistern könne. Eine Figur, die für Werte stehe, ein Ziel verkörpere, ja: die Kräfte des Glaubens mobilisiere. Und Bildungsbürger rezitierten in diesem Zusammenhang gern den bekannten Satz von Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »Nichts Großes ist, geschweige denn wäre, jemals ohne Leidenschaft entstanden.«
Nun ist der Obama-Kult bekanntlich weitgehend verflogen und, wie nicht ganz selten in solchen Fällen, gar ins Gegenteil umgeschwenkt. Dennoch: Der Verdruss über die „graue politische Klasse“ ist in Deutschland ungebrochen. Allerdings lässt sich Leidenschaft nicht verordnen. Und ein Zuviel an stürmischer Unbedingtheit oder erregtem Enthusiasmus kann gerade in der Politik auch schaden. Indes: Die Fieberhitze ideologisch aufgeladener Temperamente müssen die ins Alter gekommenen Deutschen in diesen Jahren wohl nicht sonderlich fürchten. Denn in der deutschen Politik ist der Typus der glaubens- oder überzeugungsstarken Kraftnaturen mittlerweile gänzlich verschwunden. In der Regierungspolitik hierzulande dominiert so stark wie wohl nie zuvor in demokratischen Zeiten der Typus des politischen Administrators.
Natürlich, jede effiziente Politik benötigt diesen Typus. Parteien tun unzweifelhaft gut daran, sich solcher Frauen und Männer mit »Wirklichkeitssinn« zu bedienen. Problematisch indes wird es, wenn diese Façon politischer Technik rundum dominiert. Ganz Großes kann da, um den Staatsphilosophen des frühen 19. Jahrhunderts abermals zu bemühen, politisch nicht recht entstehen.
Ist das dann nicht eigentlich die Stunde der Tribunen, welche bekanntlich in Zeiten kollektiver Rat- und Orientierungslosigkeit schlägt? Nirgendwo allerdings wäre in der deutschen Republik ein brillanter Scout und Trüffelfinder der Politik auszumachen. Das muss man nicht nur beweinen. Denn schließlich sind dem Land so bislang auch die Wilders, Haiders, Blochers, Akessons oder Carl Ivar Hagens erspart geblieben. Überhaupt: Oft genug agieren die charismatischen politischen „Anführer“ wie säkularisierte Religionsstifter; ihre Adressaten replizieren wie hingebungssüchtige Glaubensgemeinschaften.
Andererseits: Dieser Typus besticht häufig durch kraftvolle Unkonventionalität, auch durch die Fähigkeit, Routinewege des Alltags zu verlassen, um auf diese Weise ermüdete Gesellschaften aus ihrer Trägheit zu reißen. Das kann sich auch aus dem republikanisch-demokratischen Spektrum entwickeln und politische Zuordnungen nachhaltig prägen: Ludwig Erhard oder Willy Brandt waren Beispiele dafür. Oder Thomas Dehler. Man mag ebenfalls Franz Josef Strauß dazu zählen, von der ganz anderen Seite des politischen Spektrums etwa Petra Kelly.
Besonders die 1970er Jahre waren ein signifikantes Produktionsjahrzehnt dieses politischen Führungstypus. Es ist wohl so eine Art Zyklus: Nach der großen Überfülle kommt regelmäßig die Zeit des Mangels. Das Jahrzehnt, als erbittert über Ostverträge gestritten wurde, die Kernenergie martialisch umkämpft war, die Nachrüstung die Gemüter erhitzte, war ein solches Jahrzehnt politischer Opulenz. Munterer und kontroverser als in den 1970er Jahren ging es selten in der Politik der Bundesrepublik zu. Programmatische Diskussionen gehörten zum guten Ton; parlamentarische Feldschlachten ebenso. Die Kraftnaturen der damals jüngeren und mittleren bundesdeutschen Generation hatten somit ein Terrain, auf dem sie sich prächtig austoben konnten.
Der Rausch mündet bekanntlich zumeist in den Katzenjammer. So erlebte man es auch nach dieser euphorischen Phase hochgradiger Politisierung. Seit den frühen 1980er Jahren schwand die Hoffnung auf weitreichende Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten durch Politik oder Parteien. In der Generation, die auf Wehner und Strauß folgte, galt das Politische mit seinen ständigen Arrangements, Verhandlungen und Kompromissen nun nicht mehr als Ferment umfassender gesellschaftlicher Veränderungen. So wandten sich, spätestens nach Schröder und Fischer, die Draufgänger und Ehrgeizigen der nachwachsenden Generation von der Politik ab. Die Attraktivität von Politik lebt eben von substanzieller Macht. Allein wenn der politische Sektor als die Zentralachse für die großen und gezielt eingeleiteten Transformationen der Gesellschaft angesehen wird, zieht er die Kraft- und Kampfnaturen, die Ehrgeizigen und Entschlossenen an. Zwischen 1950 und 1983 war das in einigen Intervallen so, danach nicht mehr.
Dazu: Das Parlament ist gerade für eigenständige Begabungen und gerade in den letzten zwei Jahrzehnten ein denkbar schwieriges Gelände geworden. Das hat viel mit der Mediengesellschaft zu tun, durch welche die Politik gleichsam entkernt wurde. Denn die hochmoderne Mediengesellschaft fördert einen neoautoritären Zug in der politischen Arena. Exzentriker werden infolgedessen gar nicht erst aufgestellt; Individualisten sind ohne Chance; Frondeure werden konsequent geächtet. Infolgedessen hat auch das Parlament an Bedeutung eingebüßt, an oratorischer Kraft und gedanklicher Originalität verloren.
Doch: In aller Regel spiegeln die Temperamente und Ansprachen der Polit-Prominenz durchaus so etwas wie die Seelenlage der Bevölkerungsmehrheit. Die Deutschen im Jahre 2010 sind eben nicht mehr so wie in den Jahren 1972. Sie sind erheblich älter geworden, neigen infolgedessen keineswegs zu großen Aufbrüchen, schätzen nicht beunruhigende Polarisierung und inkommode Mobilisierungsappelle. So hat die deutsche Gesellschaft einen politischen Betrieb, der ihre Mentalität durchaus angemessen ausdrückt: ohne jede genuine Leidenschaft, ohne wilde Energien, ohne funkelnde Inspirationen, ohne atemberaubende Zukunftsentwürfe. Nichts davon postuliert die Majorität der Nation. Nichts davon liefern auch die Professionellen der Sinnstiftung diesseits des Politischen, die Intellektuellen, Prediger und Kommentatoren also. Nichts davon lagert sich demzufolge in den Parteien ab, die ja seit Jahrzehnten schon Stimmungen und Ideen aufsaugen, diese aber selbst nicht hervorbringen oder prägen, erst recht nicht antizipieren.
Der Ruf nach einem „deutschen Obama“ war zwar vor zwei Jahren noch wohlfeil. Aber allzu ernst war und ist es der Republik damit dann doch nie gewesen.
Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.