Tabus, Tabubrüche und Politische Korrektheit

Themenschwerpunkt „Populismus“

[debattiert]: Alexander Hensel über die mediale Strategie des Pseudotabubruchs und die Täuschung der Öffentlichkeit. Ein Erklärungsansatz.

Die mittlerweile abgekühlte Debatte um Thilo Sarrazins populistische Thesen ähnelte vielfach vergangenen Großdiskussionen um die Political Correctness (PC), wie Philipp Kufferath (Link) auf diesem Blog analysierte. Wieder nutzten Publizisten und Politiker das Feindbild PC für eine mediale Strategie, wieder jubelte das Publikum vom Stammtisch bis zum Feuilleton. Um die anhaltende Popularität und Attraktivität der Strategie von Anti-PC– und politisch inkorrekten Positionen besser zu verstehen, lohnt eine Analyse der zentralen Begriffe dieser Konstruktion: die des Tabus und des Tabubruchs.

Denn seitdem die PC-Debatte in der BRD vor etwa 20 Jahren ins Rollen gekommen ist, sind der plakative Vorwurf der Tabuisierung bestimmter Themen und Sachverhalte sowie die prompt folgende medial inszenierte Durchbrechung derselben der argumentative Dreh- und Angelpunkt entsprechender Positionen. Dabei werden die genaue Bedeutung des Tabus, seine begriffliche Herkunft und Differenz zum juristischen oder moralischen Verbot meist galant ignoriert.

Wesentlich für die hierzulande dominante Bedeutung von Tabu sind die negative Bewertung des Phänomens sowie dessen öffentliche Ächtung. Dies speist sich aus mindestens zwei Quellen: Seit jeher wurde das Tabu als sakrales und indiskutables Verbot, als etwas Fremdes, als irrationale Konventionen und inadäquate wie illegitime Reliquie einer vormoderner Gesellschaften bewertet. Aktualisiert wurde diese negative Bewertung von den politischen Bewegungen der 1960er Jahre. Für sie wurde die Benennung von historischen und gesellschaftlichen Tabus zum zentralen Modus ihrer politischen Kritik. Während das Tabu zum politischen Kampfbegriff und zur Chiffre ihres aufklärerischen Selbstverständnisses wurde, avancierte der Tabubruch in dieser Zeit zum populären Bestandteil linker Pose.

Mit dem diskursiven Erfolg dieser politischen Anliegen wurde auch das Kritikmuster des Tabubruchs popularisiert – und in der Folge ebenso von anderen politischen Lagern aufgegriffen. Der Tabubruch wurde zum Massenphänomen. Parallel zur folgenden Inflation des Begriffs Tabu entwickelte sich hieraus eine neues Muster: der Pseudotabubruch. Anders als sein authentisches Gegenstück bezieht sich dieser nicht auf real vorhandene Tabus, sondern auf zuvor lediglich imaginierte. Während der echte Tabubruch in subversiver Absicht oft negative soziale Folgen für den Tabubrecher nach sich zieht, ist der Pseudotabubruch bloßes Spektakel ohne gravierende Konsequenzen.

Gemeinsam ist Pseudotabu-Debatten dabei ihr Mechanismus: Zunächst wird die eigene politische Position zum Tabu stilisiert. So kann die beschriebene kollektive Ablehnung von Tabus aktiviert werden. Dies ermöglicht, etwaige Kritik der eigenen Position zu diskreditieren, indem diese als bloße Verteidigung des vorgeblichen Tabus beschrieben wird. Als solche kann sie, ungeachtet ihres Inhalts, als Angriff auf Pluralismus und Meinungsfreiheit umgedeutet werden. Der Pseudotabubrecher selbst inszeniert sich demgegenüber als intellektuell redlicher Querdenker und mutiger Verteidiger dieser demokratischen Werte.

Das Muster des Pseudotabubruchs findet man in einer Vielzahl von politischen Debatten. Von den Kontroversen um die vermeintliche Herrschaft der Politischen Korrektheit in den 1990er Jahren über den von Jürgen Möllemann angestoßenen Antisemitismus-Streit im Jahr 2002 bis jüngst zur Sarrazin-Debatte: Immer inszenierten Politiker ihre politische Position als Tabu, obwohl dies schlichtweg nicht zutraf. Über all ihre Thesen wurde zuvor vielfach geforscht, geredet und gestritten. Dennoch wurden die Pseudotabubrecher nicht müde, sich als Apostel unterdrückter Wahrheiten zu verkaufen.

Dies verwundert nicht, betrachtet man die positiven Effekte des Pseudotabubruchs: Dieser eröffnet dem vorgeblichen Tabubrecher erstens die Möglichkeit einer positiven Selbstinszenierung. Diese speist sich jedoch nicht aus seiner inhaltlichen Position, sondern aus seiner geschickten Bezugnahme auf geteilte Konnotationen und unbestritten anerkannte Werte. Zweitens zieht ein inszenierter Tabubruch meist ein hohes Maß an Publizität nach sich. Denn er passt zur Logik derjenigen Medien, die mit der öffentlichen Empörung über Tabus seit jeher Ruhm wie gute Quoten und Auflagen erreichen. Drittens kann die inhaltliche Position des Pseudotabubrechers immunisiert werden, indem jegliche Kritik seiner Position in eine Verteidigung des konstruierten Tabus umgemünzt wird. Seine Kritiker werden indes als Feinde demokratischer Grundwerte diskreditiert. So gelingt es dem Pseudotabubrecher viertens, auch politische Positionen erfolgreich in der Öffentlichkeit zu etablieren, die zuvor von einer demokratischen Öffentlichkeit zurückgewiesen, aber eben nicht tabuisiert wurden. Gelingt jedoch die Inszenierung des Pseudotabubrechers, entsteht fälschlicher Weise der Eindruck, diesem nicht widersprechen zu können.

Der rhetorische Komplex des Pseudotabubruchs stellt somit eine überaus effektive politische Diskursstrategie dar, die von einer demokratischen Öffentlichkeit verstanden, reflektiert und kritisiert werden muss. Denn solange dieses Schema mit hoher Zuverlässigkeit die benannten positiven Effekte nach sich zieht, wird es im politischen Diskurs immer wieder in Anschlag gebracht werden.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Das hier vorgestellte Erklärungsmuster stellt nicht in Abrede, dass auch moderne Gesellschaften Tabus hegen und pflegen. Ob diese benannt und durchbrochen oder ob ihrer sozialen Funktion zuweilen aufrechterhalten werden sollten, sei ebenso wenig Thema wie die Frage nach einer legitimen Begrenzung des Rechts auf freie Rede.

Worum es hier geht, ist die Analyse und Kritik eines rhetorischen Musters, das von einer demokratischen Öffentlichkeit weder akzeptiert noch reproduziert werden sollte. Denn der Pseudotabubruch bleibt eine – fatalerweise zumeist gelingende – Täuschung der Öffentlichkeit. Der Pseudotabubrecher schmückt sich mit Federn, die ihm nicht gebühren: Er ist weder subversiver Märtyrer, aufklärerischer Held noch Verteidiger demokratischer Werte, sondern verfolgt seine politischen Interessen mit Mitteln, die allgemein unredlich sind und den Spielregeln einer demokratischen Öffentlichkeit widersprechen.

Alexander Hensel ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.