Parteien an der Basis (1): Die CDU
[präsentiert]: Christian Werwath über die CDU-Basis in Poppenhausen-Wasserkuppe
Das CDU-Sommerfest des Gemeindeverbandes Poppenhausen, ein rund zweieinhalbtausend Einwohner zählender Ort im Landkreis Fulda, ist auf der Homepage der Gemeinde prominent angekündigt. Auf dem vom christdemokratischen Bürgermeister zur Verfügung gestellten Rathausvorplatz stehen einige Bierbänke, ein Grill, eine Zapfanlage. Doch Profit soll hier keineswegs gemacht werden, die Einnahmen des Abends gehen an einen gemeinnützigen Verein. Das Inventar stellen zu Teilen die Gemeinde, der Verein sowie der CDU-Gemeindeverband. Wie selbstverständlich verzahnen sich hier gesellschaftliche Sphären, die in vielen anderen Gegenden Deutschlands wohl nur selten so eng miteinander kooperieren. Der im CDU-Kreisverband Fulda liegende Poppenhausener Gemeindeverband ist ein Paradebeispiel für die „heile Welt“ der Christdemokratie.
Das Netz der CDU ist hier breit bis in alle Winkel der Gemeinde gespannt. Die Parteimitglieder sind in Vereinen, Kirchen, Hilfsorganisationen und Betrieben an einflussreicher Stelle vertreten. Hier erringt die CDU als christdemokratische Parteihochburg bei Wahlen regelmäßig und zuverlässig die absolute Mehrheit, in der Regel sogar Zweidrittel der Stimmen. Die Christdemokraten besetzen dadurch sämtliche Schaltstellen der öffentlichen Verwaltung, der Schulen und Versorgungseinrichtungen. Ihre gesellschaftliche und staatliche Vormachtstellung erlangten die Christdemokraten im Ort zweifelsohne mit tatkräftiger Unterstützung der katholischen Kirche. Um diese wob sich – nicht nur dort, sondern deutschlandweit – in den Gründungsjahren der Bundesrepublik ein engmaschiges sozialkulturelles Netzwerk, auf dessen bereits vorhandenen Strukturen die CDU ihre Parteiarbeit stützen konnte.
Die Christdemokratie wurde zu einem festen Bestandteil der lokalen Poppenhausener Gesellschaft, da die Konturen zwischen politischer Arbeit, Verwaltung und ehrenamtlichem Engagement fließend ineinander übergingen. In Poppenhausen erzählt man gerne die Geschichte, wie in den fünfziger Jahren der Pfarrer zum Ende des Gottesdienstes den zahlreich in der Kirche versammelten Gläubigen den Beitritt in die CDU ans Herz legte. Parteihistorisch betrachtet war das „C“ eine lebensnotwendige Ressource, denn die gemeinsame Religion überwand soziale Barrieren, verband Unternehmer mit Arbeitnehmern, einte Alte und Junge und integrierte sie alle als Wähler und Mitglieder unter dem Dach der Christdemokratie.
In Poppenhausen sind sie bis ins Jahr 2011 ihrer Tradition treu geblieben, auf den ersten Blick jedenfalls: Auf dem Sommerfest des CDU-Gemeindeverbandes begrüßen die Redner die Anwesenden mit „Liebe Christdemokraten“ – von der moderneren Variante „Liebe Freundinnen und Freunde“ sieht man hier ab. Nicht ohne Grund, denn in der Abgrenzung zu SPD, FDP, Linken und Grünen dient der versammelten Anhängerschaft das „C“ im Namen als wichtigstes Alleinstellungsmerkmal. Mit Sorge hat die Fuldaer Christdemokratie daher den seit Jahren um sich greifenden Vertrauensverlust in die christliche Ausrichtung der CDU im Bund beobachtet. Um dem entgegenzuwirken, hat der Kreisverband eine „Fuldaer Erklärung“ zur Kommunalwahl herausgegeben. Hierin wird neben der liberalen und der konservativen Säule der CDU vor allem „das christliche Verständnis vom Menschen und seiner Verantwortung vor Gott“ als Grundlage der Politik betont. „Aus diesem Verständnis“ erwachse „die soziale Verantwortung des Einzelnen und der Gesellschaft für Schwache und Bedürftige.“[1] Dennoch, auch in Poppenhausen ist die katholische Kirche nicht mehr so präsent wie in den ersten zwei bis drei Jahrzehnten der Bundesrepublik. Die zweite und dritte Nachkriegsgeneration findet sich längst nicht mehr so regelmäßig in der Kirche zum Gottesdienst ein, wie ihre Mütter und Väter es noch taten. Auch sind die Jüngeren weitaus mobiler, streben nach mehr Individualität, öffnen sich gesellschaftlichen Trends und entfernen sich zunehmend von den verpflichtenden Elementen des rigide reglementierten katholischen Netzwerks. Der zweite Blick also zeigt, dass die offensive Betonung des „C“ ein Zugeständnis an die in der ländlichen Struktur verbliebenen traditionsorientierten Kirchgänger ist, die zunehmend von den Gebaren der moderner auftretenden Bundes-CDU verunsichert und entfremdet wird.
Die Struktur- und Wirtschaftspolitik des CDU-Gemeindeverbandes zog durch betriebsfreundliche Reformen externe und heimische Unternehmer an, die nach und nach an die Stelle der Geistlichen als gesellschaftliche Instanzen getreten sind. Auf diese historische Leistung sind die anwesenden CDU-Funktionäre stolz. Doch mit andauernder Säkularisierung ist ihnen für pragmatische Politik zunehmend die Loyalität des katholischen Milieus abhanden gekommen. Die Interessenlage ist heterogener geworden und der Anspruch an die Politik vielfältiger. Zudem musste die Wirtschaftspolitik immer stärker mit Sozialpolitik verknüpft werden. Das sozial-katholische Netzwerk, welches lange Zeit auch als Ersatz für mangelnde staatliche Hilfen diente, löste sich – zeitgleich mit der positiven wirtschaftlichen Entwicklung – auf. Die Poppenhausener Christdemokraten mussten sich daher verstärkt darin üben, Kompromisse zwischen wirtschaftlichem Fortschritt und sozialem Ausgleich zu schmieden.
Mit dem Rückzug der katholischen Kirche ist der Unternehmer zum Mittelpunkt der Gemeinde in Poppenhausen geworden, indem er die Ausbildung und das Einkommen der Einwohner absicherte, Spenden für soziale Einrichtungen sammelte, sich im Sportverein oder bei der freiwilligen Feuerwehr engagierte und regionale Stiftungen gründete. Darüber hinaus übernahm er nicht selten repräsentative Ämter in der CDU. Der Poppenhausener Mittelstand wandelte sich so zum neuen Träger der Christdemokratie. Mitglieder der Betriebsführung übernahmen öffentliche Posten und innerparteiliche Funktionen, repräsentierten die CDU in der Gemeinde, verstetigten aber auch gesellschaftliche Strukturen, indem sie die Jugend in den Betrieben ausbildete und damit über Jahre an das Unternehmen und die Region banden. Und tatsächlich: Beim Sommerfest sitzen die Unternehmer inmitten von Rentnern, Schülern, Auszubildenden, Angestellten und Arbeitern an einem Tisch – alle duzen sich, es herrscht eine vertraute Atmosphäre. Der traditionelle Netzwerkgedanke des katholischen Milieus ist auf diese Weise, nur jetzt mit dem Unternehmer als Schlüsselfigur, an die nächste Generation weitergegeben worden. Daher haben viele Teilnehmer des Sommerfestes auch den Eindruck, dass sich in den letzten Jahrzehnten in Poppenhausen nicht viel geändert hat.
Doch so heil diese Welt aus Sicht der CDU zunächst wirken mag, auch hier hat sich bereits der Keim des Niedergangs eingeschlichen. Die stetige Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse hat einen Wertewechsel begünstigt, vielleicht sogar ausgelöst. Die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben wird, nach dem Rückzug des katholischen Milieus, vermehrt an weltlichen Dingen, genauer: am materiellen Wohlstand gemessen. Den gestiegenen Wohlstand verbindet man in Poppenhausen gleichsam mit der CDU. Doch genau daraus könnte ein nicht zu unterschätzendes Problem für die Partei erwachsen, denn im Gegensatz zu religiösen Vorstellungen und den daraus erwachsenden Loyalitäten sind materielle Werte flüchtig. Die Gefahr, dass die Rente, das Einkommen oder das Eigenheim irgendwann nichts mehr wert sein könnten und nicht mehr das Leben im Alter und die Zukunft der eigenen Kinder absichern werden, ist mit der Verschärfung der ökonomischen Realitäten angewachsen. Von wirtschaftlicher Not, von Krisen und Zukunftsängsten redet in Poppenhausen indes noch niemand. Die Wirtschafts- und Finanzkrise, Bankenrettung und Griechenland erscheinen weit weg.
Das sieht der beim Sommerfest teilnehmende Mittelständler anders. Er begreift sich als Verantwortungsträger für die Region und für die Gesellschaft. Auch deshalb, weil er weiß, dass die Loyalität und die Identifikation seiner Arbeitnehmer mit dem Betrieb wichtige Ressourcen für ihn darstellen. Dieser Aufgabe allerdings weiterhin gerecht zu werden, wird offenbar immer schwieriger: Der Mittelstand sieht sich vermehrt den Komplexitäten und dem scharfen Wind der globalisierten Ökonomie ausgesetzt. Zudem wird gemeinhin die Sorge geäußert, dass der Betrieb mit dem eigenen Ableben verkauft oder geschlossen werden muss. Denn die Töchter und Söhne der alten Patriarchen studieren und heiraten in den urbanen Zentren. Der Nachwuchs kehrt der Heimat vermehrt den Rücken. Die Befürchtung, dass zugezogene Manager ohne regionale Verwurzelung und ohne lokalkonformes Wertemuster den Betrieb nach den Gesetzen der Gewinnmaximierung und weniger nach kommunalen Gesichtspunkten führen werden, ist bei den hiesigen Unternehmern allgegenwärtig. Erste Beispiele existieren bereits.
Für die CDU in Poppenhausen ist diese Entwicklung bedenklich. Ihre Stärke war stets ihre unmittelbare Anbindung an die Entwicklung der regionalen Sozial- und Gesellschaftsstruktur. Lange Zeit bildeten zunächst Christdemokratie und katholisches Milieu eine Symbiose, später waren es, quasi im fließenden Übergang, die Zusammenführung von Christdemokratie und wirtschaftlichem Erfolg. Doch was kommt, wenn der Wohlstand mal wegbricht? Die Rückbesinnung auf die Anfänge? Die Durchdringung aller staatlichen und privaten Institutionen hat vorerst ein recht festes Fundament geschaffen und die Generation der über Fünfzig- und vor allem der über Sechzigjährigen erhält die Netzwerke noch aufrecht. Doch lassen sozialstrukturelle Daten wie das Altern der Bevölkerung und die leicht abnehmende Bevölkerungszahl der Region insgesamt auf einen langsamen Verfall dieser über Generationen aufgebauten Poppenhausener „Versöhnungsgesellschaft“ (Lothar Späth) schließen.
Und schließlich: Mit dem Verlust der Jugend bricht die für die CDU so wichtige Fortführung der generationellen Netzwerke weg. Die innere Zerrissenheit darüber, wie mit diesem Problem umzugehen ist, wird an der „Fuldaer Erklärung“ deutlich: In ihrer Präambel wird einerseits das Konzept der Volkspartei betont, mit dem man sich für alle Wählergruppen attraktiv und wählbar präsentiert. Andererseits jedoch hebt die Erklärung vor allem die traditionellen Wurzeln und Werte hervor und bekennt dennoch, dass „niemand erwartet, dass christliche und konservative Positionen von allen geteilt werden“.
Christian Werwath ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Die vorliegende Reportage ist Grundlage seines Artikels „Stolze Festungen oder potemkinsche Dörfer? Erkundungen von Hochburgen der deutschen Bundestagsparteien?“, erschienen in INDES, Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, 1/2012.
[1] CDU Kreisverband Fulda (Hrsg.): Fuldaer Erklärung des CDU Kreisverbandes Fulda zur Kommunalwahl 2011, im Internet abrufbar unter URL: http://www.cdu-kreisverband-fulda.de/fuldaer-erklaerung.html, [eingesehen am 30.08.2011].