Alexander Hensel über den Erfolg der AfD bei den niedersächsischen Landtagswahlen 2022
Die niedersächsische Landtagswahl 2022 verlief – alles in allem – recht niedersächsisch: Wahlkampf und Kandidierende polarisierten mäßig, das Ergebnis entsprach den Erwartungen.[1] Eine Ausnahme bildet die AfD. Auch sie hatte sich im Wahlkampf eher gemäßigt inszeniert, konnte ihr Zweitstimmenergebnis im Vergleich zur Landtagswahl 2017 aber stark – von 6,2 auf 10,9 Prozent – steigern (s. Abb. 1). Auch wenn die AfD-Niedersachsen damit erstmals zweistellig abschneidet, imponiert weniger die Höhe ihres Erfolgs, als dass ihr dieser unter äußerst widrigen Umständen gelang. Elektoral hatte die AfD in Niedersachsen in der Vergangenheit stets deutlich unterdurchschnittlich abgeschnitten; ihr Landesverband war über Jahre ebenso chaotisch wie zerstritten und im Hannoveraner Landtag verlor die AfD 2020 nach heftigen Konflikten und Austritten sogar ihren Fraktionsstatus.[2] So ist äußerst erstaunlich, dass gerade die AfD Niedersachsen Gewinne erzielen konnte, während ihre Schwesterverbände bei den vergangenen neun Landtagswahlen stets Verluste einfuhren.
Die Wählerwanderungen zeigen jedoch, dass die politische und parlamentarische Performanz der AfD ihre Wahl offenbar kaum beeinflusst hat.[3] Trotz aller Krisen und Skandale stimmten rund 70 Prozent der AfD-WählerInnen von 2017 auch 2022 für die Partei. Nur zehn Prozent haben sich (partei-)politisch in die Nichtwahl verabschiedet, geringe Anteile liefen zur CDU bzw. zu den „anderen“ Parteien über oder verstarben. Hinzu kommen 2022 zudem rund 400 000 neue WählerInnen, die etwa 60 Prozent des aktuellen AfD-Elektorats bilden (s. Abb. 1). Sie speisen sich dabei vor allem aus den – stimmanteilig geringen, absolut jedoch beachtlichen – Verlusten von CDU, FDP, SPD und „anderen“ Parteien (inkl. Linke), die zusammen rund 1 100 000 WählerInnen an ihre Konkurrentinnen verloren haben.[4] Ein knappes Achtel (rund 140 000 WählerInnen) davon landete nun bei der AfD, die besonders hohe Zuströme von CDU (50 000), FDP (40 000) und SPD (25 000) verzeichnete.
Wer von den genannten Parteien zur AfD übergelaufen ist, lässt sich an der Sozialstruktur ihrer Wählerschaft näher nachvollziehen.[5] Wie gewohnt, wurde auch die AfD in Niedersachsen überdurchschnittlich stark von Männern gewählt. Abermals verzeichnet sie vor allem in mittleren Alterskohorten (35–44 Jahre) weit überdurchschnittliche Zuwächse (+10 %), während CDU (−9 %) und SPD (−8 %) hier starke, aber auch die FDP (−3 %) merkliche Einbrüche verzeichnen. In diesen meist mitten im beruflichen und familiären Leben stehenden Kohorten nähert sich der AfD-Anteil (17 %) dem der SPD (22 %) und CDU (25 %) an. Neu ist dagegen, dass die AfD in Niedersachsen unter jüngeren WählerInnen (18–25 Jahre) überdurchschnittlich abgeschnitten hat (+7 %), was ansonsten nur den Grünen (+7 %) gelang.
Ebenso interessant ist die Berufsstruktur der AfD-WählerInnen:[6] Leicht überdurchschnittliche Zugewinne erzielte die AfD unter Selbstständigen (+6 %), die zu deutlich geringeren Teilen CDU (−7 %) und SPD (−8 %) gewählt haben. Dabei: Mit einem Anteil von 13 Prozent ist die AfD in Niedersachsen bei Selbstständigen in dieser Wahl anteilig schon genauso erfolgreich wie die FDP. Massiv hat die AfD auch unter ArbeiterInnen (+12 %) hinzugewonnen, unter denen die FDP (−4 %) leichte und die SPD (−13 %) massive Verluste erlitten. Auch wenn die AfD selbst damit keine ArbeiterInnen-Partei ist, verfügt sie in dieser gesellschaftlichen Gruppe mit 24 Prozent inzwischen fast ebenso hohen Rückhalt wie CDU (25 %) und SPD (28 %).
Aufschlussreich ist natürlich auch, wo die AfD besonders stark gewählt wurde. Grundsätzlich ragen die regionalen Hochburgen der AfD in Niedersachsen weniger empor als in anderen Bundesländern. Ihr höchstes Ergebnis erzielte sie mit 18,4 Prozent im Wahlkreis Salzgitter. Dennoch gelang es der AfD durchaus, sich in der Breite zu konsolidieren. In immerhin 40 Wahlkreisen stieg sie zur drittstärksten Kraft auf, wobei sie mit den Grünen konkurriert, denen dies in 36 Wahlkreisen gelang. Während die Grünen vor allem in niedersächsischen Großstädten und den umgebenden Regionen reüssierten, eroberte die AfD vor allem Wahlkreise in und um Klein- und Mittelstädte sowie in ländlichen Regionen. Zugleich erzielte die AfD aber auch in Großstädten als einzige Partei neben den Grünen Zugewinne (AfD: +4 %; Grüne: +10 %).[7]
Überdies zeichnen sich zwei Hochburgregionen der AfD ab, in denen traditionell die SPD dominierte und weiter stark bleibt (s. Abb. 2).[8] Hier war zuletzt zum Teil ein Rückgang der Unterstützung der Grundlagen der repräsentativen Demokratie gemessen worden.[9] Die erste AfD-Hochburgregion war bereits bei den Landtagswahlen 2017 zu erkennen. Sie reicht von den ländlich-protestantisch geprägten Regionen nördlich von Hannover nach Osten und in den Süden des Landes herunter.[10] Im industriell geprägten Südosten, zwischen Gifhorn, Helmstedt, Wolfenbüttel und Salzgitter, erzielte die AfD 2022 nun Rekordergebnisse zwischen 14 und 18,4 Prozent. Die zweite und neue AfD-Hochburgregion findet sich im Nordwesten. Sie erstreckt sich im protestantisch-sozialdemokratisch geprägten Friesland von den Nordseeinseln bis knapp nach Cloppenburg. Nachdem die AfD hier 2017 nur durchschnittlich abgeschnitten hatte, erzielte sie 2022 nun deutlich überdurchschnittliche Ergebnisse (13,5–15,6 %), vor allem aber besonders starke Zuwächse (7,4–9,2 %). Den hohen Zugewinnen der AfD im Nordwesten stehen dabei starke Einbußen der Sozialdemokratie gegenüber. In den ländlich-katholisch geprägten CDU-Hochburgen südlich von Cloppenburg hat die AfD dagegen nur leicht überdurchschnittlich abgeschnitten.
Warum viele WählerInnen nun die AfD gewählt haben, lässt sich schließlich anhand der in Wahlumfragen erhobenen Motive nachvollziehen.[11] Diese weisen zunächst auf eine Protestwahl der Unzufriedenen hin: 52 Prozent der AfD-WählerInnen geben an, ihre Wahlentscheidung aus Enttäuschung über die anderen Parteien getroffen zu haben (alle Befragten: 30 %); 90 Prozent sehen die AfD als einziges Mittel, um ihrem Protest über die vorherrschende Politik auszudrücken, 83 Prozent sind mit der Demokratie in Deutschland insgesamt unzufrieden (alle Befragten: 39 %). Auch die Zufriedenheit mit der Arbeit der Landesregierung ist unter AfD-WählerInnen besonders niedrig (AfD: 6 %, alle Befragte: 56 %). Jenseits dieser allgemeinen Unzufriedenheiten und Protesthaltungen sind zwei Ergänzungen angebracht:
Einerseits beruht die ausgeprägte Unzufriedenheit stark auf ökonomischen sowie mit dem Ukraine-Krieg und der Energiekrise verbundenen Befürchtungen: Fast 80 Prozent der AfD-WählerInnen beurteilen die allgemeine wirtschaftliche Lage als schlecht (alle Befragte: 54 %), ein Drittel schätzt auch die eigene wirtschaftliche Lage negativ ein.[12] Die übergroße Mehrheit von ihnen rechnet mit Einkommens- und Wohlstandsverlusten (97 %), sorgt sich davor, Rechnungen nicht mehr bezahlen zu können (84 %), sowie vor einem Zusammenbruch der Energieversorgung im Winter (81 %). Andererseits stimmen die AfD und ihre WählerInnen in zentralen politischen Forderungen überein, die von den anderen Parteien nicht oder nur eingeschränkt vertreten werden. So finden 72 Prozent der AfD-WählerInnen es gut, dass die Partei die Sanktionen gegen Russland aufheben will, 84 Prozent unterstützen den Einsatz gegen die Corona-Beschränkungen. Die größte Einigkeit herrscht im vormaligen Kern-Thema der AfD: 99 Prozent der AfD-WählerInnen finden es gut, dass sie den Zuzug von AusländerInnen und Flüchtlingen stärker begrenzen will.
Zieht man die verschiedenen Ergebnisse zusammen, lässt sich der überraschend hohe AfD-Erfolg bei der niedersächsischen Landtagswahl 2022 auf Basis der vorliegenden Analysen folgend erklären: Aufbauend auf ihre äußerst treue und frustrationstolerante Kernwählerschaft profitierte die AfD stark von der aktuell massiven Krisen- und Proteststimmung. Sowohl ausgeprägte ökonomische Sorgen als auch abweichende politische Positionen haben WählerInnen von CDU, FDP und SPD zur AfD getrieben. Sie profitierte dabei sowohl vom anschwellenden Unmut über die Folgen aktueller Krisen als auch vom politischen Dissens über deren Lösung. Auf diese Weise konnte die AfD abermals die politische Polarisierung in einer Krisensituation nutzen, um in die Kernwählerschaften der beiden bürgerlichen Parteien sowie der Sozialdemokratie einzudringen.
Auch im parteipolitisch bislang relativ sturmfesten Niedersachsen werden damit Erosionen der großen etablierten Parteien merklich beschleunigt.
Alexander Hensel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demokratieforschung. Er beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit der Parteien- und Parlamentsentwicklung der AfD auf Landesebene.
[1] Zu Wahlkampf und Wahlausgang vgl. etwa Preuß, Susanne: Mittelmaß in Niedersachsen, in: FAZ, 04.10.2022, S. 17; Bingener, Reinhard/Schrörs, Tobias: Im Land von Stephan Weil, in: FAZ.net, 09.10.2022, URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/wahl-in-niedersachsen/reportage-vom-wahlabend-in-hannover-18374952.html [eingesehen am 12.10.22].
[2] Vgl. Finkbeiner, Florian/Schröder, Niklas: Die AfD und ihre Wähler in Niedersachsen. Eine Fallanalyse zum Sozialprofil der Wählerschaft und ihrer politischen Einstellungen am Beispiel von Niedersachsen, FoDEx-Studie, Göttingen 2020.
[3] Vgl. o. V.: Wie Wähler in Niedersachsen wanderten, in: tagessschau.de, 10.10.2022, ULR: https://www.tagesschau.de/inland/waehlerwanderung-interaktiv-niedersachsen-101.html [eingesehen am 12.10.2022].
[4] Nicht berücksichtigt sind hier die Wanderungen ins Lager der Nicht-Wähler und Todesfälle.
[5] Vgl. o. V: Wen wählten Jüngere und Ältere?, in: tagesschau.de, 10.10.2022, URL: https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2022-10-09-LT-DE-NI/umfrage-alter.shtml [eingesehen am 12.10.2022].
[6] Vgl. o. V.: Wen wählten Angestellte und Selbstständige?, in: ebd., 10.10.2022, ULR: https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2022-10-09-LT-DE-NI/umfrage-job.shtml [beides eingesehen am 12.10.2022].
[7] Vgl. hierzu Riethmüller, Felicia: Tektonische Verschiebungen?, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 13.10.2022, URL: https://www.demokratie-goettingen.de/blog/tektonische-verschiebungen [eingesehen am 13.10.2022].
[8]Eine dritte AfD-Hochburgregion liegt in der Region Hameln, wurde hier aus Platzgründen aber ausgelassen. Grundsätzlich fallen die jeweils höchsten 25 Wahlkreis-Ergebnisse und Zugewinne der AfD fast ausschließlich in die drei Hochburgregionen, vgl. Landeswahlleiterin Niedersachsen: Regionale Besonderheiten bei der Landtagswahl 2022 in Niedersachsen, URL: https://wahlen.statistik.niedersachsen.de/LW2022/reports/Sonstiges/024.pdf [eingesehen am 14.10.2022].
[9] Vgl. Schenke, Julian/Munderloh, Annemieke/Franzmann, Simon T./Kühnel, Steffen: Niedersächsischer Demokratie-Monitor. NDM 2021. Politische Einstellungen in Niedersachsen während der Corona-Pandemie. Göttingen 2021, S. 33–36.
[10] Vgl. Bingener, Reinhardt: Prägung schmilzt, in: FAZ, 11.10.22, S.3.
[11] Vgl. folgend o. V.: Wer wählte die AfD – und warum?, in: tagesschau.de, 10.10.2022, URL: https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2022-10-09-LT-DE-NI/umfrage-afd.shtml [eingesehen am 14.10.2022].
[12] Vgl. o. V. Wie beurteilen Wählende ihre Situation?, in: tagesschau.de, 10.10.2022, URL: https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2022-10-09-LT-DE-NI/umfrage-lebensverhaeltnisse.shtml [12.12.2022].