[präsentiert]: Felix Butzlaff liest Robert Skidelskys „Die Rückkehr des Meisters. Keynes für das 21. Jahrhundert“.
Wenn ein studierter Wirtschaftswissenschaftler ein biographisch angelegtes Buch über einen anderen, in diesem Falle weltberühmten, Ökonomen verfasst, dann bietet die Lektüre für einen wirtschaftswissenschaftlich interessierten Politikwissenschaftler oft Raum und Anlass zur Enttäuschung. Allzu verschieden sind dann vielfach die Perspektiven und Fragen an den jeweiligen Gegenstand, allzu anders die sich aufdrängenden Leerstellen. Im vorliegenden Fall von Robert Skidelskys Buch über John Maynard Keynes und seine mögliche Bedeutung heutzutage liegt dies aber dankenswerterweise anders.
Denn Skidelsky ist zwar studierter Ökonom, hat auch an der University of Warwick als Professor gelehrt, eine mehr als umfangreiche, dreibändige Keynes-Biographie verfasst, und wäre demnach sehr wohl in Gefahr, sich in den ökonomischen Detailzügen seines Gegenstandes zu verlieren. Doch ist Skidelsky mindestens genauso ein Historiker („meine erste akademische Liebe“), was Studium, Perspektive, Fragestellung und persönliches Interesse anbelangt, und gerade dies macht sein Buch über einen der einflussreichsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts so spannend.
Es geht dem Autor nämlich nicht allein darum, eine weitere mögliche Keynes-Interpretation vorzulegen und abzuklopfen, welche Fehler ein Banken- oder Wirtschaftsführer Keynes in der jüngsten Weltwirtschaftskrise möglicherweise vermieden hätte. Zwar hat das Buch durchaus Kapitel, die sich mit Krisenrezeption, -ursachen und möglichen Keynes´schen Ideen dazu beschäftigen – diese gehören aber eindeutig zu den fahrigsten und eher zu überblätternden Stellen des Werkes. So beginnt Skidelskys Nacherzählung der ökonomischen Rezession, die in der Finanzkrise ab 2008 ihren Anfang nahm, mit der Ankündigung, bisherige Krisendeutungen würden nun verworfen, korrigiert und entlarvt. Was dann aber auf etwa 50 Seiten folgt, hinterlässt nicht unbedingt das Gefühl, einem faszinierenden Feuerwerk an Klarheit, Struktur und Plausibilität beizuwohnen – und obendrein bislang ungehörte, bestechend scharfe Argumente serviert zu bekommen.
So ungar oder unüberschaubar allerdings die aktuelle Krise seziert wird – was angesichts der ja nur wenig zurückliegenden und nicht abgeschlossenen Entwicklung vielleicht kaum anders zu bewerkstelligen ist –, so interessant und packend gestalten sich die Schilderungen von Keynes´ Leben und seinem Weg hin zu seinen wirtschaftswissenschaftlichen Theorien und Ansichten. Dieser war nämlich keineswegs rein akademisch-volkswirtschaftlich geprägt, im Gegenteil: Skidelsky schildert Keynes als einen ökonomischen Praktiker, der versuchte, aus seinen Erfahrungen in der Aktienwirtschaft und der Wirtschafts- und Finanzpolitik Verallgemeinerungen zu ziehen, Regelmäßigkeiten und Voraussagemöglichkeiten zu erkennen. „Keynes war ein Meister darin, auf der Grundlage eigener oder fremder ‚Erfahrungsdaten‘ Einsichten über das tatsächliche Funktionieren des Marktsystems zu formulieren. Als Ökonom kam es ihm unbedingt darauf an, seine Annahmen so realistisch wie möglich zu formulieren, ganz im Gegensatz zu den vielen Theoretikern aller Zeiten, für die die Realitätsferne der Annahmen anscheinend das Hauptverdienst ihrer Modelle ist.“ (Skidelsky, S. 96)
Damit ist vielleicht der Ausgangspunkt der Faszination von Keynes herausgeschält: die Gabe des Beobachtens, das Bauchgefühl, eine kreative Intuition, die es erlaubte, „mithilfe ‚wachsamer Beobachtung‘ gute Modelle auszusuchen“ (S. 99). Denn im Grunde erscheint er als „Nichtökonom“, der viele verschiedene akademische und reale Wirklichkeiten versuchte aufzusaugen, um so Ideen und Anregungen zu sammeln, wie er das in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts noch vergleichsweise undurchsichtige Feld einer globalen (Finanz-)Ökonomie verstehen und erklären könne. Und diese Ideen probierte er in der Praxis auch aus, entwickelte beispielsweise Investitions- und Börsenstrategien, die er mit eigenem und dem Geld seiner Freunde dann auf den Prüfstand stellte – nicht immer mit gutem Ausgang: Insgesamt dreimal verlor er fast sein gesamtes Vermögen, verschuldete sich hoch, und starb am Ende doch vermögend. Es sind auch gerade diese Schilderungen, die den Ökonomen Keynes durch dessen Lernerfahrungen im Entstehen beobachten und verständlich machen, die Skidelskys Buch so lesenswert werden lassen.
Dass bei seinem Drang, selbst auszuprobieren, alle Details der Praxis mit einzubeziehen, zu verallgemeinern und leicht verständlich zu formulieren, die heute weit vorherrschende mathematisch-statistische Volkswirtschaftslehre bei Keynes auf nicht allzu viel Verständnis stieß, leuchtet ein. Und auch Skidelsky entwickelt parallel dazu die „Moral von der Geschicht´“, dass die nach Keynes immer mehr zunehmende Fixierung der Wirtschaftswissenschaften auf eine rein zahlenbasierte Beweisführung das Vorstellungsvermögen und die Fantasie der Ökonomen verarmen ließ – und am Ende dazu führte, dass die immer zahlreicheren Einschränkungen der Modellrechnungen diese für reale Prognosen immer wertloser werden ließen. Mit entsprechenden Konsequenzen für die Relevanz des Faches und seiner Vertreter, wie am Beispiel der letzten Weltwirtschaftskrise unterstrichen wird.
Keynes schien die Wissenschaft von der Ökonomie nicht als eine Art Naturwissenschaft zu betrachten, in der man den Untersuchungsgegenstand auf sehr langfristige und stabile Gesetzmäßigkeiten hin durchleuchtet, sondern vielmehr als Sozialwissenschaft, die zum Ziel habe, das sich ständig wandelnde, oft völlig irrationale Element des menschlichen Verhaltens zum Ausgangspunkt zu machen. Kaum ein Ökonom hat die Bedeutung der Unsicherheit so stark betont: „Die Unsicherheit zwingt den Menschen zu einer Art permanenter Furcht vor der Zukunft, die den wirtschaftlichen Fortschritt bremst.“ (S. 142) Dieses Unwissen und diese Angst müssten von Menschen, die sich in Volkswirtschaften bewegten oder diese regelten, in ihre Entscheidungen mit einbezogen und handhabbar gemacht werden. Dass der Staat als Ausfallgarant eine tragende Rolle im Wirtschaftskreislauf übernehmen sollte, beispielsweise, folgt fast automatisch – ebenso übrigens, dass ein Investor eine moralische Verpflichtung besitze, Aktien nicht im Sekundentakt zu kaufen und wieder abzustoßen, sondern diese auch als eine Art langfristige Aufgabe zur Sicherung des gesellschaftlichen Wohls zu verstehen. In der Verknüpfung von dem Versuch, die nicht zahlenmäßig abzubildenden, ständig wechselnden menschlichen Ängste, Hoffnungen und Verhaltensweisen in eine ökonomische Theorie einzubringen mit einem Ethos, das die Wirtschaft als Vehikel für gesellschaftliche Stabilität begriff, wurzelt Keynes´ Bedeutung und die zentrale Stellung, die der – im Übrigen keineswegs sozialistisch denkende – englische Ökonom lange Zeit genoss.
Skidelsky schildert diese Wege Keynes´ hin zu seinen zentralen Lernerfahrungen und den Schlüssen daraus, ohne sich in der Behandlung allzu zerfaserter Theoriediskussionen zu verlieren. Dass die heutige Volkswirtschaftslehre von der Herangehensweise und der Begeisterung für die Beobachtung, dem Stellenwert der wissenschaftlichen Intuition, die Keynes auszeichneten, eine Menge lernen könnte, liegt auf der Hand. Und folglich fällt auch das Urteil Skidelskys über die ökonomischen Deutungsangebote der letzten Jahrzehnte nicht gerade positiv aus. Mehr Fantasie, mehr Mut, mehr persönliche Erfahrung im Dickicht der Finanzströme: Es fehle ein wenig mehr offene Sozialwissenschaft in der Welt der Wirtschaft. Dies als (ein) Fazit einer biographischen Abhandlung über einen der einflussreichsten Ökonomen des vergangenen Jahrhunderts zu lesen, macht dann nicht nur Spaß, sondern ist für einen Göttinger Politikwissenschaftler auch noch ein sehr ermutigendes Beispiel.
Rezension zu: Robert Skidelsky: Die Rückkehr des Meisters. Keynes für das 21. Jahrhundert, Verlag Antje Kunstmann, München 2010.
Felix Butzlaff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.