[präsentiert]: Frauke Schulz und Christian Werwath laden ein zu ihrer Lehrveranstaltung „An der Spitze Niedersachsens: Politische Führung und Biographie“ im WS 2010/11.
Die Ministerpräsidenten von Niedersachsen haben sich jüngst in der bundesdeutschen Politiklandschaft als ehrgeizige Aspiranten auf die höchsten Ämter der Republik erwiesen. Volkstümelnde Provinzpolitiker jedenfalls sehen anders aus: Gerhard Schröder statuierte mit dem Schritt ins Bundeskanzleramt 1998 ein Exempel, nachdem sein Vorgänger Ernst Albrecht 1980 immerhin beinahe Kanzlerkandidat geworden wäre. Auch der derzeitige Vorsitzende der Sozialdemokraten Sigmar Gabriel lenkte einst die Geschicke zwischen Harz und Nordsee und baut derzeit als nächster ehemaliger niedersächsischer Ministerpräsident seine Anwartschaft auf das Kanzleramt aus. Erst kürzlich avancierte sein Nachfolger Christian Wulff zum ersten Mann der Republik, nachdem auch er lange als potentieller Merkel-Nachfolger gehandelt wurde.
Das Amt des niedersächsischen Regierungschefs ließe sich also durchaus als ein Karrieresprungbrett zu den höchsten Rängen der bundesdeutschen Politik bezeichnen. Es scheint, als könne ein Politiker, der es an die niedersächsische Regierungsspitze geschafft hat, seelenruhig auf den nächsten Karriereschritt warten. Rosige Zukunftsaussichten also für den Neu-MP David McAllister?
Es gibt jedoch auch Gegenbeispiele: Der glücklose Gerhard Glogowski beispielsweise verschwand nach knapp 14-monatiger Amtszeit (Oktober 1998 bis Dezember 1999) ganz in der politischen und öffentlichen Versenkung – der Ehrenvorsitz der Braunschweiger SPD erscheint zumindest im Vergleich zu den Laufbahnen seiner Vorgänger und Nachfolger wenig rühmlich. Was machte der Mann, der zuvor acht Jahre erfolgreich das Innenministerium geleitet hatte, als Regierungschef falsch? Oder hatten seine Amtskollegen einfach mehr politische Fortune?
Auch sämtliche früheren Vorgänger von Wulff, Gabriel und Co. schafften es nach deren Engagement an der Spitze der Niedersächsischen Staatskanzlei nicht über die Landespolitik hinaus. Es scheint jedoch, als habe sich im historischen Prozess zunächst einmal die Abfolge der Karriereschritte verschoben: So übten die Ministerpräsidenten der Prä-Schröder-Ära durchaus bedeutende Ämter aus, die für die Bundespolitik von Belang waren – allesamt jedoch vor ihrer Zeit als Landeschef. Dies führte letztlich aber dazu, dass Namen wie Hinrich-Wilhelm Kopf, Heinrich Hellwege, Georg Diederichs oder Alfred Kubel heute kaum noch jemandem – selbst zwischen Göttingen und Cuxhaven oder Helmstedt und Leer – ein Begriff sein dürften. Das Amt des Landeschefs war für sie Karrierehöhe- und -endpunkt zugleich.
Doch macht sie dies zu weniger erfolgreichen Ministerpräsidenten? Hatten sie überhaupt jemals Ambitionen, die über die Landesgrenzen hinausreichten? Waren sie nicht vielleicht im Gegenteil sogar die besseren Regierungschefs für Niedersachsen, da sie sich mehr auf das Land und weniger auf die Bundespolitik konzentrierten? Oder haben sich im Verlauf der Jahre vielleicht ganz einfach das Amt selbst, die mit ihm verbundenen Fremd- und Eigenzuschreibungen, die Parameter und Maßstäbe für Erfolg und Misserfolg verändert?
Eines zumindest deutet sich bereits an: Der Posten des niedersächsischen Regierungschefs ist seit Gründung des Landes 1946 äußerst facettenreich besetzt worden. Wer waren die Landesväter und Manager, Provinzfürsten und Politmoderatoren an der Spitze Niedersachsens, die Prominenten und die Vergessenen? Die Männer (und es sind bisher ausschließlich Männer), die den Posten bisher übernommen haben, könnten sich mitunter kaum stärker voneinander unterscheiden:
Der „Rote Welfe“ Hinrich-Wilhelm Kopf wanderte mit 16 Jahren nach New Jersey aus und schlug sich dort einige Zeit mit Gelegenheitsjobs durch. Kurze Zeit später kehrte er nach Deutschland zurück, übernahm dort vom Landwirt bis zum persönlichen Referent des Reichsinnenministers die unterschiedlichsten Berufe. Während des Nationalsozialismus war er als Vermögensverwalter in Polen – was ihm später den Vorwurf des Kriegsverbrechens einbrachte –, bevor er zum Sozialdemokraten und ab 1946 für insgesamt elf Jahre zum allseits beliebten – und außerordentlich trinkfesten – niedersächsischen Landesvater avancierte.
Sein späterer Amtsnachfolger Alfred Kubel dagegen kämpfte vor und während des Krieges gegen die Nationalsozialisten. Der gelernte Drogist und Vollblutkaufmann gehörte dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) an, einer sektenhaften antidemokratischen, sozialistischen Splittergruppe, die unter anderem den Kirchenaustritt, Alkoholverzicht, Vegetarismus und sexuelle Abstinenz von ihren Mitgliedern forderte. Wegen „Vorbereitung des Hochverrats“ wurde er schließlich von der Gestapo ins Gefängnis gesteckt. Nach Kriegsende trat Kubel – wie ein Großteil des ISK – der SPD bei und bekleidete bis zu seiner Wahl zum Ministerpräsidenten im Jahr 1970 fast durchgehend Ministerposten im Land. Dabei stand er mit dem Selbstverständnis eines Managers fast allen Ressorts vor, von der Landwirtschaft bis zu den Finanzen.
In den Ruf eines Managers, gar eines kühlen und unnahbaren Technokraten kam auch Ernst Albrecht. Der von Karl Jaspers ausgebildete Philosoph und studierte Volkswirt zeichnete sich bereits mit jungen Jahren – lange vor seinem niedersächsischen Engagement – als „Graue Eminenz“ der Europäischen Einigung aus. Im gleichen Zeitraum promovierte er zum Doktor der Volkswirtschaft. Die Ochsentour war Albrechts Wunsch nicht: Kurz nach Beginn seines landespolitischen Engagements 1970 übernahm er zusätzlich – bis er 1976 Ministerpräsident wurde – einen Vorstandsposten beim Keksfabrikanten Bahlsen.
Seine überraschende Wahl zum Regierungschef gilt bis heute als eines der größten ungelösten Politmysterien Niedersachsens: Zur Halbzeit der Legislaturperiode plante die SPD die Ablösung Alfred Kubels durch den fast 20 Jahre jüngeren Helmut Kasimier. Trotz einer zwar knappen, aber sicher geglaubten Mehrheit im Landtag scheiterte dies jedoch. Stattdessen wurde Ernst Albrecht völlig unerwartet zum ersten christdemokratischen Ministerpräsidenten des Landes. Es dauerte 14 Jahre, bis die Sozialdemokraten mit Gerhard Schröder die Macht in Hannover zurückgewinnen konnten.
Durch seine Komplexität birgt das Amt des Ministerpräsidenten besondere Reize und Bürden zugleich: Die Rolle als „Präsident“ verlangt einerseits Repräsentation von Land und Leuten; sie impliziert regionale Verwurzelung, quasi-aristokratisches Auftreten und philanthrope Volkesnähe. Die Funktion als Chef der Landesminister andererseits ergänzt den Anforderungskatalog um Qualitäten wie persönliche Autorität, kühle Kalkulation, politische Strategiefähigkeit und einen hellwachen Geist. Hinter einem jeden Regierungschef steht derweil die Landespartei, die ihn als medial beachtetes Aushängeschild beansprucht und dabei Großes erwartet: Visionäre Führung einerseits, parteiliche Linientreue andererseits. Zum Machtgefüge, das den niedersächsischen Ministerpräsidenten umgibt, zählt schließlich auch die heterogene politische Kultur des Bundeslandes, seine Eigenart, Tradition und Geschichte.
Der niedersächsische Ministerpräsident muss also ein Meister des Rollenwechsels sein: ein leiser Integrator und souveräner Regent, zugleich in alle Richtungen vernetzt und präsidial-autonom, Manager einer riesigen Verwaltungsmaschine genau wie väterliche Identifikationsfigur. Oder?
Frauke Schulz und Christian Werwath sind wissenschafltiche Hilfskräfte im Projekt „Politische Führung im deutschen Föderalismus – Die Ministerpräsidenten Niedersachsens“ am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
Infos zum Seminar:
„An der Spitze Niedersachsens: Politische Führung und Biographie“. Einzeltermine am 28.10. und 4.11. (12.15 Uhr bis 13.45 Uhr) im VG 2.103 . Blockseminar vom 21.1.2011 bis 23.1.2011 im MZG 1213.