Krise in Tschechien

[analysiert]: Klaudia Hanisch über die politische Krise in Tschechien.

Selten nur rückt das politische Geschehen in Tschechien in den Fokus der europäischen Berichterstattung. Nachdem in der Nacht zum 13. Juni eine Sondereinheit der Polizei für Korruptionsbekämpfung mehrere Regierungsgebäude durchsucht hatte, trat einer dieser Ausnahmefälle ein. Der spektakulären Razzia folgten Festnahmen von acht Staatsbediensteten, darunter auch die Büroleiterin und Geliebte des tschechischen Premierministers, Jana Nagyová. Die Beschuldigungen des Haftrichters reichen bei Nagyová von der Anweisung ehemaliger Chefs der Militärspionage, die Noch-Ehefrau des Premierministers gesetzeswidrig und „aus persönlichen Motiven“ zu beschatten, bis zur Bestechung dreier früherer Abgeordneter der Demokratischen Bürgerpartei (ODS). Diese hatten sich 2012 dem Sparkurs des Premiers widersetzt und angedroht, die Regierung zu stürzen. Kurze Zeit später legten sie ihre Mandate nieder und nahmen lukrative Posten in Aufsichtsräten staatlicher und halbstaatlicher Unternehmen ein.

Ein Sturm ging durch die kleine und politisch sonst eher träge Republik. Premierminister Petr Nečas musste wenige Tage nach den Enthüllungen sein Amt aufgeben, woraufhin ihn die rechtsliberale Presse nicht wie üblich zum Übeltäter und Sündenbock, sondern zur tragischen Figur hochstilisierte. Seine Regierung, so der Pressetenor, habe die Unabhängigkeit der Justiz gestärkt und sei nun selbst Opfer der zunehmend selbstbewussten Ermittlungsbehörden geworden. In einigen Zeitungskommentaren wurden Zweifel über die Rechtmäßigkeit des Vorgehens der Ermittler geäußert. Vor allem der Vorwurf der Bestechung der drei Abgeordneten wurde in Frage gestellt. Nečas selbst kritisierte das Vorgehen der Polizei und die „Kriminalisierung von politisch ausgehandelten Kompromissen beim Austausch von Ämtern“. Ein solcher politischer Kuhhandel sei Teil des politischen Geschäfts in vielen Ländern der Welt. „Hilfst du mir, dann helfe ich dir“, hatte Nečas noch wenige Tage vor seinem Rücktritt im Parlament erklärt. „Falls dies eine Straftat sein sollte, dann müsste man die ganze tschechische politische Repräsentation festnehmen“, polemisierte er weiter.[1]

Einige politische Kommentatoren wie der Politikwissenschaftler Jíří Pehe begrüßten solche Reaktionen als ein Indiz dafür, dass das politische System von der plötzlichen Aktion der Polizei überrumpelt worden sei und sich in seinen etablierten Handlungsmustern sichtlich eingeschüchtert fühle.[2] Die Untersuchungen weisen eindeutig auf eine systemische Schieflage hin – die Verbindung der höchsten Ebenen der Politik mit sogenannten „Prager Paten“ (die verdächtigten Lobbyisten Roman Janoušek und Ivo Rittig konnten sich vor der Razzia rechtzeitig ins Ausland absetzen). Bezeichnend ist, dass der Verdacht der Staatsanwaltschaft niemanden sonderlich überraschte. An die Fernsehbilder von Politikern, die in Handschellen abgeführt werden, hat man sich mittlerweile gewöhnt.[3] Auch die Vertrauenswerte der politischen Klasse sind seit langer Zeit am Boden. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CVVM von Frühjahr 2013 bewerteten die meisten Tschechen schon vor der jetzigen Krise die politische Kultur im Lande als schlecht. Am kritischsten standen die Bürger den Abgeordneten (86 Prozent negativ) und der Regierung (79 Prozent negativ) gegenüber.[4] Bemerkenswert ist jedoch die erstmals mit dem entschiedenen Vorgehen der Justiz zusammenhängende diffuse Hoffnung auf eine Erneuerung der politischen Klasse.

Schon seit geraumer Zeit üben Intellektuelle und Politiker, die sich in der geistigen Tradition des 2011 verstorbenen Václav Havel verordnen, an der politischen Kultur in Tschechien massive Kritik. In den Neunzigern machte der damalige Präsident Havel in offiziellen Ansprachen auf die Verflechtung der Wirtschaft mit der Politik aufmerksam. Der politische Alltag werde nicht vom Wettstreit von Ideen, sondern von wirtschaftlichen Interessen privilegierter Kleingruppen geprägt. Demgegenüber stellte er sein Modell der „Antipolitik“, das die Betonung auf die moralische Verwurzelung der Politik legt und ethische Mittel und Ziele in den Vordergrund stellt.

Der Prozess der Systemtransformation nach 1989 mit seinem Kernelement der Eigentumsüberführung war jedoch ein riesiges politisches Experiment, das nicht von Humanisten wie Havel, sondern von Ökonomen umgesetzt wurde, die nicht zum harten Kern der Dissidenten des kommunistischen Regimes gehörten. Zu Koryphäen des Postkommunismus erwuchsen die Wirtschaftswissenschaftler Václav Klaus und der jetzige Präsident Miloš Zeman. Sie setzten die Standards, die im krassen Gegensatz zur Havels „Antipolitik“ stehen: Einer idealistischen Grundhaltung zogen sie nutzorientierten Pragmatismus und ökonomische Effizienz vor. Klaus selbst reduziert die Zeit nach 1989 gerne auf einen einzigen politischen Kampf zwischen ihm und Václav Havel.

Unter der Ägide von Klaus fand die umfassende Privatisierung des Staatsbesitzes statt, in deren Verlauf dubiose Finanzexperten durch die sogenannte Untertunnelung (tunelovani) privatisierten Firmen immense Summen hinterzogen. Obwohl die Tschechoslowakei mit 97 Prozent den größten Anteil an verstaatlichtem Eigentum unter den mittel- und osteuropäischen Staaten hatte, war der größte Teil der Privatisierung bereits Mitte der neunziger Jahre abgeschlossen. Der Vorsitzende des Abgeordnetenhauses des Tschechischen Parlaments und Dichter Milan Uhde (ODS) verglich diesen Prozess mit der „Öffnung der Schleuse“ und dem „Hereinlassen des wilden Wassers“.[5] 1998 wurde zwischen Klaus und Zeman ein „Oppositionsvertrag“ geschlossen. Die vermeintlichen politischen Konkurrenten verständigten sich auf die Verteilung von Posten und Geldern, als Preis dafür, dass die ODS das Zeman-Kabinett aus der Opposition heraus toleriert. Diese Phase der neuesten tschechischen Geschichte wird manchmal auch als die „bleierne Zeit“ bezeichnet.

Es ist offensichtlich, dass der Privatisierungsprozess soziale und psychologische Auswirkungen auf die Bevölkerung hatte. In Tschechien spricht man von der Existenz einer sogenannten zweiten Gesellschaft und ihrer Schattenwirtschaft. Schon in den 1970er und 80er Jahren wurden zum Teil relativ expansive private Wirtschaftsaktivitäten auf inoffizieller, teilweise familiärer Basis toleriert. Die im Realsozialismus etablierte Mentalität von Vetternwirtschaft, geheimen Absprachen, Geldwäsche und vor allem Missbrauch der Informationsasymmetrie wurde nach 1989 konserviert. Heute wie damals profitieren davon am stärksten privilegierte Kreise. Das Paradigma der Systemtransformation hatte zudem einem stabilisierenden Effekt auf den Klientel-Kapitalismus: Indem viele Missstände als nötiges Übel der Übergangszeit gedeutet wurden, wurde der Klientelismus indirekt legitimiert.

Dass Klientelismus und Korruption in Tschechien mittlerweile Ausmaße erreicht haben, die als belastend empfunden werden, zeigt unter anderen eine Eurobarometer-Umfrage, laut derer in Tschechien neben Griechenland, Zypern und Slowenien am stärksten über Korruption geklagt wird. Es ist jedoch gleichzeitig das einzige Land ist, in dem eine Mehrheit (51 Prozent) verneint, dass Korruption unvermeidbar und schon immer da gewesen sei.[6] Dies erklärt auch die Reaktionen auf die Neujahrsamnestie des Ex-Präsidenten Václav Klaus. Als herauskam, dass unter den Betroffenen dutzende Geschäftsleute sind, die in den neunziger Jahren wegen spektakulärer Finanzskandale und Betrugsfälle angeklagt wurden, formierte sich breiter Protest. Der Senat reichte sogar eine Hochverratsklage gegen den Präsidenten wegen Überschreitung seiner Machtbefugnisse ein. Auch wenn diese Anklage vom Verfassungsgericht verworfen wurde, scheinen die Tschechen in diesen Tagen mehr denn je gespalten zu sein in die Lager von Havel bzw. Klaus.

Falls sich das aktuelle Parlament angesichts des aktuellsten Skandals nicht vor Ende der Legislaturperiode selbst auflösen sollte, könnte sich bis zu den geplanten Parlamentswahlen im Mai 2014die seit dem 10. Juli amtierende und vom Parlament nicht bestätigte Übergangsregierung unter dem früheren Finanz- und Industrieminister Jiří Rusnok halten.  Eine Beamten- bzw. Expertenregierung, war allerdings schon 2009 zustande gekommen und hatte damals vor allem eins bedeutet – politischen Stillstand. Auf den ersten Blick sticht beim jetzigen Regierungsbildungsprozess vor allem ein bizarres Kräftemessen zwischen dem Präsidenten Miloš Zeman und den etablierten Partien hervor. Rusnok, den Zeman trotz des Widerstands der vergangenen Regierungskoalition  zum Premierminister ernannte, unterstützt keine der im Parlament vertretenen Parteien.

Doch dem Politikwissenschaftler Oskar Krejčí zufolge bringe die Übergangsregierung unter den jetzigen Umständen auch Chancen mit sich: „Die grundsätzliche Frage ist, ob sie die derzeit laufenden Ermittlungen über die Verbindung von organisierter Kriminalität mit der Spitzenpolitik hemmen oder unterstützen wird. Falls die Ermittlungen auch auf andere Parteien übergehen – also nicht nur ODS, sondern auch TOP 09 und gegebenenfalls auch die Sozialdemokraten, betroffen sein werden – dann kann diese Übergangsregierung einen markanten Beitrag zum Umbau des gesamten Parteiensystems leisten.“[7] Der Impuls für eine Wende in der politischen Kultur scheint somit gegeben. Ob der Strippenzieher Zeman die historischen Möglichkeiten nutzen will und zu dieser reiskanten Volte tatsächlich bereit ist, bleibt aber fraglich.

Klaudia Hanisch ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Zuletzt erschien ihr Buch „Links in Polen„.


[1] Vgl. Kopecký, Josef:  Nečas: Úplatek to nebyl a likviduje to politiku. Stíhání se nebojím, in: iDnes.cz, 18.06.2013, online einsehbar unter http://zpravy.idnes.cz/necas-se-neobava-trestniho-stihani-poukazuje-na-kauzu-barta-pqw-/domaci.aspx?c=A130618_151231_domaci_kop.

[2] Pehe, Jíří: Kriminalizace politiky nebo krimipolitika?, in: Právo, 19.06.2013,  online einsehbar unter http://www.pehe.cz/Members/redaktor/kriminalizace-politiky-nebo-krimipolitika.

[3] Sušová-Salminen, Veronika: Spanilá jízda. Politický styl Nečasovy vlády a jeho důsledky, in: Britské listy, 19.06.2013, online einsehbar unter http://www.blisty.cz/art/68989.html.

[4] CVVM, Důvěra některým institucím veřejného života, März 2013, online einsehbar unter http://cvvm.soc.cas.cz/media/com_form2content/documents/c1/a6976/f3/po130327.pdf.

[5] Milan Uhde in TV NOVA, Sieben Tage mit Nova, in: Právo, 25.03.1996.

[6] Special Eurobarometer 374: Corruption Report, Februar 2012, online einsehbar unter http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_374_en.pdf.

[7] Martin Nejezchleba: Interview mit  Oskar Krejčí „Die Expertenregierung schadet eher der Linken“ in: Prager Zeitung, 26.06.2013.