[kommentiert]: Milena Fritzsche über die Debatte rund um Angela Merkel und die Anpassung an die DDR.
Unter dem bereits Verdacht schürenden Titel „Das erste Leben der Angela M.“[1] wurde im Mai dieses Jahres eine Debatte über das Leben der Kanzlerin im „Land der Brüdern und Schwestern“ angestoßen. Die Autoren fragen: „Wie viel DDR steckt in Angela Merkel?“[2] und werfen ihr vor, mit der Legende von der braven Pastorentochter und emsigen Naturwissenschaftlerin ihre Vergangenheit als aktive Propagandistin im Dienste des Sozialismus zu verbergen.[3] Sie sei nun die Regierungschefin eines Landes, „das sie einst gar nicht wiedervereinigen wollte“.[4]
Doch – ausgerechnet im Wahljahr – als aufklärerische Tugendwächter zu agieren, erscheint nicht allzu sinnvoll. Vielmehr muss Merkels Vergangenheit im ostdeutschen System im Kontext der Frage nach generellen Prozessen der Anpassung betrachtet werden, bevor eine solche moralische Bewertung stattfinden kann.
Für das Gros der Ostdeutschen war eine Kindheit mit dem blauen Halstuch (Jungpioniere) und im blauen Hemd (Freie Deutsche Jugend, kurz: FDJ) ganz selbstverständlich. „Mitgliedschaften in Massenorganisationen wie der FDJ […] gehören zu den meisten Biografien wie im Westen die Mitgliedschaft im ADAC.“[5] Die Lehre des allmächtigen Marxismus-Leninismus war Bestandteil des Kerncurriculums einer jeden Schule und Universität. In Aufsätzen schrieben ganze Generationen von Schülern Loblieder auf den Sozialismus in seiner ganzen Pracht und Blüte. Dies kann nicht als ein Zeugnis von lauter überzeugten Klassenkämpfern gelten, sondern ist schlichtweg als Ausdruck von schulischem Ehrgeiz zu verstehen und nachzuvollziehen, wohl auch als Strategie, um Konflikte mit Autoritäten zu vermeiden. Eine gewisse Form der Anpassung erschien der Mehrheit angebracht, um das eigene Leben meistern zu können und Aussicht auf beruflichen Erfolg zu haben. Also gab man sich dementsprechend zwar den ideologischen Floskeln hin, versuchte aber gleichzeitig, dem System ansonsten eher aus dem Weg zu gehen und eine eigene Nische zu finden.
„Ich war gerne in der FDJ“, berichtete Merkel in einem Gespräch mit dem Journalisten Günter Gaus. Und ferner erklärte sie: „Anpassung ist auch – selbstverständlich – Teil meines Lebens gewesen.“[6] Die Autoren des Buches „Das erste Leben der Angela M.“ nutzen dies, um weitere Indizien für Merkels angebliche Anbiederung ans System aufzudecken. Sie habe schon früh reges Interesse am Russischen gezeigt und dabei überdurchschnittliche Sprachkenntnisse bewiesen.[7] In ihren Beurteilungen werde stets ihr hervorragendes gesellschaftliches Engagement gelobt, sie habe freiwillig Ehrenämter innerhalb der sozialistischen Organisationen übernommen. Während der ersten Protestbewegungen im Zuge der Ausbürgerung Wolf Biermanns habe sie statt oppositioneller Betätigungen im stillen Kämmerlein an ihrer Diplomarbeit gefeilt.[8] Dabei scheinen die beiden (westdeutschen) Autoren „sozialistische Phrasen ernster als zu DDR-Zeiten“[9] zu nehmen und wichtige Differenzierungen und Nuancen zu verkennen. Merkel war sicherlich unauffällig, äußerte sich nur sehr vage und überaus vorsichtig zu politisch brisanten Themen. Aber sie setzte sich mit kritischer Literatur auseinander, diskutierte im kleinen Kreis Alternativen und engagierte sich eben auch nicht in der SED. Zumal es auch keine Anzeichen dafür gibt, dass sie jemanden angezeigt oder gar denunziert hätte. Natürlich verfolgte sie ihre wissenschaftliche Karriere. Aber mit den Naturwissenschaften wählte sie eine weitestgehend ideologiefreie Fachrichtung. An der Akademie der Wissenschaften in Berlin genoss sie als Physikerin einige (Denk-)Freiheiten. „Der Parteimief drang nicht bis in die letzten Winkel der Büros und Forschungsräume.“[10] Die Wissenschaftler bemerkten aber auch die schlechte wirtschaftliche Situation sowie den mangelnden technologischen Fortschritt der DDR, denn es fehlte an Arbeitsgeräten und Rechnern und sämtliche Gerätschaften waren veraltet. Da Merkel für einen kurzen Aufenthalt an die Universität Karlsruhe gehen durfte, bekam sie hier sehr deutlich den Fortschritt des Westens im Gegensatz zum Osten vor Augen geführt.[11] Merkel beurteilte die Situation ihres Landes auch nicht gerade anerkennend, sondern fand „die Aussicht, mit völlig unzureichenden Mitteln weitere fünfundzwanzig Jahre zu forschen […] nicht gerade verlockend.“[12] Wenngleich Merkel – wie die Mehrheit damals – ein Ende der DDR und die Wiedervereinigung wohl kaum für realistisch und vorstellbar hielt, so sah sie doch die zunehmenden Probleme und verfolgte aufmerksam und mit sichtlicher Sympathie die Veränderungen im Ostblock sowie Gorbatschows Reformprozesse.[13]
In Bezug auf die Menschen in der DDR ist Vorsicht geboten, eine klare Einteilung in Täter und Opfer vorzunehmen, da sich eine solche Schwarz-Weiß-Malerei oft genug als unzureichend erwiesen hat. Beispielsweise hatte etwa der Schriftsteller und Bürgerrechtler Jürgen Fuchs zunächst angenommen, er könne innerhalb der SED Positives bewirken, bevor er sich vom real-existierenden Sozialismus distanzierte, zur Persona non grata erklärt wurde und in Stasi-Haft landete. Im Nachhinein analysierte er die Täter-Opfer-Relationen: „Also immer ist jeder auch ein bißchen Täter. Sehen Sie sich diese DDR-Gesellschaft an. Wer hat denn da nicht auch geschwiegen, irgendwie mitgemacht?“[14] Auch Roland Jahn, der derzeitige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, dem viele als Opfer des DDR-Regimes eine vorbildliche Oppositionellen-Biografie bestätigen würden, hat sich zunächst angepasst. Natürlich war er Mitglied der FDJ, und eben auch bei der Bereitschaftspolizei tätig. „Ich wurde nicht als Staatsfeind geboren“, sagte Jahn einmal offen, sein Leben sei ein „Hin und Her zwischen Anpassung und Widerstand“ gewesen.[15]
Merkel unternahm zwar durchaus nach der Wende den Versuch, über ihre Vergangenheit zu reden, aber sie resignierte schnell: „Ich merkte […], wie schwer es ist für jemanden aus den alten Bundesländern, aktive Mitgestaltung an dem sozialistischen System von notwendiger Anpassung zu unterscheiden, und wie schwer es auch für uns ehemalige DDR-Bürger ist, einheitliche Maßstäbe für die Bewertung des Lebens in der früheren DDR zu finden.“[16] Dabei finden auch in Demokratien Prozesse der Anpassung statt, weshalb auch Bürger der Bundesrepublik zumindest Verständnis für dieses Verhalten aufbringen sollten. Denn auch hier möchte man – obwohl die äußeren Zwänge in einer Demokratie viel geringer sind – nicht unbedingt anecken und passt sich an, um im eigenen Betrieb oder in einer Partei Karrierewege beschreiten zu können. Die sogenannte Ochsentour – die zahlreiche Politiker absolvieren, um an höhere Ämter zu gelangen – erfordert beispielsweise ein hohes Maß des Ein- und Unterordnens, aus der Reihe darf hier niemand tanzen.
Widerstand in Diktaturen ist vielleicht keine Bürgerpflicht. Doch wer es sich im Staat der DDR bequem machte und zum Mitläufer avancierte, muss sich bewusst sein, dass dieses Verhalten das System stützte und keine Veränderungen herbeiführte. Wichtig ist, über das eigene Verhalten nicht zu schweigen, sondern die Verantwortung dafür zu übernehmen, darüber zu berichten und in diesem Sinne zur Aufarbeitung beizutragen. Dazu gehört ein öffentlicher Diskurs und das Nachdenken über die vielen Mitläufer und verschiedenen Formen der Anpassung. Für das Verständnis der Geschichte sind Aufklärung und Erzählungen wichtig – auch und gerade von einer ostdeutschen Bundeskanzlerin.
Milena Fritzsche studiert Politikwissenschaften an der Uni Göttingen.
[1] Reuth, Ralf Georg/ Lachmann, Günther: Das erste Leben der Angela M., München 2013.
[2] Ebd., S. 12.
[3] Vgl. ebd., S. 285.
[4] Ebd. S. 7.
[5] Bollwahn, Barbara: DDR- und West-Biografien. Bau auf, bau auf!, in: Die Tageszeitung vom 21.05.2013, online einsehbar unter: http://www.taz.de/!116527/ [letzter Zugriff: 28.06.2013].
[6] Zitate aus: Günter Gaus im Gespräch mit Angela Merkel, Sendung vom 28.10.1991, ARD.
[7] Reuth, Ralf Georg/ Lachmann, Günther: Das erste Leben der Angela M., München 2013, S. 66.
[8] Ebd., S. 97 f.
[9] Berg, Stefan: Aktenzeichen Angela M. ungelöst, in: Der Spiegel vom 14.05.2013.
[10] Reuth, Ralf Georg/ Lachmann, Günther: Das erste Leben der Angela M., München 2013, S. 101.
[11] Langeguth, Gerd: Angela Merkel, München 2010, S. 339.
[12] Merkel, Angela: Mein Weg, S. 69 f.
[13] Berliner Morgenpost vom 08.03.2000, „Zweimal täglich Mokka mit Angela“.
[14] Fuchs, Jürgen: „… und wann kommt der Hammer?“. Psychologie, Opposition und Staatssicherheit, Berlin 1990, S. 30 f.
[15] Zitate entnommen aus der Rede Roland Jahns am 17.06.2010 anlässlich der Denkmaleinweihung für politisch Verfolgte in der DDR in Jena, online einsehbar unter: http://www.jena.de/fm/1727/rede_roland_jahn.pdf [letzter Zugriff: 05.07.2013].
[16] Roll, Evelyn: Die Kanzlerin. Angela Merkels Weg zur Macht, Berlin 2009, S. 99.