Halbzeit für Schwarz-Gelb (4)
[analysiert]: Michael Lühmann über den Führungsstil der Kanzlerin Angela Merkel nach zwei Jahren in der schwarz-gelben Regierung.
Kurz vor der entscheidenden Abstimmung über den Euro-Rettungsschirm im deutschen Bundestag redet die Kanzlerin wieder eifriger von Europa, nachdem sie lange Zeit gar nicht oder nur distanziert über Europa gesprochen hatte. Gleichwohl hält sie keine flammenden Plädoyers für Europa, wie es die, zwischenzeitlich Kritik übenden, Altkanzler noch vor ihr tun konnten, als Europa noch die Idee des Friedens und der Solidarität verkörperte und sich nicht nur von Ratingagenturen treiben ließ. Sie kann sich nicht positionieren, weil sie das eigene, einst proeuropäische, bürgerliche Lager nicht mehr hinter sich weiß – und weil sie die Konsequenzen klarer Führung fürchtet.
Die Kanzlerin ist häufig als lernendes System beschrieben worden. Und jene Erfahrung, dass Schweigen besser als Führen sein kann, reicht zurück in das Jahr 2003. Die Folgen des Leipziger Parteitages von 2003 haben sie endgültig immun gemacht gegen große politische Entwürfe. In Leipzig hatte sie – dem Zeitgeist nachgebend und eine Profilschärfung zulassend – die Partei Tacheles reden lassen und sich an die Spitze der marktradikalen Bewegung gestellt. Das Wahlergebnis von 2005 war die Folge; und seither gilt das Merkelʼsche Diktum, dass „erpressbar“ werde, wer zu viel verspreche.
Die Konsequenz dieser Erkenntnis konnte man in den Jahren der Großen Koalition beobachten. Merkel wurde zur erfolgreichen Maklerin dieses Bündnisses, das sie präsidial moderierend zu ihren Gunsten beenden konnte, indem sie mit Symbolpolitik zugleich SPD und Grüne zentraler Projekte beraubte. Ihre Inszenierung als Klimakanzlerin war erstaunlich erfolgreich, zugleich ließ sie ihre Vertrauten inhaltliche Pflöcke, etwa in der Familienpolitik, gegen die SPD einrammen – und modernisierte so en passant die Union in wichtigen Politikfeldern.
Was in der Großen Koalition erfolgreich gewesen war, funktionierte aber in einer originär bürgerlichen Koalition nicht mehr. Hier erwartete man von der Kanzlerin Profil, Haltung und Sinn. Das zu liefern war Merkel aber nicht im Stande. Umso stärker ging die FDP mit ihrem lautstark vorgetragenen Steuersenkungsautismus in Vorlage und verlieh dem bürgerlichen Projekt einen Sinn, der im Grunde gar keiner war. Und auch in der Union spürte man, nach Jahren in der Opposition mit dem vermeintlichen Wunschpartner vereint, eine Sehnsucht nach Orientierung und Vision.
Woher aber kam die Hoffnung, Merkel würde, nachdem sie die Union seit nunmehr knapp einem Jahrzehnt ohne erkennbares Profil führte, hier liefern können und wollen? Natürlich hat sie Chancen zur Profilbildung ausgelassen. Etwa in der Frage einer christlichen Begründung der eigenen Politik. Statt in der Debatte um die Präimplantationsdiagnostik, in einer der christlich-normativ begründbaren letzten Fragen, unverletzliche Positionen nicht preiszugeben, ließ Merkel auch hier Fraktion und Partei letztlich freien Lauf. Aber vielen Kritikern des vagen, weichen Kurses der Parteivorsitzenden ging es mitnichten um jenen, einst als unverrückbar geltenden Grundpfeiler christlicher Schöpfungsbewahrung.
Es waren eher viel profanere Debatten – etwa jene über den Umgang mit der Vertriebenen-Präsidentin Erika Steinbach – die Merkel vor die Füße geworfen wurden, aber eigentlich auf die stille Modernisierungspolitik der Parteivorsitzenden abzielten. Die Stellvertreter-Kritiken am mangelnden Konservatismus von Union, respektive Kanzlerin verschärften sich nochmals, als die vermeintlich letzten Fackelträger des Konservatismus, etwa Günther Oettinger oder Roland Koch, selbst schon mehr Symptom denn Lösung der Krise des Konservatismus, Merkel den Rücken kehrten. Als dann auch noch Jürgen Rüttgers, Christian Wulff und Ole von Beust ihren Rückzug aus der Landespolitik bekanntgaben, war auch die Parteivorsitzende Schuld: ihr männlicher Führungsstil, ihre viel kritisierte vermeintliche Profillosigkeit verbunden mit vorsichtiger Risikovermeidung, kurz: das System Merkel.
Und was kaum noch erwartet wurde, passierte im Spätsommer 2010 doch: Die Kanzlerin wollte, auch angesichts des schwindelerregenden Aufstiegs der Grünen, doch noch einmal Führungsstärke zeigen. Ein ganzer Katalog an Maßnahmen wurde beschlossen, die Grünen mit offenem Visier bekämpft. In Hamburg und Baden-Württemberg wurde dem Ruf aus der Partei nach CDU pur – als Antithese zur Modernisierung und Öffnung hin zu den Grünen – entsprochen. Die Bilanz dieses Merkelʼschen Versuchs, im „Herbst der Entscheidungen“ Führungsstärke zu demonstrieren, spricht für sich selbst. Was für Merkel vor allem ein Akt der Notwendigkeit zur Befriedigung der in der Koalition aufgestauten Wünsche war, fiel ihr schließlich, nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima, auf die Füße.
Die krachenden Niederlagen von CDU pur in Hamburg und Baden-Württemberg wurden begleitet von einem – noch immer – beachtlichen Zuspruch zu den Grünen, die in die konservativen Bedeutungslücken der Merkel-Union einzudringen vermochten. Parallel dazu verlief die Rückeroberung der Länder durch die Sozialdemokratie. Was also bleibt vom politischen Aktionismus der bürgerlichen Regierung? Die Erinnerung an die gesenkte Mehrwertsteuer für Hoteliers, der Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Atomenergie – und der beispiellose Niedergang der FDP.
Der einzige Erfolg, den Merkel also letztlich verbuchen kann, ist die Domestizierung der letzten marktradikalen Partei Deutschlands auf offener Bühne. Im Angesicht der fundamentalen Krisen der öffentlichen Haushalte, der Währungsstabilität und der Zukunft der europäischen Union ist dies vielleicht nicht die schlechteste Nachricht. Denn inzwischen ist bis tief ins bürgerliche Lager klar geworden, dass Marktradikalität und bürgerliche Werte eine gefährliche Allianz eingegangen sind und dass der Staat, dass Europa retten muss, was eine marktorientierte Allparteienkoalition seit den neunziger Jahren beschädigt hat.
Auf die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende Merkel sollte man dabei aber nicht bauen, zu eng knüpft sie ihr politisches Heil an die wortlose Führung – zumal sie infolge des Herbstes der Entscheidungen, nach Leipzig 2003, ihr zweites Führungs-Waterloo erlebt hat. Auch wenn dies Partei und Koalition nicht gefallen dürfte, bis 2013 werden kaum große politische Entwürfe folgen. Die europäische Idee – insofern machen die Vorstöße von der Leyens und Röttgens Sinn – werden deshalb andere retten müssen.
Einzig das alt-bürgerliche Projekt aus Union und FDP ist nicht mehr zu bewahren – höchstens mithilfe der Grünen einer Generalüberholung zuzuführen. Und da wäre sie wieder gefragt, die Physikerin der Macht, die Meisterin des Ungefähren und wortlose Führerin.
Michael Lühmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. In der „Halbzeitbilanz“ veröffentlichte er gemeinsam mit Frauke Schulz eine Analyse des schwarz-gelben Kabinetts.