Im Schatten der Ahnen – das schwere Erbe von Ernst und Lötzsch

[analysiert]: Robert Lorenz über die (Start-) Schwierigkeiten des Führungsduos der Linken.

Was ist da nur los, in der LINKEN? Faktisch seit ihrem Amtsantritt im Mai 2010 stellen die Medien die beiden Parteivorsitzenden, Gesine Lötzsch und Klaus Ernst, als durchgängige Verlierer, als notorische Pechvögel dar. Erst geriet Ernst in die Kritik, in der Manier eines Salonsozialisten hier und da Zulagen aus seinem reichen Ämterfundus einzustreichen; dann war es Lötzsch, die mit ihrer Suche nach „Wegen zum Kommunismus“ irritierte; und zuletzt standen beide im Fokus der Tageszeitungen und Nachrichtensendungen, weil sie offenbar mit der kubanischen Diktatur sympathisierten. Im Gesamteindruck reihte sich ein Fauxpas an den nächsten. Durch dieses journalistisch vermittelte Erscheinungsbild wirken ihre Vorgänger, Lothar Bisky und Oskar Lafontaine, hingegen bereits jetzt, weniger als zwei Jahre nach ihrem Rücktritt, als regelrechte Überväter einer überaus erfolgreichen, nun allerdings zu Ende gegangenen Ära. Allerdings wird dabei oft vergessen, dass sich ihre Nachfolger in einer außerordentlich undankbaren Situation befinden.

Sicherlich mögen Lötzsch und Ernst in ihren Ämtern bislang keine Glanzleistungen vollbracht haben. Vor allem machten sie ihre nervösen Versuche, sich im erst kürzlich errungenen Status als Parteiführer zu behaupten, anfällig für Fehltritte. Doch agieren sie letztlich nicht unter ungleich schwierigeren Bedingungen als Bisky und Lafontaine? Dafür sprechen mehrere Gründe. Erstens leiden sie unter dem starken Kontrast vermeintlich besserer Vorgänger, deren Amtszeit mit einer  von Wahlsiegen und Mitgliedergewinnen gekennzeichneten Erfolgsphase einherging. Nachdem die PDS seit 1990 in Westdeutschland eine politische Sekte gewesen war, zog sie nach dem Zusammenschluss mit der WASG schrittweise in die Parlamente der „alten“ Bundesländer ein – mit Ausnahme von Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ist die LINKE inzwischen republikweit in jedem Landtag sowie in den Plenen der Stadtstaaten vertreten. Außerdem schaffte sie 2009 erstmals und scheinbar mühelos den Wiedereinzug in den Bundestag in regulärer Fraktionsstärke, ohne von Direktmandaten oder anderen Sonderregelungen abhängig zu sein.

Mit Lafontaine, Bisky und Gysi war alles anders. Nahezu bei jedem Wahlgang gehörte die LINKE zwischen 2005 und 2010 zu den Siegern, durften ihre Aktivisten sich freuen, es den anderen Parteien allem Spott zum Trotz gezeigt zu haben. Diese Serie aufeinanderfolgender Wahltriumphe währte bis Ende 2009. Ungefähr zur selben Zeit hatten Bisky und Lafontaine ihren Rückzug vom Parteivorsitz erklärt – der eine aus Genügsamkeit, der andere aufgrund einer Krebserkrankung. Die beiden Gründungsvorsitzenden schieden daher am Ende eines politischen Siegeszugs aus der Parteispitze und überließen ihren Nachfolgern den Umgang mit einer anschließenden Phase der Ernüchterung, in der die Mitgliedschaft wieder schrumpfte, finanzielle Probleme auftraten und die Urnengänge in den Wahllokalen die hohen Erwartungen enttäuschten.

Zweitens veränderte sich unter dem neuen Vorsitzendenduo das übrige Spitzenpersonal. Bis dahin hatten sich die Angehörigen der Parteispitze hervorragend ergänzt, persönliche Stärken zur Geltung gebracht und Schwächen kompensiert: Bisky und Bartsch hielten die Partei zusammen, besänftigten Konflikte und stützten auf diese Weise die Partei- und Fraktionsführung Lafontaines, der immer häufiger aufgrund seiner autoritären Alleingänge den Widerspruch der ostdeutschen Landes- und Fraktionsvorsitzenden herausforderte. Lafontaine und Gysi wiederum vertraten die Partei nach außen, waren wortgewaltige und joviale Repräsentanten der LINKEN, die in Talkshows, auf Parteitagen und im Bundestagssaal rhetorisch brillierten, außerdem als furiose Wahlkämpfer auftrumpften. Um aufmüpfige Parteigliederungen, innerparteiliche Konflikte im Allgemeinen, kümmerten sich andere: Bodo Ramelow überwachte mit einem strengen Regiment den Fusionsprozess und rügte all jene, die die Mauer rechtfertigten oder die DDR glorifizierten. Ulrich Maurer und Dagmar Enkelmann sorgten sich als Parlamentarische Geschäftsführer um die Abläufe in der Bundestagsfraktion, sodass sich deren Vorsitzende Gysi und Lafontaine unbesorgt an Rednerpulten und in Talkshows austoben konnten.

Doch Lötzsch und Ernst besaßen weder die Integrationskraft eines Bisky noch das Zeug zu charismatischen Führungsfiguren, auch keinen loyalen Beistand von Zuchtmeistern und Organisatoren wie Ramelow und Bartsch. Sicher: Ernst ist ein schlagfertiger Charakter, der über ein großes Repertoire sozialpopulistischer Sprüche verfügt, hier und da eine deftige Wortwahl trifft. Und Lötzsch zählte seit geraumer Zeit zu den führenden Frauen der Partei, die für ein Spitzenamt in Frage kamen. Doch keinem von beiden gelingt es, in irgendeiner Weise an Bisky oder Lafontaine heranzureichen, niemand ist ein gleichwertiger Ersatz. Insbesondere im Vergleich mit dem „Saar-Napoleon“, der in seinem politischen Leben bereits Ministerpräsident, SPD- Kanzlerkandidat und -Parteivorsitzender, Bundesfinanzminister und Fraktionsvorsitzender im Bundestag war, wirken sie wie blasse Gestalten, politische Greenhorns. Zudem sind sie in der Parteielite umgeben von einer Vielzahl ähnlich begabter und erfahrener Ersatzkandidaten, was sie beliebig und austauschbar wirken lässt. Jedenfalls würde vermutlich kaum jemand in der LINKEN behaupten, Ernst und Lötzsch seien ihren Amtsvorgängern vorzuziehen oder momentan alternativlos.

Gewiss hatten etlichen LINKE-Funktionären so manche Positionen Lafontaines missfallen, störten sich nicht wenige an dessen Kriterien für Koalitionen, die er eigenmächtig benannte und damit die Chance auf Regierungsbeteiligungen minderte, insgesamt die Politik- und Bündnisfähigkeit der Partei vor allem in den Augen der ostdeutschen Landes- und Fraktionsvorsitzenden beeinträchtigte. Doch alle wussten, dass ihnen Lafontaine zuverlässig Wähler und Gelder aus der Wahlkampfkostenerstattung – der staatlichen Parteienfinanzierung – brachte, nicht zuletzt rege Medienaufmerksamkeit bescherte und der Berliner Parteizentrale, dem Karl-Liebknecht-Haus, ein wenig Glamour verlieh. Lötzsch und Ernst hingegen sorgten lediglich für unrühmliche Schlagzeilen, ohne dass sie einen anderen Gegenwert zu bieten hatten.

Und nicht zuletzt waren sie – drittens – weniger Vorsitzende aus eigener Stärke denn von Gysis Gnaden. Schließlich hatte der Fraktionsvorsitzende sich nach dem Rückzug Lafontaines und Biskys zu einer Art Parteipatriarchen aufgeschwungen, der kurzerhand die Nachfolge im Parteivorsitz mehr oder minder eigenmächtig regelte. Zuvorderst erfüllten Ernst und Lötzsch nämlich mutmaßlich wichtige Proporze – des Geschlechts sowie der zweifachen Herkunft: Durch sie gab es Frau und Mann an der Parteispitze, aus Ost und West, aus der vormaligen PDS und der WASG. Ansonsten drängte sich keiner von beiden sonderlich für den Posten auf, scheinen sie in der Tat allemal ersetzbarer als die Gründungsvorsitzenden zu sein.

Und schließlich befindet sich das neue Gespann – viertens – in der brenzligen Situation eines mehrfach problematischen Umfelds. Lafontaine und Bisky hatten stets für innerparteiliche Ruhe und Ordnung gesorgt, indem sie auf den ausstehenden Akt der Parteigründung hinweisen konnten, die sie obendrein mit geschichtlicher Bedeutung aufluden, als einmalige Chance inszenierten, jenseits der SPD eine Linkspartei zu etablieren und alle Spötter Lügen zu strafen. So etwas elektrisierte die Parteimitglieder, nötigte ihnen zumindest die Bereitschaft ab, auf größere Konflikte zu verzichten und unangenehme Beschlüsse mitzutragen. Und als die neue Partei dann da war, waren es zahlreiche Debütwahlkämpfe, bei denen die LINKE erstmals Parlamentssitze erobern wollte, die nunmehr Geschlossenheit erwirkten und Streitereien zurückstellten. Das waren die beiden disziplinierenden Klammern, mit denen die Gründungsvorsitzenden nicht zuletzt auch die Debatte über ein Parteiprogramm hinauszögerten. Nun sind es ihre Nachfolger, die mit diesem konfliktträchtigen Unterfangen konfrontiert sind. Denn die mittlerweile eröffnete Programmfindung erlaubt und fördert den offenen Disput der unterschiedlichen, überdies zahllosen Parteiströmungen, bringt Kontroversen an die Öffentlichkeit, die das Bild einer heillos zerstrittenen Organisation vermitteln.

So ungerecht kann Politik sein: Während Lothar Bisky und Oskar Lafontaine als Gründungsväter und Schöpfer einer glorreichen Zeit in die Parteiannalen eingegangen sind, dabei aber in einer dem Selbstverständnis nach basisdemokratischen, diskussionsfreudigen und pluralistischen Organisation eine ungleich autoritärere Führung als ihre Nachfolger praktizierten, werden Ernst und Lötzsch darin aller Voraussicht nach als gescheiterte Übergangsvorsitzende einen weit weniger imponierenden Platz einnehmen. Freilich hat die Politik den Vorteil der zufälligen Wende, durch die am Ende überraschend doch noch alles ganz anders kommen kann.

Robert Lorenz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.