Vor etwas mehr als einem Jahr fand der G20-Gipfel in Hamburg statt. Die Auseinandersetzung um die Ausschreitungen im Kontext der Gegenproteste reißt nicht ab. Immer mehr verfestigt sich der Eindruck, dass sich die Debatte zu einem Definitionskampf gewandelt hat, in dem weniger Argumente als Polemisierungen ausgetauscht werden, und die sich darum dreht, wer die „Deutungshoheit“[1] über die teilweise beschrieenen „bürgerkriegsähnlichen Zustände“[2] für sich behaupten kann. Damit wird eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Protest erschwert, Potenziale und Probleme werden nicht aufgearbeitet.
Nun wurden die Ereignisse auf der einen Seite zum Anlass genommen, erneut alarmistisch den staatlichen Umgang mit „dem Linksextremismus“ zu revidieren.[3] Mit guten Gründen ließe sich demgegenüber nach der Rolle der Polizei bei der Eskalation der Krawalle fragen.[4] Doch soll es hier um die aktivistische Perspektive gehen, um die Frage, wie sie die zeitlich ein Stück zurückliegenden Geschehnisse reflektiert. Gemeinsam mit Achim Szepanski und J. Paul Weiler veröffentlichte das ehemalige Mitglied der terroristischen Vereinigung Rote Armee Fraktion (RAF), Karl-Heinz Dellwo, nun den Sammelband „Riot. Was war da los in Hamburg?“.[5] Das Werk stellt den Versuch dar, die mitunter widerstreitenden Positionen zu den Gipfel-Ausschreitungen innerhalb der „linken Bewegung“,[6] die von kritischer Distanzierung bis zu euphorischem Feiern reichen, exemplarisch einzufangen. Über allem schwebt die Frage: Wie politisch ist der Riot?
Diese Frage ist für sich genommen keinesfalls neu. Der Anthropologe Jeffrey S. Juris wies bereits vor Jahren auf den performativen Charakter hin, den die von militanten Aktivisten eingesetzte Gewalt innerhalb des Schwarzen Blocks annehmen könne.[7] Demnach folge die Gewaltanwendung in Demonstrationskontexten taktischen, instrumentellen Logiken. Daher verwahrt sich Juris auch gegen eine grundsätzliche Diffamierung der Gewalt, die diese a priori als irrational und sinnentleert denunziere und so eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Gegenstand verhindere. Stattdessen plädiert er nun für eine Sichtweise, die es erlaubt, Gewaltausbrüche als zielgerichtete Kommunikationsform anzusehen.[8] Weiterhin werden von Juris Taktiken des sogenannten Schwarzen Blocks beschrieben, die zielgerichtet und konzertiert im Rahmen von Demonstrationen verfolgt werden und somit de facto choreografierten Abläufen mit klar definierten Gegnerschaften und wiederkehrenden Mechanismen gleichkommen.
Überzeugen kann dieser Versuch, die Tat wie einen logischen Sprachcode zu entschlüsseln, aber nicht, bleiben gewaltsame Ausschreitungen doch strukturell ambivalent: Gewiss können sie als performative Akte, als Ausdrucksform des Politischen gelesen werden, stellen jedoch zugleich immer auch eine Überschreitung der rechtsstaatlichen Prinzipien dar, die unvermeidlich Konfliktlinien sowohl mit der Mehrheitsgesellschaft als auch im eigenen Bewegungs-, Gruppen- und Aktionszusammenhang provozieren. Zugespitzt: Juris zwingt mit seiner Emphase auf die Tat dem Rest der Bewegung das Bekenntnis zur gewaltförmigen Kommunikationsform auf, diese scheint mithin die Bewegung als Ganze zu repräsentieren. Hier wird übersehen, dass jede Überschreitung des Legalen üblicherweise – zumindest post festum – zu internen und öffentlichen Kontroversen führt. Für die spontane Erhebung, die sich – mutmaßlich – plötzlich und impulsiv, zumindest jedoch unerwartet, im Schanzenviertel bahnbrach und keineswegs dieser Choreografie folgte, ist diese Sichtweise also wenig zielführend.
Hier nun verspricht der eingangs erwähnte Sammelband aufschlussreich zu sein und den Blick für Positionen jenseits des politischen und wissenschaftlichen Mainstreams zu schärfen. Schließlich ist doch zu vermuten, dass die Initiatoren des Aufstands diesen am fundiertesten erklären können. Was verrät uns der Sammelband über die aktivistische Sicht auf den Gegenstand, den riot von Hamburg?
Die Mehrzahl der Autoren des Sammelbands schließt sich, zunächst wenig überraschend, einer durchaus positiven Sichtweise auf den Aufstand und dessen Auswirkungen an – wenn auch mit deutlichen qualitativen Abstufungen. Demnach liege die eigentliche Qualität des Aufstands in der radikalen Ablehnung, der absoluten Negation der Gesellschaft, weshalb er in der Außenperspektive zu Unrecht schlicht destruktiv wirke.[9] Durch den Antagonismus von kapitalistischer Gesellschaft und Individuum werde „das Politische“ und damit die Möglichkeit politischer Umwälzungen, da Politik nur in Gemeinschaft möglich ist, diese jedoch vom politischen Subjekt geschieden sei: „Im riot in Hamburg ist dieser Antagonismus plötzlich als Realhandlung wieder aufgeschienen. Aber er setzt keine Strategie und entwickelt keine langfristige Potenz. So wie er erscheint, so verschwindet er wieder und hinterlässt die gleiche Ohnmacht, die ihm voraus ging [sic!].“[10] Ferner beweise der zeitweilige staatliche Kontrollverlust bei einem der bis dato bestgesichertsten politischen Großereignisse, dass eine Revolution wieder denkbar geworden sei.[11]
Die Krawalle um G20 – nicht die friedlichen Massenproteste! – erscheinen so als Impulsgeber eines fundamentalen politischen Rucks. Dem Moment der Abwesenheit staatlicher Repressionsgewalt wohne der messianische Vorschein wahrer Freiheit inne, geschaffen worden sei ein anarchistischer gesellschaftlicher Freiraum, der einen „[…] Bruch mit dem Eigentum und dem Zwang des Selbstverkaufs […]“[12] darstelle. Dadurch, dass konventionelle Methoden des Protests, wie beispielsweise Streiks und Demonstrationen weitestgehend wirkungslos geworden seien, werde, laut Dellwo, der riot zum logisch notwendigen Ausdruck des Protests: „Der riot ist die militant-ohnmächtige Wut gegen einen Zustand der totalen Dominanz der Welt durch Enteignung des Lebens und der instrumentellen Unterwerfung der Verwertungsmaschine des Kapitals.“[13] Im Schanzenviertel winkte, kurzum, die Rückkehr der Weltgeschichte in die verkrusteten Verhältnisse.
Dellwos Interpretation legt nahe, die (vermeintlich) revolutionäre Praxis tatsächlich auszuleben, weshalb er die theoretische Auseinandersetzung der Praxis des riots unterordnet. Die Tat, nicht das Denken, soll der Motor sein. Diese aktivistisch geprägte Sicht auf die Ausschreitungen von G20 verfällt – leider – dem intellektuell dünnen Kokettieren mit Straßenkrawallen, die, so scheint es, „aus Prinzip“ zum residualen politischen Akt veredelt werden. Der Wunsch bleibt, um das alte Bonmot zu bemühen, Vater des Gedankens. Die Frage, was sowohl die friedlichen Großdemonstrationen als auch die Ausschreitungen von Hamburg 2017 für die Aussichten von Protest in den westlich-demokratischen Gesellschaften bedeuten, wird somit letztlich nicht geklärt.
Freilich gehört es nicht zu den erklärten Zielen des Sammelbandes, diese Frage zu beantworten. Aber es fällt doch auf, wie wenig jenes spannungsreiche Verhältnis zwischen politischer Absicht und militanter Tat überhaupt diskutiert werden – Zusammenhänge, die in marxistischen bzw. sozialistischen Bewegungen seit dem 19. Jahrhundert als das Problem von Theorie und Praxis[14] verhandelt worden sind, lange zum kanonischen Traditionsbestand linker (Arbeiter-) Bewegungsorthodoxie gehörten, und später, nämlich im Kontext der „68er“-Studentenproteste, in voll entfalteter Ambivalenz virulent wurden. Die ursprünglich leitende Frage gelingender gesellschaftlicher Umwälzung des orthodoxen Marxismus war stets: Wie ist das Verhältnis von „richtiger“ theoretischer Gesellschaftskritik und „richtiger“ gesellschaftsverändernder Praxis zu bestimmen? Sie endete in der bis heute ungelösten Frage: Wie ist überhaupt noch Praxis möglich? „No G20“ zeigt, dass nichts von diesen Problemen verjährt ist, ja dass sich dumm macht, wer sie ignoriert. Es lohnt sich daher, mithilfe eines Exkurses zu Theodor W. Adorno an ein grundlegendes Dilemma zu erinnern.
Folgt man Adorno, lebt der Mensch der Nachkriegs-Gegenwart in einem Zustand der Vereinzelung. Die Macht der gesellschaftlichen Verhältnisse tritt uns allen als unüberwindlicher Block gegenüber; unsere grundlegende Alltagserfahrung ist die der Ohnmacht. Das Denken scheint angesichts dieser Ohnmacht ein isoliertes Eigenleben zu führen, während die Mitarbeit an der Veränderung der Zustände – gar in Form kollektiver Organisationsformen – als vergeblicher, alltagsferner Idealismus erscheint.
An der Unzugänglichkeit der Praxis aber leide auch die Theorie: Die Anpassung an die suggerierte Rationalität einer objektiv übermächtigen Welt verwandle das Denken in einen Agenten des konformistischen „Mitmachens“, dem es vor allem darum gehe, den eigenen Vorteil in der individuellen Erfahrungswelt zu sichern; diktiere die vorhandene Realität doch sämtliche Handlungsspielräume: „Es ist, wie es ist.“ Umso stärker bilde sich im sozial isolierten – und somit handlungsunfähigen – Subjekt das Verlangen nach erfahrbarer Praxis, die ideell übersteigert werde und vor allem Ausdruck des Wunsches nach eigener Selbstwirksamkeit sei.[15] Das Ergebnis ist – aus der Sicht Adornos insbesondere unter den Aktivisten der „68er“-Bewegung – willkürlicher Aktionismus.
Ein möglicher Ausweg aus dieser Situation ist, so Adorno, die gedankliche Trennung von Theorie und Praxis in ihrer Starrheit zu überwinden: „Denken ist Tun, Theorie eine Gestalt von Praxis; allein die Ideologie der Reinheit des Denkens täuscht darüber.“[16] Eine Reflexion der Situationszwänge könne über ebendiese hinausführen, die Aufgabe dies zu leisten falle der Theorie zu, damit aber wohne jeder Theorie unweigerlich ein praktischer Impuls inne. Auf der anderen Seite sei Praxis ohne Theorie eben keine Praxis, sondern zwar hochrationalisiert-effiziente, aber potenziell wahnhaft-gewalttätige, Aktivität: [17] „Das Falsche des heute geübten Primats von Praxis wird deutlich an dem Vorrang von Taktik über alles andere. Die Mittel haben zum Äußersten sich verselbstständigt. Indem sie reflexionslos den Zwecken dienen, haben sie diesen sich entfremdet.“[18]
Das Dilemma, das sich in der Bewertung des riots nun in aller Deutlichkeit zeigt, hat Adorno also als dialektisches Auseinandertreten von Theorie und Praxis gefasst. Gesellschaftlicher – gar revolutionärer – Wandel ist demnach durch die einseitige Hinwendung zu einem der beiden Extreme unmöglich geworden. Der Ausweg aus dieser Unvereinbarkeit der beiden Gegensätze liegt nicht in der Subordination eines der Pole unter den anderen, vielmehr müsse das Denken zu eigener, neuer Selbstständigkeit kommen, gerade indem es sich bewusst mache, wie sehr es mit beiden Beinen im gesellschaftlichen Zusammenhang mit seinen praktischen Imperativen steckt: „Diejenige Theorie dürfte noch die meiste Hoffnung auf Verwirklichung haben, welche nicht als Anweisung auf ihre Verwirklichung gedacht ist […].“[19] Das ist eben das Dilemma, vor dem wir alle heute stehen: Was, wie Lenin fragte, zu tun sei, war in den 1960er/70er Jahren und ist auch fünfzig Jahre danach nicht mehr so gewiss wie in der alten bürgerlichen Gesellschaft, im Gegenteil: es ist spätestens seit der Diskreditierung des Sozialismus durch den Zerfall der Sowjetunion radikal unklar.
Somit ist benannt, was den Sammelband von Dellwo, Szepanski und Weiler so unbefriedigend macht: Sie verzichten darauf, die Ambivalenzen gewalttätigen Protests zu thematisieren, und von einer solchen Analyse zu den Ambivalenzen gesellschaftlicher „Normalität“ fortzuschreiten. Gerade das aber würde die Perspektive eröffnen, über die Aussichten politischen Protests und gesellschaftlicher Veränderungsimpulse in den modernen westlichen Demokratien fundiert – und dann auch gern: leidenschaftlich – zu diskutieren. So aber wirken die Beiträge eher wie ein Versuch, die eigene Ohnmacht durch überschwängliche Identifikation und politische Überschätzung zu kompensieren. Dabei würde schon etwas Bescheidenheit helfen. Denn wie sich zeigte, ist vielleicht nicht der riot, sondern der Gedanke revolutionär.
Philipp Scharf und Julian Schenke arbeiten am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Siehe hierzu u. a..: Schipkowski, Katharina: Kampf um die Deutungshoheit, in: taz.de, 17.04.2018, URL: https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5496122&s=g%2Bgipfel/. Iken, Matthias: Ein Jahr nach G20: Gewalt lohnt sich doch!, in: Hamburger Abendblatt, 07.07.2018, URL: https://www.abendblatt.de/meinung/article214785851/Ein-Jahr-nach-G-20-Gewalt-lohnt-sich-doch.html.
[2] Iken, Matthias: G20 in Hamburg: Bilder wie aus dem Bürgerkrieg, in: Hamburger Abendblatt, 07.07.2017, https://www.abendblatt.de/meinung/article211163571/G20-in-Hamburg-Bilder-wie-aus-dem-Buergerkrieg.html, zuletzt aufgerufen: 03.07.2018.
[3] Vgl. von Bullion, Constanze: Rezepte gegen Randale, in: Süddeutsche Zeitung, 17.07.2017, S. 5.
[4] Vgl. Gertz, Holger: Wer sind wir?, in: Süddeutsche Zeitung, 22.07.2017, S. 3.
[5] Dellwo, Karl-Heinz; et al.: Riot. Was war da los in Hamburg? Theorie und Praxis der kollektiven Aktion, Hamburg 2018.
[6] Dellwo, Karl-Heinz, et al.: Vorwort, in: Dellwo, Karl-Heinz; et al.: Riot. Was war da los in Hamburg? Theorie und Praxis der kollektiven Aktion, Hamburg 2018, S.7.
[7] Vgl.: Juris, Jeffrey S.: Violence Performed and Imagined. Militant Action, the Black Bloc and the Mass Media in Genoa, in: Critique of Anthropology, Vol.25, No.4, 2005, S.414.
[8] Vgl.: Ebd., S.415.
[9] Vgl.: Weiler, Paul J.: Einleitung – Annäherungen an den Aufstand, in: Dellwo, Karl-Heinz; et al.: Riot. Was war da los in Hamburg? Theorie und Praxis der kollektiven Aktion, Hamburg 2018, S.11.
[10] Dellwo, Karl-Heinz: Was geschah in Hamburg, in: Ebd., S.61.
[11] Vgl.: CrimethInc. Ex-Workers‘ Collective: Don’t try to break us – we’ll explode: Der G20-Gipfel 2017 in Hamburg – umfassender Bericht und Analyse, in: Ebd., S.18.
[12] Dellwo, Karl-Heinz: Nicht distanzieren!, in: Ebd., S.67.
[13] Ebd., S.68.
[14] Der Begriff der Praxis wird hier und im Folgenden verstanden als politischer, potenziell revolutionärer Aktivismus, Theorie als intellektuell fundierte, die Praxis anleitende Gesellschaftskritik.
[15] Vgl.: Adorno, Theodor W.: Marginalien zu Theorie und Praxis, in: Tiedemann, Rolf (Hrsg.): Adorno. Kulturkritik und Gesellschaft II, Frankfurt am Main 1977, S.759 f.
[16] Ebd., S.761.
[17] Vgl.: Ebd., S.765.
[18] Ebd., S.770.
[19] Ebd., S.780.