Innere Parteigründung

[kommentiert]: Sören Messinger berichtet vom Parteitag der LINKEN in Erfurt

Sie kann es also doch: Der Bundesparteitag der LINKEN hat das Grundsatzprogramm mit großer Mehrheit beschlossen. Nach zwei Tagen des Debattierens und Abstimmens war ein positives Ergebnis zwar abzusehen. Dennoch war eine große Erleichterung unter den Delegierten spürbar, als das Votum mit 96,9 Prozent Zustimmung so deutlich ausfiel. Kein Teil der Partei hatte am Sonntagmorgen versucht, das Programm in Frage zu stellen. Anderthalb Jahre oft erbitterter Diskussionen und Streitereien scheinen in Erfurt durch Kompromisse zwischen den Flügeln ein Ende gefunden zu haben. Damit scheint die Debatte um das Grundsatzprogramm ihre innerparteiliche Funktion der Einigung tatsächlich erfüllt zu haben.

Bis jetzt fehlte der Partei eine gemeinsame Identität. In zentralen Fragen gab es sich widersprechende Vorstellungen von linker Politik, ohne dass es eine gemeinsame Positionierung zu diesen Widersprüchen gegeben hätte. Jede Strömung konnte für sich beanspruchen, die wahren Inhalte der Partei zu vertreten. Ziel der im Mai 2010 eingeleiteten Programmdebatte, die am Sonntag nun zu Ende ging, war es also gewesen, eine gemeinsame Basis an zentralen Positionen zu entwickeln, die es trotzdem ermöglicht, die unterschiedlichen Traditions- und Argumentationslinien in der LINKEN zu integrieren. Um das zu erreichen, musste die im Jahr 2007 unter Zeitdruck formal durchgeführte Parteifusion über gemeinsame Diskussionen und Identitätsvergewisserung emotional nachvollzogen werden.

Doch zunächst brach der Streit zwischen den Strömungen offen aus. Zusätzlich angeheizt ersten Wahlniederlagen versuchten die Strömungen, ihre politischen Vorstellungen zur Parteiposition zu machen und andere Vorstellungen zu verdrängen. Besonders drei Fraktionen taten sich in der Reaktion auf den Entwurf der Programmkommission hervor und organisierten bis in den Parteitag hinein die entscheidenden Debatten.

Der Reformerflügel, im Wesentlichen das Forum demokratischer Sozialismus, fühlte sich von dem Vorschlag am stärksten vor den Kopf gestoßen. In der PDS noch die stärkste Strömung, hat er deutlich an Einfluss verloren. Besonders die so genannten Haltelinien, die Inhalte benannten, die die LINKE auf keinen Fall für eine Regierungsbeteiligung zur Disposition stellen dürfe, sorgten für Unmut bei den Reformern. Sie standen im Widerspruch zu laufenden Koalitionsvereinbarungen wie etwa in Berlin. Aus Sicht des Forums schränkte der Entwurf damit die strategischen Möglichkeiten der Partei zu stark ein. Unterstützung erhielt das Forum von Gruppierungen innerhalb der Partei, die sich an der empfundenen Überbetonung der Erwerbsarbeit störten und die Stärkung feministischer Perspektiven forderten.

Als Verteidiger des Entwurfs hatte sich die Sozialistische Linke positioniert. Diese Strömung ist momentan die zahlenmäßig stärkste und deutlich von linken Gewerkschaftern geprägt. Aus Angst, mit der LINKEN dieselben Enttäuschungen zu erleben, die viele von ihnen schon in der SPD durchlitten hatten, waren ihnen die Haltelinien wichtig. Ihnen kamen die Positionen des ursprünglichen Vorschlags sehr entgegen, denn Mitglieder des Flügels hatten sich massiven Einfluss in der Programmkommission gesichert. Unterstützt wurde die sozialistische Linke von der eigentlich deutlich radikaleren Antikapitalistischen Linken. Deren Anhänger vertreten zwar in zentralen Punkten durchaus andere Vorstellungen und sehen ihr Hauptbetätigungsfeld für die politische Arbeit in den vielen linken Bewegungen außerhalb der Parlamente. Doch aufgrund des Ausmaßes an klassischen linken Positionen in dem Entwurf sahen sie vornehmlich darin ihre Aufgabe, die Kritik des Reformerflügels abzuwehren. Sie betonten einen radikalen Antimilitarismus und Antikapitalismus und trafen damit auf große Zustimmung an der Basis.

Bis zum Bundesparteitag blieb unklar, ob diese drei Hauptströmungen sich würden einigen können. Um dies zu erreichen, hatte der Parteivorstand in sechs zentralen Konfliktfeldern Formulierungen vorgeschlagen, die für alle Gruppierungen vertretbar sein sollten, und darauf hingewirkt, dass die entsprechenden Abschnitte im Programm nicht mehr vom Parteitag in Frage gestellt werden könnten. Damit sollte verhindert werden, dass Positionen bei knappen Mehrheitsbeschlüssen dem Rest der Partei aufgedrängt würden. Dem folgten die Delegierten nun tatsächlich. Versuche, von diesem Verfahren abzuweichen, fanden keine Mehrheiten. Der gesamte Verlauf des Programmparteitags hat also deutlich gemacht, dass die Delegierten den Streit der letzten Zeit nicht mehr offen auf Parteitagen austragen wollten. Vielmehr war der Wille zu Kompromissen deutlich zu spüren. Fast durchgängig warben die Vertreter der Strömungen dafür, das Programm in seinen zentralen Punkten unverändert zu verabschieden.

Dabei sind die inhaltlichen Differenzen natürlich nicht einfach verschwunden. Die zentralen Kompromisslinien des Parteivorstands lassen sich weiterhin als Liste der besonders umkämpften Themen innerhalb der LINKEN lesen. Besonders die Frage um das Ob und Wie von Regierungsbeteiligungen sowie die unterschiedlichen Verständnisse von Arbeit und, damit einhergehend, arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen sowie dem bedingungslosen Grundeinkommen sind längst nicht abschließend geklärt. Das Parteiprogramm sieht an einigen Punkten explizit die weitere Debatte um diese Themen vor. Aber damit sind sowohl Befürworter spezifischer Ideen als auch deren Gegner als Teile der Partei anerkannt. In anderen Punkten war tatsächlich Klärung möglich: Auslandseinsätzen der Bundeswehr etwa kann die LINKE niemals zustimmen, ohne sofort ihre Identität und einen Großteil der Mitglieder zu verlieren.

Die Partei hat an diesem Wochenende beileibe nicht alle innerparteilichen Streitpunkte vom Tisch gefegt. Aber sie hat etwas unter Beweis gestellt, dessen professionelle Beobachter in Medien und Wissenschaft sich eigentlich noch nie sicher waren und das viele Parteimitglieder auch begonnen hatten anzuzweifeln: Die LINKE ist durchaus in der Lage, die heterogenen Traditions- und Argumentationslinien, die sich in dieser Partei versammelt haben, über Kompromisse zusammenzuführen.

In der praktischen Politik müssen sich die Kompromisse allerdings noch als tragfähig bewähren. Sollte es noch einmal zu einer Regierungsbeteiligung der LINKEN kommen, wird die Debatte über die Haltelinien der Partei sicher mit großer Emotionalität geführt werden. Auch die Außenwirkung des neuen Grundsatzprogramms dürfte sich in Grenzen halten. Denn die Sprache des Textes – eine Ansammlung von Fachvokabular – bleibt unzugänglich und die bewusste Einbindung aller Parteigruppierungen und ihrer einzelnen Spezialthemenzieht ihn zwangsläufig in die Länge. Menschen, die nicht in linken Zusammenhängen sozialisiert wurden, dürften Probleme haben, das Programm überhaupt zu verstehen. Somit trägt die innerparteiliche Einigung, die man mit dem Programm erreicht hat, zugleich auch die Gefahr der Abschottung in sich.

Sören Messinger ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Weitere Analysen der LINKEN finden sich hier.