Im Meer von Gleichgesinnten

[präsentiert]: Katharina Rahlf und Matthias Micus stellen die neue INDES-Ausgabe vor.

Ein „Spätsommerheft“ über „Massenveranstaltungen“. Ein solches Thema passt, so scheint es, zur Jahreszeit der Festivals, Open-Air-Konzerte, auch der Protestveranstaltungen unter freiem Himmel. Zumal im Jahr der Olympischen Spiele von London und der Fußballeuropameisterschaft in Polen und der Ukraine, da die Erinnerungen an Public Viewings, kollektiven Jubel und langgezogene Autokorsos noch frisch sind. Die aktuelle INDES widmet sich also einem höchst zeitgemäßen Thema.

Einerseits. Andererseits mutet dieser Schwerpunkt seltsam unzeitgemäß an. Die Ära der Massengesellschaften ist schließlich schon einige Jahrzehnte vergangen. Die homogenen gesellschaftlichen Blöcke, die Klassen, Schichten und Milieus, zerfasern in kleinteilige Lebensstilgruppen, die überkommenen Massenorganisationen leiden unter einem scheinbar unaufhaltsamen Auszehrungsprozess. Kriege gewinnen nicht mehr die zahlenstärksten Heere, und das Schicksal ganzer Volkswirtschaften hängt heute an spekulativen Finanzströmen viel eher denn an der Produktionsleistung industrieller Großunternehmen mit massenhafter Stammbelegschaft. Die Signata der Gegenwartsgesellschaften lauten demgegenüber Individualisierung, Flexibilisierung und Pluralisierung – jedenfalls der westeuropäisch-nordamerikanischen, die als etablierte Demokratien obendrein Schutzmechanismen gegen die autoritäre Formierung ihrer Bevölkerungen besitzen.

Es ist insofern kein Zufall, dass Massenereignisse oftmals mit einer abgeschlossenen Vergangenheit oder mit diktatorischen Regimen assoziiert werden. Auch in diesem Heft befassen sich mehrere Texte mit historischen Ereignissen, so Franz Walter und Stine Marg in ihrer Analyse der Wahlrechtsdemonstrationen der deutschen Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges und Lars Geiges mit seinem Porträt des Bonner Hofgartens als Protestort. Wiewohl mit lange schon vergangenen Untersuchungsgegenständen befasst, halten beide Beiträge zahlreiche unverändert gültige Lehren zu den Erfolgsvoraussetzungen, Organisationserfordernissen und Wirkungen von Protestkampagnen bereit. Bezüge zu nicht-demokratischen Herrschaftssystemen stellen Roland Hiemann mit einer Schilderung des Nordkoreanischen Arirang-Festes und Ilko-Sascha Kowalczuk mit seiner Darstellung der Massendemonstrationen in der DDR im Jahr 1989 her.

Doch wäre es ein Irrtum, zu glauben, dass Massenereignisse in den Demokratien der Gegenwart unbekannt wären. Dies ist mitnichten der Fall, wie seit einigen Jahren die spürbare Häufung von Massenzusammenkünften vor allem im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen und hier wiederum insbesondere aus Anlass von Fußballturnieren markant belegt. Es ist dies ein Beispiel für die auch andernorts zu beobachtende „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. So findet gegenwärtig parallel zur fortgesetzten Globalisierung eine Rückbesinnung auf autonome Gestaltungsspielräume der Regionen statt; schwindet trotz Bildungsexpansion der individuelle Eindruck, die wichtigsten politischen Probleme zu verstehen; wird einerseits mit Nachdruck der Rückbau des Staates betrieben, während andererseits seit der Wirtschafts-, Immobilien- und Finanzkrise gegenwärtig stärker als jemals zuvor in den letzten Jahrzehnten die Verantwortung der öffentlichen Hand beschworen und marktstabilisierende Interventionen des Staates in die Sphäre der Ökonomie gefordert werden. Einiges spricht insofern dafür, dass gerade die sich entstrukturierenden, auf individuelle Flexibilität und Leistung gründenden Gegenwartsgesellschaften der Ventilfunktion des punktuellen ekstatischen Abtauchens im anonymen „Meer von Gleichgesinnten“ besonders bedürfen.

Und es ist ja auch keineswegs so, dass die Ausdrucksweisen und das Beteiligungsrepertoire zur Artikulation kollektiven Unmutes beziehungsweise massenhaft geteilter Anliegen unveränderlich über alle Zeiten hinweg dieselben blieben. Mit der Folge, dass sie dann den im Zeitverlauf sich wandelnden Engagementansprüchen und Beteiligungserwartungen, kurz: den veränderten Partizipationsmotiven zunehmend weniger gerecht würden. Stattdessen sahen sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten auch die Formen gemeinschaftlicher Einmischung einem sukzessiven Gestaltwandel unterworfen, man denke nur an Flash Mobs – und reagieren insofern auf die veränderten Partizipationsansprüche, die Johanna Klatt in ihrem Beitrag auf die Schlagworte „allein, informell und flexibel“ verdichtet.

Insofern sind aber auch Fragen nach den prägenden Erlebnissen, die sich mit Massenereignissen verbinden, hochaktuell, wie sie Wolfgang Kraushaar in seinem Beitrag mit Blick auf die westdeutsche Linke in den 1960er und 1970er Jahren aufwirft. Die Erfahrung der anarchischen Gewalttätigkeit von Massen, von nicht-geahndeten Regelbrüchen aus der Anonymität der Menge heraus, von blinder Wut und einem erfolgreichen Widerstand gegen die Staatsgewalt – solche „Erfolgserlebnisse“ können zu weiterer Gewalt anstacheln. So wie die Randale nach dem Konzert der Rolling Stones auf der Berliner Waldbühne im Jahr 1965 den damals Beteiligten im Rückblick als richtungsweisendes Erlebnis, Durchbruch und Ausgangspunkt für den Linksterrorismus in den 1970er Jahren erschien. Die Masse, heißt das, kann auch den Mob gebären. Dass die Macht der Massen auch zu Fehleinschätzungen und Illusionen über die eigene Stärke verleiten kann, sei abschließend bemerkt und wird in zwei Beiträgen dieses Heftes, dem von Franz Walter über die Friedenbewegung in Deutschland und dem von Jack Craver über einen spektakulären amerikanischen Gewerkschaftskampf, thematisiert.

Katharina Rahlf ist Chefredakteurin der Zeitschrift INDES, Matthias Micus ist Redaktionsmitglied. Beide arbeiten am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

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