„Heimat“ als Erfolgsrezept?

[analysiert] Christoph Hermann über die Orientierungsversuche der CDU

Angela Merkels knapp 98 Prozent bei ihrer Wiederwahl zur Parteivorsitzenden der CDU sollten als Signal ungebrochenen Rückhalts für die Kanzlerin ausgesendet werden. Das „kubanische“ Ergebnis auf der „Krönungsmesse“ von Hannover – wie die linke und konservative Presse gleichermaßen witzelte – zeigt, dass die populäre und geschätzte Kanzlerin rund neun Monate vor der Bundestagswahl das einzige Aushängeschild der Union ist. Durch ihr überschwängliches Votum für Merkel erhofft sich die zurzeit gebeutelte Partei, etwas von dem Glanz der strahlenden Kanzlerin aufzufangen. Dabei überdeckt das herausragende Ergebnis ein gewichtiges Problem der Christdemokraten: Ihre Antworten auf wichtige gesellschaftspolitische Fragen sind entweder unklar oder kommen zu spät.

Verantwortlich dafür ist auch Merkels Strategie des innerparteilichen Ausbalancierens. Diese hat sich zwar als erfolgreich erwiesen. Gerade zuletzt gelang Merkel der Ausgleich zwischen eingefleischten Konservativen und den sogenannten Modernisierern. Erstere, die sich im jahrelangen Modernisierungskurs Merkels insgesamt übergangen fühlen, wurden mit der Einführung des Betreuungsgeldes oder dem Beschluss zur steuerlichen Nicht-Gleichstellung homosexueller Ehepartner auf dem Parteitag zuletzt besonders gehätschelt. Auch wenn der konservative „Berliner Kreis“ ein kritisches Papier unter dem Titel „Standortbestimmung“ vorlegte, stellt man die Parteivorsitzende nicht infrage.

Die bislang verwöhnten Modernisierer wurden auf dem Parteitag zwar etwas gebremst, langfristig wähnen sie sich aber auf der Gewinnerseite, weshalb sich die forschesten unter ihnen – die „Wilden 13“, welche den Antrag zur steuerlichen Gleichstellung homosexueller Ehen eingereicht hatten – trotz des Ausgangs artig für die Debatte auf dem Parteitag bedankten. Ohnehin wissen sie, dass ihnen in dieser Frage mit der anstehenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vermutlich Recht gegeben wird. Auch die Kanzlerin wird damit planen und könnte sich anschließend mit Verweis auf höhere Gewalt, wie so oft, der internen Kritik geschickt entziehen.

In der Außenkommunikation stößt der Erfolg des Ausbalancierens allerdings an seine Grenzen. Gewiss: Auch beim Stimmenfang können Kompromisse oder personelle Vielstimmigkeit eine gewisse positive Wirkung entfalten, ganz nach dem Motto: „Für jeden ist etwas dabei“. Ein derzeitiges Hauptproblem der CDU, in der Mehrzahl der Großstadtviertel nicht anzukommen (eine Debatte übrigens, die auf dem Parteitag ausgespart blieb), dürfte sich damit allerdings nicht beheben lassen. Vielmehr ist es hier zum Nachteil der Union, in hochrelevanten Fragen uneindeutig oder nicht früh genug Stellung zu beziehen. Es wird verpasst, Themen mit einem eigenen Standpunkt zu besetzen und damit dem unattraktiven Nachzügler-Image zu entkommen.

Dies monierten in ihrem Diskussionspapier „Die CDU in der Großstadt“ jüngst auch zwei CDU-Bundestagsabgeordnete, die den Grünen auf den Feldern Kultur, Familie oder Bildung nicht länger hinterherlaufen möchten.[1] Die Frage, die sich unweigerlich auftut, lautet allerdings, wie die Union die Grünen ein- oder überholen kann, ohne diesen am Ende zum Verwechseln ähnlich zu sehen. Denn die Betonung des Unterschiedes zu den Grünen zählt momentan zum guten – wahltaktischen – Ton, ob unter konservativen Hardlinern oder Modernisierungseuphorikern.

Die wichtigsten programmatischen Eckpunkte im „Großstadt-Papier“, in denen sich die Union nach Sicht der Autoren künftig stärker profilieren muss, lauten: sozial und ökologisch nachhaltige Stadtentwicklung, verstärkter Dialog der Religionen und Unterstützungsangebote für „moderne“ Familienformen.[2] Um der Lebenswirklichkeit der Städter gerecht zu werden, müsse die Union auf Alleinerziehende und Single-Haushalte zugehen, Doppelverdiener-Familien weitere Angebote zur ganztäglichen Betreuung auch älterer Kinder gewährleisten und nicht zuletzt „nichttraditionelle Lebenspartnerschaften“ anerkennen und fördern. Außer, dass man in den alten Kernkompetenzfeldern ebenfalls stark bleiben möchte, lässt sich ein Unterschied zu den Grünen aus dem Programmatischen nur schwer destillieren. Es ist vielmehr die alle Punkte umklammernde Erzählung von Gemeinschaft und Bindung in Zeiten der Globalisierung – in der besonders die Menschen in der Großstadt mit Anonymität und Individualisierung konfrontiert sind –, die zum neuen Alleinstellungsmerkmal der Union werden soll.

Hierzu wird ein vertrauter, aber bis vor kurzem geradezu altbacken wirkender Begriff wieder hervorgeholt und mit neuen Konnotationen versehen. Heimat ist das neue Schlagwort, mit dem nicht mehr Herkunft und ein festgelegter geographischer Ort gemeint sind, sondern ein Gefühl der Geborgen- und Verbundenheit ausgedrückt wird, das jedermann an jedwedem Ort empfinden kann. Dazu brauche es jedoch vielfältige Formen der Gemeinschaft, in denen unterschiedliche Menschen Stabilität, Orientierung und Verbindlichkeit erfahren können. Aufgabe der CDU ist es daher, solche Angebote in der Großstadt bereitzustellen, ob durch fortschrittliche Familienförderung (auch die „Homo-Ehe“ ist Ausdruck von Verbindlichkeit), Projekte zur Zusammenarbeit der Generationen, neue Formen der Nachbarschaftshilfe oder organisierte Treffen Alleinerziehender. Die aktive Beheimatung der Menschen, woher sie auch kommen und welchen Lebensweg sie verfolgen mögen, erkennen die Autoren des Papiers als Lücke, die die Union füllen müsste, um in der Großstadt wieder zu punkten.[3]

Sicher, die Union täte zusätzlich gut daran, an ihrem Auftreten zu arbeiten. Im Vergleich zu einer CDU-Mitgliederversammlung sind „die Menschen in der Fußgängerzone […] anders gekleidet, bunter, lässiger, modischer, nicht so steif“[4], wie der CDU-Außenpolitiker und ehemalige Generalsekretär Ruprecht Polenz kürzlich anmerkte. Aber mit der Vermittlung des Gefühls von Heimat scheint man den Nerv der Zeit schon gut getroffen zu haben. Die Renaissance des Begriffs wird auch daran deutlich, dass er derzeit in ganz unterschiedlichen Kontexten auftaucht und diskutiert wird, ob in den Texten des populären Soziologen Hartmut Rosa oder auf aktuellen Literaturfestivals.[5] Dies hat auch die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung erkannt, die sich auf Veranstaltungen und in Publikationen dieses Jahr intensiv mit dem „schwierigen Begriff“[6] Heimat beschäftigt, um ihn fernab von Ausgrenzung oder dumpfem Nationalstolz brauchbar zu machen. Das breite Feld der Beitragenden reichte von der südtiroler Bergsteigerikone Reinhold Messner bis zum Bundestagspräsidenten Norbert Lammert.

Dass allein der Begriff der Beheimatung die Union in den Großstädten wieder auf Erfolgskurs bringt, ist trotz seiner zeitdiagnostischen Treffsicherheit fraglich. Wird doch übersehen, dass die Grünen auch hier am gleichen Strang ziehen und die Union nicht so leicht vorbeilassen werden. Schon Anfang 2011 wurde auf einer Veranstaltung der grünen Bundestagsfraktion diskutiert: „Wie schmeckt Heimat in der Stadt?“[7] Grüne haben sich längst vergewissert: „Das 21. Jahrhundert wird ein Jahrhundert der Städte sein.“[8] „Stadtluft macht frei, aber sie kann auch ersticken“, weshalb der Mensch umso mehr „etwas zum Festhalten“, ja „Bindungen“ brauche und „eine tragfähige Gemeinschaft in der Stadt“. Aus diesem Grund sei das Thema Heimat in die Parteistrategie zu integrieren, hieß es Ende letzten Jahres auch auf dem Heimatkongress der bayerischen Landtagsfraktion der Grünen.

Nach dem großen und originellen Wurf für die CDU, um in Stuttgart, Frankfurt oder Hamburg wieder Fuß zu fassen, sieht das vorgelegte Konzept nicht aus. Und selbst wenn die Union damit die ein oder andere von den übrigen Parteien enttäuschte Wählergruppe ansprechen könnte, die sich auch bei den Grünen nicht recht wohl fühlen mag: Noch ist nichts über den Status erster interner Diskussionen hinausgegangen und Einigkeit über eine klare zukünftige Stoßrichtung in den Städten kaum in Sicht. So setzt die CDU für die Bundestagswahl 2013 vorerst weiter alles auf das Zugpferd der Partei. Denn einigen können sich die Christdemokraten zurzeit vor allem auf eines: „Auf die Kanzlerin kommt es an“.

Christoph Hermann arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Weitere Artikel zum Thema Christdemokratie finden sich hier.


[1] Vgl. Zimmer, Matthias / Weinberg, Marcus: Die CDU in der Großstadt: Probleme, Potentiale und Perspektiven. Internes Diskussionspapier. Stand: 13.11.2012.

[2] Vgl. ebd.

[3] Vgl. ebd., S. 5f.

[4] Polenz, Ruprecht: Christlich Demokratische Union: Der Name ist Programm, in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.): Die politische Meinung, 10/2012, Nr. 515, S. 9-13, hier S. 10, verfügbar unter: http://www.kas.de/wf/doc/kas_32301-544-1-30.pdf?121005104003 (letzter Zugriff: 11.12.2012).

[5] Siehe bspw. die dreitägige Veranstaltung der vom Land Baden-Württemberg finanzierten Stiftung Akademie Schloss Solitude vom 29.11. bis 01.12.2012, URL: http://www.akademie-solitude.de/de/welcome/veranstaltungen/3537-literaturfestival-budapest-haza-heimat-home/ (letzter Zugriff: 11.12.12).

[6] So auch im Titel der KAS-Publikation: Wir sind Heimat. Annäherungen an einen schwierigen Begriff, Dresden 2012.

[7] Vgl. Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion: Diskussion. Heimat.Land.Zukunft. 14.02.2011, verfügbar unter: http://www.gruene-bundestag.de/themen/agrar/heimatlandzukunft_ID_370934.html (letzter Zugriff: 11.12.2012).

[8] Dieses Zitat und alle folgenden in diesem Absatz aus: Leipprand, Eva: Impulsreferat: Stadtluft macht frei, in: Bündnis 90/Die Grünen im Bayerischen Landtag: Dokumentation Heimatkongress. 3. Dezember 2011 – Salzstadel in Regensburg, S. 55f., verfügbar unter: http://www.gruene-fraktion-bayern.de/sites/default/files/dokumentation_heimatkongress.pdf (letzter Zugriff: 11.12.2012).