[analysiert]: Jonas Rietschel über den typischen Verlauf von Skandalen am Beispiel der Guttenberg-Plagiatsaffäre
Ob manipulierte Abgaswerte bei VW, zu hohe Temperaturen des Sturmgewehrs G36 oder Überwachung durch die NSA: Skandale treten immer wieder auf und werden über die Medien publik gemacht. Sie weisen auf als systemgefährdend wahrgenommene Normbrüche hin und erfüllen dabei die Funktion, Macht- und Wertestrukturen in sozialen Systemen zu aktualisieren. Auch wenn Skandale oftmals sehr dynamisch verlaufen können, lässt sich ein immer wieder auftretendes festes Schema im Ablauf ausfindig machen. Der Kommunikationswissenschaftler Steffen Burkhardt beschreibt die fünf typischen Phasen eines Skandals als „Skandaluhr“[1]. Am Fall der Plagiatsvorwürfe gegen den ehemaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg aus dem Jahr 2011 werden diese deutlich sichtbar.
Die erste Phase auf der Skandaluhr bezeichnet Burkhardt als Latenzphase. In dieser wird der Bekanntheitsgrad des Protagonisten von den Medien in der Öffentlichkeit durch gezielte Berichterstattung erhöht. Danach wird das Schlüsselereignis des Skandals in den öffentlichen Diskurs eingespeist. Im Fall Guttenbergs übernahm die Süddeutsche Zeitung diese Aufgabe und berichtete am 16. Februar 2011 unter der Überschrift „Guttenberg soll bei Doktorarbeit abgeschrieben haben“ erstmals über die Vorwürfe gegen den Verteidigungsminister.

Im Anschluss an die Bekanntmachung der Ereignisse steigert sich schlagartig die Quantität der Berichterstattung. Das setzt den Grundstein für die anknüpfende Aufschwungphase, in welcher der Protagonist und die Schlüsselereignisse in einen neuen Kontext zueinander gesetzt werden und die Medien weitere Episoden und thematische Aspekte des Skandals in den öffentlichen Diskurs einbringen. Im Fall Guttenberg fand keine weitere Kontextualisierung statt, dafür veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 21. Februar aber einen Artikel mit weiteren Details zu Guttenbergs Doktorarbeit. Unter anderem wurde im Artikel „Vgl. auch Guttenberg 2009“ darüber berichtet, dass sich auf siebzig Prozent aller Seiten der Arbeit Plagiate finden lassen würden.
Mit der Etablierungsphase beginnt die letzte Phase vor dem dramaturgischen Höhepunkt der Skandalberichterstattung. Hier werden der Protagonist selbst und einige Mitglieder der von dem Skandal betroffenen Subsysteme öffentlich angehört. Die Mitglieder dieser Subsysteme, die zuvor nur das Publikum der Skandalberichte waren, werden so aktiv in das Geschehen eingebunden und zu Helfern des Helden oder des Antihelden. Danach wird das fragliche Verhalten des Skandalisierten am öffentlichen Moralkodex gemessen und beurteilt: Es kommt zum öffentlichen Wettstreit um die angemessene Bewertung, zum Richten über Schuld oder Unschuld des Protagonisten.
Während SPIEGEL ONLINE am 22. Februar „Plagiatsvorwürfe: Guttenberg tauscht Doktor gegen Karriere“ titelte und so direkt auf den Minister Bezug nahm, hielt BILD.de zwei Tage später mit der Schlagzeile „227 175 BILD-Leser wollen, dass Guttenberg Minister bleibt“ dagegen. In diesem Beitrag ließ die Onlineredaktion der BILD-Zeitung Mitglieder betroffener Subsysteme – in diesem Fall Vertreter der Wählerschaft – zu Wort kommen und sprach sich eindeutig für Guttenberg aus. Raum zur Bewertung des Skandals räumte SPIEGEL ONLINE auch dem wissenschaftlichen Nachwuchs ein, der in einem offenen Brief von Doktoranden eine „Verhöhnung aller wissenschaftlichen Hilfskräfte“ anprangerte.

Nun kommt es zum Skandalhöhepunkt, der Klimax. Diese gilt nach Burkhardt nicht als neue Phase, sondern ist mit der Etablierungsphase verknüpft. Mit der Klimax kommt es zur Entscheidung für oder gegen den Protagonisten. War die Skandalisierung erfolgreich, kommt es zu seinem Ausschluss aus dem sozialen System, indem er von der Medienöffentlichkeit ausgegrenzt wird. Im Fall Guttenberg war die Skandalisierung erfolgreich, sodass die Medien am 1. März über seinen Rücktritt von allen politischen Ämtern berichten konnten. Bild.de veröffentlichte in dem Onlinebeitrag „Guttenberg: Ich habe die Grenze meiner Kräfte erreicht“ die komplette Rücktrittserklärung zum Nachlesen und als Video. SPIEGEL ONLINE titelte weniger emotional „Guttenberg tritt zurück“.

Obwohl das Urteil der Öffentlichkeit nun gesprochen ist und der Protagonist für schuldig oder unschuldig befunden wurde, endet die Skandalberichterstattung an dieser Stelle nicht. Auf den Skandalhöhepunkt folgt zunächst noch die Abschwungphase. Es kommt an dieser Stelle zu einem erneuten, aber weniger aufwändigen Anhörungsverfahren von Mitgliedern der betroffenen gesellschaftlichen Subsysteme. So wird das Publikum abermals zu einem aktiven Akteur im Skandal. Die Medien reflektieren zudem die in der Klimax getroffene Entscheidung und schaffen dadurch die Möglichkeit einer erneuten sozialen Bewertung des Skandalisierten. Bei der Wahl eines betroffenen Subsystems entschied sich Bild.de am 2. März für die Familie des ehemaligen Verteidigungsministers. Der Artikel „Nach dem Rücktritt: Was macht Stephanie zu Guttenberg jetzt?“ widmete sich hauptsächlich der Frau des Ex-Politikers, befasste sich aber auch mit der familiären Situation des Paares. SPIEGEL ONLINE bezog sich auf Guttenberg selbst und veröffentlichte am 12. März den Artikel „Abgeschriebene Doktorarbeit: Guttenberg entschuldigt sich bei Plagiatsopfern“. Im Vergleich zu den Schlagzeilen der vorausgegangenen Wochen fiel diese vergleichsweise positiv aus.
Erst wenn das Verhalten des Skandalisierten aus der Sicht der Öffentlichkeit keine Bedrohung mehr für das soziale System darstellt, kommt es zur Rehabilitationsphase, dem letzten Abschnitt des Skandals. Es wird zwar noch vereinzelt über den Skandal berichtet, der emotionale Ausnahmezustand ist jedoch vorbei. Die Neue Züricher Zeitung lieferte mit dem Artikel „Guttenberg hat absichtlich getäuscht“ vom 6. Mai 2011 ein gutes Beispiel dafür. Der Beitrag war trotz des brisanten Ergebnisses, Guttenberg habe nachweislich mit Absicht getäuscht, sehr neutral gehalten. Es handelte sich nun um eine gewöhnliche Meldung, da der Skandal bereits aus dem öffentlichen Blickfeld verschwunden war. Drei Monate zuvor hätte der Artikel vermutlich für weitaus mehr Aufsehen gesorgt und wäre anders veröffentlicht worden.
Der Fall Guttenberg ist nur einer von vielen Skandalen, auf den sich Burkhardts Fünfphasenmodell anwenden lässt. Vergleicht man dabei die Skandalberichterstattung der BILD-Redaktion mit der von anderen deutschen Zeitungen, so lassen sich zwei stark gegensätzliche Fronten feststellen. Während die BILD-Zeitung zu dem „Star-Minister“[2] gehalten und ihn trotz schwerer Plagiatsvorwürfe in der Öffentlichkeit vehement verteidigt hatte, fielen die Kommentare und Bewertungen in anderen deutlich kritischer aus. Daran lässt sich gut erkennen, wie unterschiedlich die einzelnen Phasen der „Skandaluhr“ umgesetzt werden können und wie stark die Berichterstattung an die Interessen der jeweiligen Medien gekoppelt ist.
Jonas Rietschel studiert Sozialwissenschaften im 7. Semester an der Universität Göttingen.
[1] Vgl. Burkhardt, Steffen: Skandal, medialisierter Skandal, Medienskandal: Eine Typologie öffentlicher Empörung, in: Kristin Bulkow und Christer Petersen (Hg.): Skandale. Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung, Wiesbaden 2011, S. 131-155.
[2] Ronzheimer, Paul et al.: Merkel attackiert seine Gegner, in: Bild.de, 01.03.2011, URL: http://www.bild.de/politik/2011/karl-theodor-zu-guttenberg/tritt-zurueck-16210208.bild.html [eingesehen am 05.10.2015]