Das Theater als Ort der Demokratie

Beitrag verfasst von: Marika Przybilla

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[kommentiert]: Marika Przybilla über „Die Schutzbefohlenen“ am Thalia Theater.

Der Begriff „Theater“ stammt von dem altgriechischen Wort théatron und hat die Bedeutung „Schaustätte“ – dies mag an sich ein sehr theoretischer und äußerst trockener Fakt sein, der so angestaubt erscheint, wie die Steine der athenischen Agora. Allerdings sind der Inhalt des Theaters und sein Wesen das genaue Gegenteil davon. Theater kann als Spiegel der Gesellschaft gelten; denn was es zeigt, sind Beziehungen zwischen Menschen und ihrer Umwelt und Umgebung. Es wirkt, indem es Zusammenhänge oder bekannte Situationen öffentlich macht, ihnen einen Raum gibt und sie zur Schau stellt. Demzufolge kann das Theater unterschiedlich ambitioniert sein und verschiedensten Motivationen folgen. An dieser Stelle soll auf den politischen Anspruch des Theaters eingegangen und damit folgender Fragestellung nachgegangen werden: Ist Theater politisch? Kann eine Theaterproduktion, wenn sie denn politisch ist, wie z.B. „Die Schutzbefohlenen“ am Thalia Theater in Hamburg, auch ein Ort der Demokratie sein?

Hier lässt sich erneut auf die „alten Griechen“ verweisen. So war damals das sogenannte Theatron nicht nur ein Ort für Feste und Zeremonien jeglicher Art; nein, es war auch der Ort, an dem man zusammenfand und über Demokratie und Politik diskutierte. Politik und Theater schienen eng verschmolzen und bildeten eine räumliche Einheit. Das Theater nahm besonders zur Zeit der attischen Demokratie eine wichtige Rolle ein: So waren alle Bürger, gleich welchen Standes, dazu ermutigt – ja, sogar verpflichtet –, es zu besuchen. Dort wurde repräsentiert und die Gesellschaft dargestellt.[1] So ist es auch kein Zufall, dass sowohl in der Rhetorik als auch in der Poetik des Aristoteles das Publikum und seine Emotionen, der Pathos, ein wichtige Rolle einnehmen. Aristoteles sieht die Rhetorik als die Fähigkeit an, die das Überzeugende erkennt.[2] Hierbei sollen auch Emotionen seitens des Publikums geweckt werden; jedoch nur jene, die dem Sachverhalt dienlich sind und von alleine entstehen.[3] Das Publikum soll nachvollziehen und mitdenken.

Dies sind freilich Ziele, die sich nicht nur in der Politik finden, sondern auch auf der Theaterbühne. Somit ähnelt sich das Auftreten der Darsteller sowohl auf der politischen als auch auf der Theaterbühne auf das Stärkste und weist frappierende Ähnlichkeiten auf. Sowohl in der Politik als auch im Theater müssen die Redner und Darsteller ihr Publikum fesseln, in den Bann ziehen und letztlich mit ihrer Rhetorik überzeugen und in eine Welt des Möglichen und Fremden entführen. Das Publikum sowohl der Theater- als auch der politischen Bühne soll in die dort skizzierten Welten mit all ihren Hürden, Problematiken und Verstrickungen eintauchen und sich in die dabei gezeigten Situationen hineinversetzen können. Politische Ereignisse, Problematiken, Missstände und Situationen werden bis heute auf der Theaterbühne reflektiert, aufgearbeitet und oftmals interpretiert; auf diese Weise werden sie dem Publikum und somit der Öffentlichkeit auf einer anderen Ebene zugänglich gemacht. Das Theater vermittelt zwischen Politik und Bürgern, aber auch zwischen den Akteuren, indem es unterschiedliche Perspektiven eröffnet. Dem Publikum wird ermöglicht, einen Einblick in eine sonst wohl fremde Situation zu gewinnen und somit an dem Geschehen teilzuhaben.

Das politische Theater ist besonders in Deutschland ein wichtiger Teil der Theaterkultur: Gotthold Ephraim Lessing, Bertolt Brecht, Heiner Müller[4] oder Christoph Schlingensief sind nur einige berühmte Vertreter von Dramatikern, die das Theater als politische Bühne nutzen. Dieser Einblick in manch prekäre und schwierige Situation ist ein immer wiederkehrendes Motiv des Theaters – besonders dann, wenn es politisch motiviert und ambitioniert ist. Dies gilt auch für das Stück „Die Schutzbefohlenen“ der österreichischen Literatin und Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die mit ihren Texten immer politisch ist und sich mit dem aktuellen Gesellschaftsgeschehen auseinandersetzt. Das Stück ist hierbei keine Ausnahme, ganz im Gegenteil. „Die Schutzbefohlenen“ erfasst eine der derzeit aktuellsten und emotionalsten gesellschaftlichen Debatten und Fragen: die Asylpolitik der Europäischen Union, und hierbei speziell die österreichische – diese bilden den thematischen Grundpfeiler der seit 2014 am Thalia Theater aufgeführten und hochgelobten Produktion. Sie fand Beifall, sie fand Kritik, doch v.a. fand sie samt ihrer Thematik Beachtung. Sie eröffnete zudem das 52. Berliner Theatertreffen – jenes renommierte Theaterfestival, bei dem die zehn am stärksten herausragenden Produktionen der deutschsprachigen Theaterszene ausgezeichnet werden – und sie machte das Festival damit zu einem politischen Statement. Doch was macht dieses Stück über seine aktuelle Thematik hinaus so besonders und politisch?

Die Antwort auf diese Frage findet sich in der Inszenierung. Denn bei der Urlesung traten nicht nur die Schauspieler des Thalia Theaters in den Vordergrund des Geschehens. Unter der Leitung des Regisseurs Nicolas Stemann wurde die Produktion zudem in der Hamburger St. Pauli Kirche sowohl mit Schauspielern des Thalia Theaters als auch mit Flüchtlingen aus Libyen besetzt.[5] Die Flüchtlinge wurden dadurch selbst zu Akteuren auf der Bühne – den Brettern, die für so viele die Welt bedeuten. Sie waren keine Darsteller, die sich erst in eine bestimmte Situation hineinversetzen mussten. Vielmehr stellten sie ihre eigene Situation dar und teilten sie mit den Zuschauern. Sie gewährten einen offenen und seltenen Einblick in ihren Lebensbereich, einhergehend mit all den Problematiken, Gefahren und Ängsten.

Dabei blieb es jedoch nicht. Auch in den kommenden Inszenierungen auf der Bühne des Theaters nahmen die Flüchtlinge einen wichtigen Platz ein, ob nun im Chor oder in den Tischgesprächen, welche auf die Inszenierung folgten. Sie sind sowohl im Stück als auch noch danach präsent. Im Rahmen dieser Tischgespräche kommen unterschiedliche Vertreter zu Wort: aus Kirche, Flüchtlingsbeirat, Politik und dem Theater, überdies das Publikum, aber v.a. ein Flüchtling selbst. Sie alle nehmen an den Diskussionen um Verantwortung, ihre Spielräume und Grenzen, Rechte und Würde des Menschen, unterschiedliche Bedürfnisse und Handlungsnotwendigkeiten teil. Das alles mag auf den ersten Blick Teil des Anspruches von Joachim Lux, dem Intendanten des Thalia Theaters, sein, zwischen Kulturen, Religionen und Gesellschaftsschichten zu vermitteln.[6] Allerdings ist dies auch eine Möglichkeit, die Flüchtlinge ganz individuell zu Wort kommen zu lassen. Durch diese Art der Inszenierung erfolgt eine Kommunikation miteinander, und nicht bloß übereinander. Probleme, Hürden und Hindernisse werden direkt mit den Betroffenen von allen Seiten erörtert, es findet ein direkter Austausch statt.

So wird die Möglichkeit geboten, einen Einblick in die Perspektive des jeweils anderen zu erhalten. Ja, vielleicht sogar diesen zu verstehen. Die Produktion regt somit zum Nachdenken an und unterstützt den Zuschauer dabei, sich seine eigene Meinung zu bilden, sie zu hinterfragen und zu reflektieren. Der Zuschauer, der gleichzeitig Beobachter des Geschehens ist, wird mit dem konfrontiert, was er zu wissen glaubt. Ihm wird die Möglichkeit gegeben, mithilfe dieser Art der Inszenierung und Nachbearbeitung neue Erfahrungen zu machen und seine eigene Perspektive zu erweitern. Und für die Flüchtlinge bedeutet dies, dass sie samt ihrer Belange einen öffentlichen Raum mitten in der Gesellschaft betreten, statt nur deren Beobachter zu sein. Sie werden damit zu einem Teil der Gesellschaft und der diskutierenden Öffentlichkeit.

Das Theater wird somit zu einem besonderen Ort der Kommunikation: Gesprochen wird nicht nur über-, sondern auch miteinander. Es kommt zum Austausch verschiedener Meinungen und Perspektiven – sowohl während der Aufführung als auch in deren Pausen und nach dem Ende. Durch das Theater eröffnet sich also die Möglichkeit, Thematiken in die Öffentlichkeit und in die Gesellschaft zu tragen, sie politisch zu beleuchten. Sie werden dadurch ein Teil der gesellschaftlichen und politischen Agenda. Doch nicht nur die Thematik an sich findet Öffentlichkeit, ebenso erhalten damit einhergehende Meinungen, Überzeugungen oder gar Wünsche und Ängste ihren Platz in der öffentlichen Debatte. Somit kann die Gesellschaft ihren Willen und ihre Meinung direkt oder indirekt zum Ausdruck bringen. Am und im Theater kommen dadurch essenzielle Eckpfeiler der Demokratie zum Tragen: die Freiheit und der Ausdruck der persönlichen Meinung. Das Theater kann also verstärkt zur politischen Willensbildung des Volkes beitragen. Die Inszenierung „Die Schutzbefohlenen“ am Hamburger Thalia Theater hat diesen Anspruch des Theaters voll erfüllt, und sie ging sogar noch ein Stück weiter: Mit ihr ist gezeigt worden, welche Möglichkeiten das Theater bietet.

Das Theater gibt der Demokratie dadurch einen Ort und kann sie dort wirken lassen. Sie wird dadurch für jedermann greifbar, ja vielleicht sogar sichtbar. Theater stabilisiert somit die Demokratie und lebt sie aus, es kann durchaus politisch sein. Kurzum: Ein politisch motiviertes Theaterstück, das kritisch, lustig oder traurig ist, verdeutlicht, was Demokratie im Alltag in und für eine Gesellschaft bedeutet.

Marika Przybilla ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

[1] Vgl. Brauneck, Manfred/Scheilin, Gérard: Theaterlexikon, Reinbek bei Hamburg 2001.

[2] Vgl. Aristoteles: Rhetorik, Buch I, 1355b.

[3] Vgl. ebd., 1354b sowie Aristoteles: Rhetorik, Buch II, 1378a ff.

[4] Vgl. Becker, Peter v.: Der Kaiser ist nackt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 42/2008, S. 3-7, hier S. 3.

[5] Vgl. Schreiner, Falk: Dach über dem Kopf, in: Nachtkritik.de, 21.09.2013, URL: http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=8536:die-schutzbefohlenen-das-hamburger-thalia-praesentiert-einen-jelinek-text-unter-verschaerften-umstaenden&catid=37&Itemid=100190, [eingesehen am 09.09.2015].

[6] Vgl. URL: http://www.thalia-theater.de/de/haus/geschichte/ [eingesehen am 09.09.15].