[Gastbeitrag]: Oliver D’Antonio über Wunsch und Wirklichkeit der CDU als Großstadtpartei
Die Angst geht um in der Merkel-CDU. Die Angst vor der Großstadt. Denn gerade hier, so scheint es, gelingen Sozialdemokraten, Grünen und LINKEN zurzeit Erfolge, während die Zahl der CDU- geführten Großstädte in den letzten Jahren merklich zurückgegangen ist. Damit sieht sich die Union nach 15 Jahren erneut mit der fast überwunden geglaubten Schwäche in den Metropolen konfrontiert. Ole v. Beust (Hamburg) und Petra Roth (Frankfurt a.M.) standen vor wenigen Jahren fast symbolisch dafür, dass die Union doch Großstadt kann. Dass heute nur noch vier der zwanzig größten deutschen Städte außerhalb Bayerns einen CDU-Oberbürgermeister haben, bereitet den Parteistrategen gegenwärtig größtes Kopfzerbrechen.
Zugegebenermaßen: Jene Großstadtpolitikerinnen und -politiker in der CDU, die eine programmatische und werbewirksame Neuinszenierung der Partei gegen ein Ergrünen oder Erröten des städtischen Raumes ins Feld führen, haben das Rad nicht gerade neu erfinden müssen. Die vorgeschlagenen Konzepte greifen überwiegend auf die bereits seit Jahren erprobten Selbstdarstellungsstrategien der elektoral erfolgreichen Bundespartei zurück. So wünscht sich der Berliner Bundestagsabgeordnete Kai Wegner eine CDU, die „so bunt ist wie die Städte“, um wieder Andockpunkte in den Stadtgesellschaften zu finden.
Bereits 2012 hatten die beiden Bundestagsabgeordneten Matthias Zimmer und Marcus Weinberg in einem Strategiepapier eine „differenzierte Farbgebung [der programmatischen Aussagen] auch mit spezifisch urbanem Antlitz“ gefordert. Damit sollten Jungwählerinnen und -wähler ebenso angesprochen werden wie Migrantinnen und Migranten oder Singles. Thematisch schwebte ihnen eine Öffnung für Fragen städtischer Lebensqualität, ökologischer Nachhaltigkeit, der Anerkennung der Vielfalt von Kulturen und Lebensweisen oder der Schaffung von Kinderbetreuungsangeboten vor. Im Grunde spiegelt dieser Katalog nichts anderes als das umgelabelte und zugespitzte Mainstream-Reformprogramm der Union seit 2005 wider. Auf vielen Feldern ist die CDU dabei bereits aktiv geworden und hat darüber sogar massive Konflikte mit ihrem konservativen Flügel in Kauf genommen.
Doch stellt sich die Frage, ob eine solche Programmierung der adäquate Zugang zum Problem ist. Oder noch provokanter gefragt: Gibt es überhaupt ein Problem? Dies lässt sich nur beantworten, indem man die Situation in den Städten etwas präziser in den Blick nimmt. Beginnen wir mit einem Rückblick: 2008 war das goldene Jahr der Großstadt-Partei CDU. In diesem Jahr eroberte die Dresdner Christdemokratin Helma Orosz das Rathaus in der Elbmetropole. Orosz war damit die zwölfte Politikerin aus den Reihen der CDU, die eine der genannten zwanzig Großstädte führte – mehr als je zuvor in der Geschichte der Partei.
Begonnen hatte dieser urbane Siegeszug der CDU bereits ein Jahrzehnt zuvor in Nordrhein-Westfalen: 1999 fielen die seit Jahrzehnten sozialdemokratisch regierten Rathäuser von Köln und Essen an die Union und auch die zumindest lange Zeit von der SPD regierten Städte Düsseldorf und Bielefeld hatten fortan CDU-Rathauschefs. 2004 wurden mit den traditionellen Arbeiterstädten Duisburg und Wuppertal dann zwei weitere SPD-Bastionen geschleift. Und auch dem Hamburger Senat stand erstmals seit 1957 mit Ole v. Beust wieder ein Christdemokrat vor. Doch schon 2009 begannen viele der zuvor eroberten Rathäuser wieder an die SPD zu fallen.
Den Anfang machte hierbei wiederum Nordrhein-Westfalen: 2009 waren es Köln, Essen und Bielefeld, die an ihre Traditionslinien sozialdemokratischer Oberbürgermeister anknüpften. In den folgenden Jahren geschah dies auch in anderen Städten und Bundesländern: Frankfurt, Duisburg, Düsseldorf, Hamburg, Wuppertal und Karlsruhe. Dresden wählte 2015 wieder einen Freidemokraten an die Stadtspitze. Und das „ewig schwarze“ Stuttgart eroberte 2012 mit Fritz Kuhn ein – dies ist nur ein schwacher Trost – eher konservativer Grüner. Nur noch die mehrheitlich katholischen Universitätsstädte Bonn und Münster sowie die erst im Herbst 2015 zurückgewonnenen Städte Köln und Essen haben gegenwärtig eine CDU-Spitze.
Haben wir es also doch mit einer Großstadtkrise der CDU zu tun? Diese Wahrnehmung trügt. Sie trügt allein deshalb, weil zur Erfassung der kommunalpolitischen Realitäten und Einflusspositionen die medienträchtigen und exponierten Posten der Rathauschefs nur begrenzt taugen; auch wenn die Aufzählung der Parteibücher von Oberbürgermeistern gern zu diesem Zweck genutzt wird. Dass diese Argumentation fehlgeht, hängt zum einen damit zusammen, dass die Position des Bürgermeisters aufgrund ihrer institutionellen Begrenzung und der Pluralität an Kommunalverfassungen in Deutschland die lokalen Machtverhältnisse nur unzureichend abbildet. Zum anderen birgt das Amt des Oberbürgermeisters wenig Politisierungspotenzial, da es aufgrund seiner formellen Gestaltung wie auch gängiger Amtsinterpretation ein eher integratives und überparteiliches Moment besitzt.
Die Mehrheitsverhältnisse in den Stadtparlamenten bleiben in der Öffentlichkeit hingegen meist unterbelichtet. Bezieht man jedoch die Kommunalvertretungen jener zwanzig Großstädte in die Betrachtung ein, so ist die These einer völligen Unterlegenheit der Union in den Metropolen kaum mehr haltbar. In dieser Kategorie stellt die SPD derzeit nur in zehn der zwanzig Stadträte allein die größte Fraktion – in Mannheim und Köln auch nur mit einem einzigen Mandat Vorsprung vor der CDU. In sieben Räten ist die CDU allein die stärkste Kraft. Hinzuzurechnen sind Wuppertal und Bielefeld, wo CDU und SPD gleichauf liegen, und Leipzig, wo sich die CDU die Spitzenposition im Stadtrat mit der LINKEN teilt.
Schließlich zeigt der Blick auf die Ergebnisse der Kommunal- und Oberbürgermeisterwahlen im längeren Zeitverlauf, dass mitnichten von einer Erosion der CDU in den Großstädten gesprochen werden kann. Im Gegenteil: Ist die CDU insbesondere in den 1960er und frühen 1970er Jahren fast nirgendwo außer in mehrheitlich katholischen Städten in der Lage gewesen, den Sozialdemokraten Paroli zu bieten, so stellt sie heute für die SPD in fast allen Städten eine ernsthafte Herausforderung dar. Nimmt man doch wieder die Oberbürgermeister zum Maßstab, so gelangen die ersten Einbrüche in scheinbar uneinnehmbare SPD-Festungen zunächst dort, wo diese Ämter von parlamentarischen Mehrheiten abhingen, so in Frankfurt (1977), Düsseldorf (1979) Westberlin (1981). In den 1990er Jahren wiederholte die CDU in Berlin (1991) und Frankfurt (1995) dieses Kunststück, ehe zwischen 1999 und 2004 in Nordrhein-Westfalen und 2001 in Hamburg weitere Einbrüche gelangen.
Die Erosion der städtischen Arbeitermilieus sowie geschicktes Koalitionsmanagement boten der CDU ungeahnte Möglichkeiten, wo SPD-Mehrheiten zuvor in Stein gemeißelt zu sein schienen. Doch auch umgekehrt erklomm nun plötzlich die SPD in den wenigen fest etablierten CDU-Rathäusern unter den Großstädten, so 1994 in Bonn und Münster, die Chefsessel. Mit einer „Unwählbarkeit“ der CDU für städtische Bevölkerungsgruppen hat all dies jedoch nichts zu tun. Die Niederlagenserie nach 2009 war in vielen Fällen dem Rückzug langjähriger Amtsinhaber geschuldet – wie etwa im Falle der Erkrankung Helma Oroszs (Dresden), der Abwahl Adolf Sauerlands (Duisburg) infolge der Loveparade-Katastrophe – oder dem Verzicht auf weitere Amtszeiten wie im Falle Petra Roths (Frankfurt), Wolfgang Schusters (Stuttgart), Fritz Schrammas (Köln), Wolfgang Reinigers (Essen) oder Eberhard Davids (Bielefeld). Vielfach waren deren Fußstapfen für parteieigene Nachfolger zu groß.
Die CDU sollte sich also nicht allzu große Sorgen um ihre Position in den Großstädten machen. Vom Wählerpotenzial her scheint sie hier strukturell weit besser aufgestellt zu sein als noch in den 1960er oder 1970er Jahren. Die propagierten Großstadtstrategien gleiten hingegen durch bereits geschlagene Schneisen einer modernisierungsorientierten Strategie der Gesamtpartei. Diese strebt die Integration akademisch gebildeter, überwiegend wohl tatsächlich großstädtischer Mittelschichten und anderer, eher unionsferner Wählergruppen wie etablierter Migrantinnen und Migranten an, um die pluralistisch zerfallende bürgerliche Mitte der Republik wieder zu integrieren. Dabei hofft sie, die konservative (und provinzielle) Stammklientel mangels Alternativen fest an ihrer Seite zu haben. Vieles spricht allerdings dafür, dass gerade die Niederlagen in den Bundesländern nicht zuletzt auf eine Abwanderung dieser traditionellen, aber verunsicherten CDU-Stammkunden zurückzuführen sind. Bei allem ideologischen Modernisierungsbedarf sollte sich die CDU also nicht zu einseitig auf eine Großstadtstrategie mit unsicherem Ausgang kaprizieren.
Dr. Oliver D’Antonio ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kassel.