Grenzen der niederländischen Konsensdemokratie

Beitrag verfasst von: Andreas Wagner

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[analysiert]: Andreas Wagner über Rechtspopulismus in den Niederlanden.

Rechtspopulistische Parteien waren in den Niederlanden bis 2002 mit der Splitterpartei der Centrum Democraten und ihrem alleinigen Abgeordneten Hans Janmaat eine Marginalie geblieben.[1] Umso überwältigender fiel daher der Aufstieg der Lijst Pim Fortuyn (LPF) um deren flamboyanten Wortführer Fortuyn und die lokalen Ableger der Leefbaar-Parteien aus. Einmal politisch etabliert, gelang es rechtspopulistischen Parteien seitdem, auf allen Ebenen deutliche Wahlerfolge zu feiern. Jüngst versetzte der Umfrageerfolg der Partij voor de Vrijheid von Geert Wilders die Haager Politiklandschaft in Aufregung: Im Oktober 2013 schien die rechtspopulistische und islamkritische Partei mit einem Viertel der Stimmen nicht nur stärkste Partei zu sein, sondern erhielt auch etwa ebenso viel Zuspruch wie die beiden liberalen und sozialdemokratischen Regierungsparteien zusammen.

Doch welche Entwicklung vermochte das im Grunde so beschauliche politische Klima der Niederlande, das von Konsens- und Proporztraditionen geprägt war, in einen Nährboden für rechtspopulistische Stimmungsmache zu verwandeln? Wie gelang es rechtspopulistischen Strömungen, praktisch innerhalb eines Jahrzehnts die politischen Verhältnisse umzukehren und, mehr noch, dabei auch noch langfristig erfolgreich zu sein?

Revolutionäre Protesthaltungen oder populistische Bewegungen hatten sich in den Niederlanden angesichts der säulenartigen gesellschaftlichen Strukturierung traditionell schwergetan: Gesellschaftspolitischer Unmut löste sich zumeist in den jeweiligen Subkulturen, den Säulen, auf.[2] In der Regel wurde ein Überschwappen oder gar eine Institutionalisierung des Protests von diesen gesellschaftspolitischen Weltanschauungskomplexen aufgefangen. Umso heftiger und für die politischen Verantwortlichen überraschender entstand eine 1968er-Protestbewegung. Obwohl diese sich rasch wieder abschwächte, gelang es der Emanzipations-, der Umwelt- und der Frauenbewegung in den folgenden Jahrzehnten immer wieder, für Aufmerksamkeit und Partizipation innerhalb der Zivilgesellschaft zu sorgen.[3]

Waren die Jahrzehnte bis zur Jahrtausendwende allerdings generell durch ein verhandlungsdemokratisches, minderheitenschützendes und stabilitätsorientiertes Moment gekennzeichnet, so begann spätestens gegen Ende der 1990er Jahre dieses Vertrauen in ein Zusammenleben innerhalb eines institutionalisierten Pluralismus sichtbar zu bröckeln.[4] Die Zuversicht, Protestbewegungen innerhalb des politischen Machtapparats sicher einbinden zu können, ließ statt der Widerstandsfähigkeit des politischen Systems nunmehr eher eine außerordentliche Anfälligkeit für populistische Strömungen erkennen.[5] Auch wich die Toleranz gegenüber Minderheiten, insbesondere gegenüber Zuwanderern aus dem ehemaligen Kolonien Surinams oder den niederländischen Antillen, die einst in der niederländischen Ausprägung des Liberalismus ihren Ausdruck zu finden schien, mehr und mehr den Gefühlen der Skepsis, des Misstrauens und des Zweifels. Stark geschürt wurden diese grundsätzlichen Befürchtungen ob einer wirklichkeitsfremden „Ausländerschwemme“ durch eine Verbindung von Parteien- und Institutionenkritik; zudem trug Pim Fortuyns ins Groteske überhöhte Empörung über  die  seiner Ansicht nach  gekünstelte  politische Korrektheit ihren Teil dazu bei. Der einstige Sozialdemokrat und Anführer einer ab 2001 schnell wachsenden rechtspopulistischen politischen Bewegung verband rhetorisch versiert die herrschende Unzufriedenheit über die politischen Verhältnisse mit dem unterschwelligen Wunsch nach einer verlässlichen Werte- oder vielmehr niederländischen Leitkultur, die bei weiten Teilen von Einwanderern und Muslimen nicht vorhanden sei.

Nach der Ermordung des „brillant“[6] auftretenden LPF-Spitzenkandidaten Fortuyn inmitten des stark polarisierten Wahlkampfs zu den Parlamentswahlen 2002 kamen die rechtspopulistischen Ausschläge und Beschuldigungen islamischer Bevölkerungsgruppen zeitweise zum Erliegen. Das nach wie vor vorhandene rechtspopulistische Potenzial drohte allerdings in den folgenden Kammerwahlen bis 2006 noch größer zu werden; und das Verschwinden der LPF nach dem Tode ihres Anführers hatte auf der politischen Bühne ein unausgefülltes Vakuum hinterlassen. Kurz darauf kam es jedoch innerhalb der liberalkonservativen Partei mit dem Austritt zunächst von Geert Wilders und später von Rita Verdonk  zu prominenten Abspaltungen und rechtsliberalen bzw. -populistischen Parteineugründungen. Während Rita Verdonks Partei Trots op Nederland (dt. Stolz auf die Niederlande) nach einer kurzen Hochphase zur Splitterpartei schrumpfte, reüssierte die Partij voor de Vrijheid von Geert Wilders dafür umso stärker: Als Konterpart zum anständigen Establishment genoss es der „Politiker des Jahres 2007“, die seiner Ansicht nach besorgniserregende Radikalität des Islams mit drastischen Worten in die politische Debatte einfließen zu lassen.

Wilders versteht es, medial gewünschte Verkürzungen zu liefern und mittels Polarisierung auch die Sensationslust des Publikums zu befriedigen.[7] Geschickt verbindet er die Forderung nach freier Meinungsäußerung mit bewusst politisch inkorrekten Polemiken und Vorwürfen gegenüber Zuwanderern.[8] Profilierungsmöglichkeiten boten sich ihm zuhauf: etwa der Prozess wegen Volksverhetzung 2010 nach dem Vergleich von Islam und Faschismus, bei dem er freigesprochen wurde, die Veröffentlichung des Kurzfilms Fitna (dt.: Zwietracht) oder seine Ausflügen zu Vertretern anderer rechtspopulistischer Parteien auf der Welt. Stets sorgt Wilders für urteilssichere, daher umso provozierendere Schlagzeilen zu den Themen Migration und Integration.

Neben der Verkürzung des Islams auf die Themen Terrorismus, Parallelgesellschaften und die Bedrohung der niederländischen Identität gelang Wilders durch seine metaphernschwangere Rhetorik und die geschickte Verkürzung der Debatten[9], vielerorts auch Zustimmung für seine euroskeptischen Positionen zu gewinnen.[10] Er verfügt über die Fähigkeit, den Nerv unzufriedener, politikverdrossener Wählerschichten zu treffen und ihren diffusen Unmut allgemein verständlich zu verbalisieren. Zwar wirkt er spätestens seit der Aufkündigung der Zusammenarbeit mit der liberal-christlichen Regierungskoalition kaum mehr am Regierungsgeschäft mit – gleichwohl liegt die Zustimmung zu Wilders in der niederländischen Bevölkerung insbesondere bei weiblichen Wählern mit niedriger Bildung an der Spitze. Mit der gleichzeitig vorhandenen hohen Popularität bei Beziehern mittlerer Einkommen ist die Partij voor de Vrijheid imstande, ein deutliches europakritisches Ausrufezeichen auf der politischen Landkarte am 22. Mai zu hinterlassen.

 Andreas Wagner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. 


[1] Hierzu zählen auch weitere Vertreter niederländischer Rechts- und rechtspopulistischer Parteien vor 2002, wie etwa die Nationaal-Socialistische Beweging (NSB), die Boerenpartij (BP) oder die Nederlandse Volksunie (NVU).

[2] Vgl. hierzu Reuter, Gerd (2009): Rechtspopulismus in Belgien und den Niederlanden. Unterschiede im niederländischsprachigen Raum, Wiesbaden, S. 105 ff.

[3] Vgl. ebd., S. 105 ff.

[4] Gleichwohl gibt es ebenfalls Hinweise auf bereits früher auftauchende populistische Protestformen bzw. populistisch auftretende niederländische Politiker. Vgl. dazu Van Reybrouck, David Grégoire (2008): Pleidooi voor populisme. Amsterdam [u.a.], S. 9.

[5] Vgl. Reuter, Gerd (2009): Rechtspopulismus in Belgien und den Niederlanden. Unterschiede im niederländischsprachigen Raum, a. a. O., S. 59.

[6] Bosland, Joost (2010): De waanzin rond Wilders. Psychologie van de polarisatie in Nederland. Amsterdam, S. 13.

[7] Vgl. hierzu auch ebd., S. 99.

[8] Vgl. Fennema, Meindert (2010): Geert Wilders. Tovenaarsleerling. Amsterdam, S. 180.

[9] Vgl. Kuitenbrouwer, Jan (2010): De woorden van Wilders & hoe ze werken. Amsterdam, S. 17 ff., 37 ff. und S. 47 ff.

[10] Vgl. Müller, Thomas (2014): Wilders rechnet EU-Austritt schön. In: tageszeitung, 06.02.2014.