Nach dem Terroranschlag von Halle, der von einem deutschstämmigen überzeugten Neonazi begangen wurde, waren wieder einmal die Appelle zu lesen: Die deutsche Gesellschaft müsse sich gegen „Fremdenfeindlichkeit“ engagieren. So erklärte der Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann bei einer Gedenkveranstaltung anlässlich des Angriffs auf die Synagoge in Sachsen-Anhalt, es dürfe „keinen Platz für Fremdenfeindlichkeit“ geben.[1] Doch wer sind die „Fremden“, denen die Fremdenfeindlichkeit gilt?
Ein deutschstämmiger Hamburger, der aus der Elbmetropole in ein kleines Dorf im Allgäu zieht und dort mit seinem Hipster-Lifestyle auf Ablehnung und Ausgrenzung stößt, würde wohl in keiner deutschen Zeitung als ein Opfer von Fremdenfeindlichkeit beschrieben werden, obwohl er als ein „Zugezogener“ in Bayern zunächst tatsächlich fremd ist. Wird ein türkischstämmiger Mann in demselben Dorf, der dort geboren ist und sein ganzes Leben nirgendwo anders gelebt hat, von einer rechtsradikalen Jugendgang überfallen, würden viele das Geschehen hingegen als „fremdenfeindlichen Übergriff“ kategorisieren.
Beim Begriff der „Ausländerfeindlichkeit“, dem siamesischen Zwilling der Fremdenfeindlichkeit, stellt sich eine ähnliche Frage: Wer ist „Ausländer“? Da dem Wort eine rechtliche Bedeutung zukommt, ist die Frage im deutschen Kontext eigentlich leicht zu beantworten: Ausländer ist jede Person, die keinen deutschen Pass hat. Der Alltagssprachgebrauch hat jedoch wenig mit rechtlichen Kategorien zu tun: Eine deutschstämmige und in der Bundesrepublik aufgewachsene Frau, die nach dem Schulabschluss in die USA ausgewandert und die deutsche Staatsangehörigkeit zugunsten der amerikanischen aufgegeben hat, würde auf der Straße wohl kaum als „Ausländerin“ bezeichnet werden, wenn sie ihre alte deutsche Heimat besucht. Ein kopftuchtragendes deutsches Mädchen, deren Urgroßeltern aus der Türkei eingewandert sind, wird bis heute von weiten Teilen der Gesellschaft hingegen nicht als „deutsch“ wahrgenommen. Der deutsche Pass spielt dabei praktisch keine Rolle.
Auch die etablierten Medien folgen oft dieser sprachlichen Konvention. Kürzlich überschrieb Spiegel Online einen Artikel über die rechtsterroristische Gruppe „Revolution Chemnitz“ mit der Schlagzeile „Vereint im Hass auf Ausländer“[2]. Im Artikel selbst wird erklärt, die Gruppe habe „Anschläge auf Menschen mit Migrationshintergrund“ geplant – „Menschen mit Migrationshintergrund“ und „Ausländer“ werden somit synonym verwendet. Die Vorstellung, dass das Kollektiv der Deutschen eigentlich nur aus Deutschstämmigen besteht und alle anderen aus dem Kreis derer, die selbstverständlich und uneingeschränkt zur Gesellschaft gehören, ausgeschlossen werden, ist somit kein Hirngespinst, das allein von Rechtsradikalen vertreten wird – sondern eine Idee, die gesellschaftlich akzeptiert ist. Oder härter formuliert: „Wer ‚Fremdenfeindlichkeit‘ sagt, übernimmt die Sicht der Täter“, wie ZEIT Online im April dieses Jahres titelte.[3] In letzter Zeit ist die Verwendung der Begriffe „Ausländerfeindlichkeit“ und „Fremdenfeindlichkeit“ auch in vielen anderen Online-Artikeln kritisiert worden (z. B. hier, hier und hier),[4] ebenso in Tweets von Journalisten wie Hasnaim Kazim.[5]
Warum aber wird nicht konsequent von „Rassismus“ gesprochen, anstatt die Begriffe „Fremdenfeindlichkeit“ und „Ausländerfeindlichkeit“ zu nutzen?
Gegen die Verwendung des Rassismus-Begriffes wird eingewandt, dass dieser vermeintliche Eindeutigkeit suggeriere und Teil einer „Kampfrhetorik“ sei. Zudem sei der Begriff eigentlich mit den pseudowissenschaftlichen Rassetheorien des 19. Jahrhunderts verknüpft. Wenn jedoch Argumente ohne jeden Bezug auf biologistische Theorien als rassistisch bezeichnet würden, werde „Rassismus“ zu einem völlig unspezifischen Vorwurf.[6] Allerdings ist das Argument bei näherer Betrachtung widersprüchlich: Die Autoren der Rassentheorien wie Arthur de Gobineau gaben zwar vor, dass ihre Kategorien auf biologische Grundlagen aufbauten. Angesichts der Unmöglichkeit, die Menschen auf empirischer Basis in „Rassen“ einzuteilen, blieben diese aber letztlich vage. Rassismus baut somit nie auf eindeutigen Definitionen von „Rassen“ auf. (Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Praxis des NS-Regimes, das die slawischen Völker Polens und der Sowjetunion mit brutalen Angriffskriegen und Massenvernichtung überzog, während die slawischen Kroaten als Verbündete fungierten.) Das rassistische Denken ist erst die Voraussetzung für die Herausbildung der Idee von „Rassen“. Allerdings kann rassistisches Denken auch gänzlich ohne den Versuch der Definition von „Rassen“ auskommen.
Ein anderes Argument lautet, dass Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Ausländerfeindlichkeit unterschiedliche Phänomene seien, die es zu unterscheiden gelte. So räumte Henning Otte, Politikchef der Nachrichtenagentur dpa, ein, dass es ein Fehler gewesen sei, in Bezug auf den Mordanschlag im hessischen Wächtersbach auf einen schwarzen Mann im Juli 2019 den Begriff der „Fremdenfeindlichkeit“ ohne Anführungszeichen von der zuständigen Staatsanwaltschaft übernommen zu haben. Tatsächlich sei die Tat rassistisch motiviert gewesen. Werde aber ein „niederländischer Tourist“ in Deutschland angegriffen, wäre diese Tat nicht als rassistisch, sondern als fremdenfeindlich einzustufen.[7] Die Differenzierung erscheint auf den ersten Blick plausibel. Tatsächlich aber mutet das Beispiel reichlich konstruiert an – ein Angriff auf einen weißen Niederländer aufgrund seiner Herkunft oder Staatsangehörigkeit erscheint in Deutschland – zumindest außerhalb des Kontexts großer internationaler Fußballturniere – reichlich unwahrscheinlich. Eine pauschale Ablehnung aller Menschen aufgrund ihrer nicht deutschen Herkunft oder ihrer nicht deutschen Staatsangehörigkeit ist in Deutschland ausgesprochen selten. Vielmehr trifft rassistische Ausgrenzung vorwiegend Menschen, die als nicht weiß angesehen werden und deren vermeintliches „Herkunftsland“ mit Rückschrittlichkeit und Unterentwicklung assoziiert wird.
Auch der Versuch, die Kategorie „Rassismus“ nur auf Ausgrenzungen anzuwenden, die unmittelbar an phänotypische Merkmale anknüpfen, und auf die Bezeichnung „Fremdenfeindlichkeit“ zurückzugreifen, wenn Ausgrenzung aufgrund kultureller Praktiken erfolgt, erscheint wenig erfolgreich. Zwar ließen sich etwa Angriffe auf Döner-Imbisse als „fremdenfeindlich“ anstatt als „rassistisch“ bezeichnen, weil die Zubereitung und der Verzehr von Dönern nicht mit unveränderlichen körperlichen Merkmalen zusammenhängen, sondern kulturelle, in Deutschland noch relativ neue Praktiken sind, die von manchen noch immer als „fremd“ empfunden werden mögen. Faktisch aber werden die allermeisten Döner-Imbisse von nicht deutschstämmigen Menschen betrieben, und es ist plausiblerweise davon auszugehen, dass Angriffe auf diese nicht primär der kulturellen Praktik, sondern einer bestimmten Gruppe von Menschen gelten. Oder anders ausgedrückt: Wer versucht, einen Döner-Imbiss eines türkischstämmigen Betreibers anzugreifen, würde diesen wohl auch dann nicht als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ansehen, wenn dieser in seinem Imbiss ausschließlich zur „deutschen Kultur“ gehörige Speisen wie Würstchen und Kartoffelsalat anbieten würde. In der Praxis werden körperliche und kulturelle Differenz stets miteinander verwoben.[8]
Die Begriffe „Fremdenfeindlichkeit“ und „Ausländerfeindlichkeit“ lassen sich somit in der Praxis vollständig durch den Rassismusbegriff ersetzen, ohne Gefahr zu laufen, bestimmten gesellschaftlichen Phänomenen künftig sprachlos gegenüberzustehen. Stefanie Hirsbrunner ist zuzustimmen, wenn sie festhält, dass die „Präferenz verschleiernder Ersatzbegriffe“ wie „Ausländerhass“ oder „Fremdenfeindlichkeit“ für das Phänomen des Rassismus vor allem dessen „Verdrängung und Leugnung“[9] dient.
Allerdings wäre es wünschenswert, wenn nicht nur die Begriffe der Fremdenfeindlichkeit und der Ausländerfeindlichkeit künftig nicht mehr Verwendung fänden, sondern wenn auch der Begriff „Ausländer“ selbst aus dem deutschen Sprachgebrauch verschwände – zumindest dann, wenn es nicht allein um die juristische Kategorie von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit geht. Doch bisher verwenden selbst Wissenschaftler den Begriff „Ausländer“ in ihren Fragebögen – wie etwa die Autoren der Leipziger Autoritarismusstudie, die die Zustimmung zur These „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“ messen. Der Leiter der Studie, Oliver Decker, rechtfertigt zwar die Verwendung des Begriffes – nur durch die Verwendung des Reizwortes ließe sich das Ressentiment messen.[10] Doch durch derartige Messungen von „Ausländerfeindlichkeit“ wird das gesellschaftliche Konstrukt „Ausländer“ jenseits präziser rechtlicher Kategorien am Leben erhalten, von Medien aufgegriffen und mit wissenschaftlichen Weihen versehen. Rassistische Einstellungen in der Gesellschaft werden so nicht nur festgestellt und quantifiziert, sondern ungewollt auch gefördert. Doch Rassismus lässt sich auch auf eine Weise messen, die problematische Kategorien wie „Ausländer“ oder „Fremde“ nicht unnötig aufruft. Künftige Studien könnten etwa die Zustimmung zur These „Man kann bestimmte Dinge heute gar nicht mehr klar ansprechen, ohne Gefahr zu laufen, als Rassist bezeichnet zu werden“ messen. Gerade diejenigen, die Ausgrenzungsmechanismen in der Gesellschaft entgegentreten und diese mit Worten bekämpfen wollen, sollten sich ins Bewusstsein rufen, dass Wörter die Welt nicht nur beschreiben, sondern auch prägen und verändern. Die Wörter Ausländer, Ausländerfeindlichkeit und Fremdenfeindlichkeit lassen sich dabei bestenfalls in Anführungszeichen verwenden.[11]
Lino Klevesath ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung und forscht zum politischen Islam bzw. Islamismus sowie der interkulturellen Ideengeschichte.
[1]Möllers, Tobias/Ziegele, Marvin: Terroranschlag von Halle: Synagogentür wird Ort des Gedenkens, in Frankfurter Rundschau, 17.10.2019, URL: https://www.fr.de/politik/terroranschlag-halle-synagogentuer-wird-gedenkens-zr-13083592.html [eingesehen am 17.10.2019].
[2]Jüttner, Julia: Prozess gegen ‚Revolution Chemnitz‘: Vereint im Hass auf Ausländer, in Spiegel Online, 29.09.2019, URL: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/prozess-gegen-revolution-chemnitz-vereint-im-hass-auf-auslaender-a-1288912.html [eingesehen am 17.10.2019].
[3]Frisse, Juliane: „Wer ‚Fremdenfeindlichkeit‘ sagt, übernimmt die Sicht der Täter“, in Die Zeit, 29.04.2019, URL: https://www.zeit.de/die-antwort/2019-03/rassismus-herkunft-identitaet-kommunikation/komplettansicht [eingesehen am 17.10.2019].
[4]Langer, Armin: Wie Worte die Realität verfälschen, in Spiegel Online, 06.09.2018, URL: https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/chemnitz-berichterstattung-warum-auslaenderfeindlichkeit-das-falsche-wort-ist-a-1226620.html [eingesehen am 19.10.2019]; Dell, Matthias: Nicht fremdenfeindlich, sondern rassistisch, in Deutschlandfunk, 03.01.2019, URL: https://www.deutschlandfunk.de/matthias-dell-nicht-fremdenfeindlich-sondern-rassistisch.2907.de.html?dram:article_id=437346 [eingesehen am 19.10.2019]; Ali, Rami: Österreich und seine Muslime, in Der Standard, 27.09.2019, URL: https://www.derstandard.at/story/2000109140823/oesterreich-und-seine-muslime [eingesehen am 19.10.2019].
[5]Kazim, Hasnaim: Tweets vom 26.07.2019, URL: https://twitter.com/HasnainKazim/status/1154743180060962821 [eingesehen am 19.10.2019].
[6]Jaschke, Hans-Gerd: Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit: Begriffe, Positionen, Praxisfelder, Opladen 1994, S. 66–70.
[7]Balzer, Vladimir/Otte, Henning: Warum eine genaue Wortwahl wichtig ist, in Deutschlandfunk Kultur, URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/kritik-an-deutscher-presse-agentur-warum-eine-genaue.1013.de.html?dram:article_id=454719 [eingesehen am 19.10.2019].
[8]Arndt, Susan: Rassismus, in: Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja (Hrsg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht: (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache: ein kritisches Nachschlagewerk, 2. Aufl., Münster 2015, S. 37–43, hier S. 42.
[9]Hirsbrunner, Stefanie: Ausländer_in, in: Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja (Hrsg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht: (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache: ein kritisches Nachschlagewerk, 2. Aufl., Münster 2015, S. 242–252.
[10]Maxwill, Peter: Hass, für den es keine Worte gibt, in Spiegel Online, 17.11.2018, URL: https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/auslaender-in-deutschland-hass-fuer-den-es-keine-worte-gibt-a-1237601.html [eingesehen am 19.10.2019].
[11]Auch die Verwendung des Begriffes „deutsch“ ist in diesem Zusammenhang zu reflektieren. Wenn über eine Person ausgesagt werden soll, dass sie mutmaßlich deutscher Ethnizität ist, sollte sie als „deutschstämmig“ und nicht als „deutsch“ bezeichnet werden – letzteres Attribut sollte in Bezug auf Menschen die politische und gesellschaftliche Zugehörigkeit zu Deutschland kennzeichnen. So lässt sich der latent immer noch verankerten Vorstellung von den Deutschen als einer Abstammungsgemeinschaft entgegenwirken. Allerdings ist auch zu überlegen, wann die Angaben zur Ethnizität einer Person sinnvoll sind und wann nicht. Gegenwärtig wird in Deutschland oft bei nicht deutschstämmigen Menschen auch dann auf die Herkunft der Vorfahren verwiesen, wenn der Kontext dies nicht unbedingt nahelegt. Auch dies hat einen ausgrenzenden Effekt. Siehe Ataman, Ferda: Der ethnische Ordnungsfimmel, in Spiegel Online, 23.02.2019, URL: https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/herkunft-und-die-frage-wo-kommst-du-her-ethnischer-ordnungsfimmel-a-1254602.html [eingesehen am 19.10.2019].