François Bayrou – ein Rathaus für ein Königreich

Beitrag verfasst von: Daniela Kallinich

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[analysiert]: Daniela Kallinich über die politische Karriere des französischen Zentrumspolitikers François Bayrou.

Göttingens französische Partnerstadt Pau hat einen berühmten Bürgermeister. Zumindest in Frankreich. Denn 2007 wäre François Bayrou beinahe zum französischen Präsidenten gewählt worden. Noch heute ist er einer der beliebtesten Politiker in unserem Nachbarland. Gleichwohl ist seine politische Heimat, das Zentrum, derzeit von Bedeutungslosigkeit bedroht. Umso wichtiger ist es daher für den ehemaligen „Dritten Mann“ gewesen, 2014 das Rathaus der Stadt am Fuße der Pyrenäen zu erobern.

Wie kompliziert dieses Unterfangen allerdings war, zeigt die Tatsache, dass es mehr als 35 Jahre politischen Engagements, mehrerer Präsidentschaftskandidaturen, eines Ministeramts und nationaler Parlamentsmandate bedurfte, bis ihm die Bürger „seiner“ Stadt endlich ihr Vertrauen schenkten.[1] Dabei ist Bayrou einer von ihnen: Aufgewachsen als Bauernsohn in einem kleinen Dorf in der Nähe, wo er noch immer wohnt, verließ er seine Heimatregion auch zum Studium  nicht. In Bordeaux schrieb er sich für Sprachen ein und errang die agrégation de lettres classiques, einen prestigeträchtigen Abschluss, der im französischen Lehrerberuf die Spreu vom Weizen trennt und als sozialer Aufstiegsmotor gilt.

Bei seinem Berufseinstieg im Jahr 1974 war Bayrou bereits verheiratet, Vater von zwei Kindern (vier weitere folgten), half auf dem elterlichen Bauernhof aus und engagierte sich mit vollem Elan in der Politik. Allerdings hatte er sich dafür ein recht schwieriges Feld, das politische Zentrum und speziell die kleine christdemokratische Partei Centre Démocrate (CD), ausgewählt. Das Zentrum stellte damals mit Valéry Giscard d’Estaing den Staatspräsidenten und gemeinsam mit der gaullistischen Partei in der Pariser Nationalversammlung die Parlamentsmehrheit. Die Parteien, die ihm zugeordnet wurden, also auch das CD, galten gemeinhin als klassische Honoratiorenparteien und waren damit strukturell wenig offen für Neuankömmlinge, insbesondere solche aus dem bäuerlichen Milieu. Die Kooptation galt als gängiges Prinzip der Aufnahme, „normale“ Mitglieder spielten kaum eine Rolle. Doch – so sagte Bayrou im Interview – war er von den Werten seiner neuen politischen Heimat überzeugt:

„Les élections de 73 sont les premières élections du programme commun. Et il se trouve que je suis en désaccord avec l’un et l’autre des deux blocs. Parce que j’étais clairement et sans compromission anti-communiste. Très tôt j’ai lu Soljenitsyne et tous les auteurs de la résistance intellectuelle au stalinisme et à ses suites… tous les refuzniks. Donc j’étais anti-communiste… Et je n’aimais pas ce que la droite était à cette époque, parce qu’elle était assez souvent affairiste… Pompidou était un type très intelligent. Mais son camp était volontiers du côté des intérêts et des affaires. Et je n’aimais pas cela. Donc j’étais entre les deux. Entre les deux il y avait un petit mouvement politique qui s’appelait le <<Mouvement réformateur>> qui était composé de deux branches. L’une derrière Jean-Jacques Servan-Schreiber, qui était les Radicaux de tradition souvent anticléricale et l’autre derrière Jean Lecanuet, très faible à cette époque, qui était les Démocrates-chrétiens. Et j’étais démocrate-chrétien et donc je suis allé au Mouvement réformateur et au Centre Démocrate qui en était l’expression […]“[2]

Trotz seiner beruflichen Qualifikation war Bayrou kein Honoratior und sollte auch nie einer werden. Allerdings gelang ihm dennoch innerhalb der christdemokratischen Parteifamilie ein rascher Aufstieg, der nicht nur auf seiner Chuzpe, sondern auch auf seinen Fähigkeiten gründete, sich die richtigen Mentoren auszuwählen und sein sprachliches Talent geschickt einzusetzen. Jedenfalls wurde Bayrou alsbald in seinem Département zu einem Animateur seiner Partei und kandidierte sogar – wenn auch zunächst aussichtslos – bereits bei den Parlamentswahlen 1978 für die frischgegründete UDF (ein neues Wahlbündnis der Zentrumsparteien). Zwar gelang ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht der Einzug in die Assemblée Nationale, doch wurden die Parteigranden auf ihn aufmerksam. So konnte er sich bis zu seiner Abgeordnetenwahl 1986 als Redenschreiber und Assistent verschiedener christdemokratischer Spitzenpolitiker ein Netzwerk aufbauen und bekannt machen. Sein wichtigstes Medium war dabei die christdemokratische Parteizeitschrift, in deren Editorials er regelmäßig seine Meinung unterbrachte. Außerdem gelang ihm, Stück für Stück öffentliche und parteiinterne Ämter zu erreichen – kurzum: Bayrou absolvierte eine „Ochsentour“. Schließlich hatte er mangels anderer Ressourcen auch keine andere Wahl, um in der Politik aufzusteigen.

Diese in deutschen Augen so klassische Art der politischen Karriere ist allerdings auf den Fall Bayrou bezogen mehr als ungewöhnlich. Zunächst wurde, wie schon angesprochen, in den Zentrumsparteien eine andere Art von Aufstieg praktiziert; hinzu kommt, dass Angehörige der politischen Elite Frankreichs – zu der Bayrou als mehrfacher Präsidentschaftskandidat inzwischen zweifelsohne zählt – ihre Positionen in der Regel durch top-to-bottom-Karrieren und Abschlüsse an Elitehochschulen erlangen. Klassische Ochsentouren auch in anderen Parteien führen in der Regel nur bis ins Parlament – aber selten darüber hinaus.[3]

Doch zurück zu Bayrou: Bis Anfang der 1990er Jahre war er ein national kaum beachteter Parlamentarier, der einzig in seiner kleinen Partei langsam in die zweite Reihe aufrückte. Er ergriff 1989 die Chance, gemeinsam mit einigen anderen Politikern der moderaten Rechten gegen die Alt-Etablierten zu rebellieren, und hatte als Wahlkampfmanager der Spitzenkandidatin Simone Veil bei den Europawahlen 1989 kaum Erfolg. Allerdings gelang ihm in der Folge, sich im Windschatten des ehemaligen Präsidenten Giscard als Generalsekretär der UDF zu platzieren und von dort seine Vorstellungen einer zukunftsfähigen politischen Partei umzusetzen. Denn als solche galten die UDF und ihre Komponenten schon lange nicht mehr.

Durch geschickte Allianzen erreichte seine Karriere 1993 ihren Höhepunkt: Bayrou, der Bauernsohn und studierte Lehrer, wurde zum Bildungsminister ernannt – und geriet dadurch im laizistischen Frankreich, wo Schulpolitik noch immer als Hauptaustragungsort des Konflikts zwischen Katholiken und Laizisten genutzt wurde, auf ein Minenfeld. Prompt stieß der gläubige Katholik, aber überzeugte Laizist bei seinen Reformvorhaben auf den Widerstand der Straße und musste ein Gesetz zurückziehen. Er konnte sich dennoch über den Regierungswechsel 1995 hinaus im Amt halten. Erst mit dem Verlust der Mehrheit des konservativen Lagers verlor auch Bayrou seinen Ministersessel.

Zu diesem Zeitpunkt allerdings hatte er sich bereits aufgemacht, seine Ursprungspartei, die ehemalige Christdemokratie, unter dem neuen Namen Force Démocrate als frisch gewählter Parteichef zu modernisieren. Er konnte sich mit seiner Linie, die von der Marginalisierung bedrohte und krisengeschüttelte Partei mittels einer Öffnung und wachsender Unabhängigkeit retten zu wollen, gegen die Vertreter der Tradition durchsetzen. Dabei warf Bayrou, als er dort 1995 das Ruder übernahm, nicht nur die traditionelle Bezeichnung als „centre“ über Bord, sondern revolutionierte zudem die ehemals christdemokratische Partei dahingehend, dass sie nun als besonders laizistisch galt. Auch strukturell und organisatorisch sollte die Partei – ebenso wie die UDF – den institutionellen Rahmenbedingungen der V. Republik Frankreichs angepasst werden und endlich einmal eigene vielversprechende Präsidentschaftskandidaten ins Rennen schicken.[4] Natürlich dachte Bayrou dabei zunächst an sich selbst.

Innerhalb der folgenden Jahre avancierte Bayrou Stück für Stück zum wichtigsten Mann im Zentrum. Dies lag einerseits daran, dass sich Giscard aus dem parteipolitischen Tagesgeschäft zurückzog, andere potenzielle Rivalen, die bereits in den 1980er Jahren federführend gewesen waren, von Skandalen und Affären eingeholt wurden, aber besonders daran, dass die UDF als Föderation der Zentrumsparteien zerbrach. Während sich deren liberaler Flügel Stück für Stück den Neo-Gaullisten anschloss und 2002 in der UMP aufging, machte sich Bayrou daran, die Konkursmasse unter dem Namen „Nouvelle UDF“ in eine homogene und kampffähige Präsidentschaftswahlkampfmaschine umzuwandeln. Dieser Strategiewechsel – bislang hatte das Ziel, möglichst viele Parlamentsmandate mithilfe von Bündnissen mit den anderen Kräften im konservativen Lager zu gewinnen, im Mittelpunkt gestanden – ging mit zahlreichen Demissionen, Brüchen und persönlichen Verletzungen einher. Er sorgte aber letztlich dafür, dass Bayrou am Ende als einziger potenzieller Präsidentschaftskandidat des Zentrums übrig blieb.[5]

Bayrous große Stunde schlug dann im Jahr 2007, als er nach schwachen sieben Prozent 2002 nun mit knapp zwanzig Prozent fast in den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen eingezogen wäre. Er profitierte dabei von der Schwäche seiner sozialistischen Widersacherin Ségolène Royal, der viele das Amt nicht zutrauten, und dem Rechtsruck Nicolas Sarkozys, den viele moderate Rechte nicht mitgehen wollten. Den zweiten Wahlgang hätte Bayrou mit seiner Linie als „Dritter Mann in der Mitte“ und echte Alternative – so lassen es jedenfalls die Vorwahlumfragen vermuten – auf jeden Fall gewonnen. Hatte in der Wahlkampfphase noch der Eindruck geherrscht, die Wähler würden sich mehrheitlich seiner z.T. populistisch wirkenden Anti-System-Rhetorik anschließen, schlug letztlich doch die Falle des bipolaren politischen Systems zu, wodurch sich schließlich die Sozialistin Ségolène Royal und ihr konservativer Widersacher Nicolas Sarkozy mit dem bekannten Ergebnis gegenüberstanden.

Bayrou allerdings vermutete in dieser Konstellation ein Gelegenheitsfenster zur Überwindung der bestehenden bipolaren Ordnung und gründete mit dem Mouvement Démocrate (MoDem) im Nachgang der Präsidentschaftswahlen kurzerhand eine neue Partei, in der die ehemalige Nouvelle UDF aufging. Allerdings ging seine Strategie, als neues „Hyperzentrum“ Erfolg zu haben, nicht auf: Bei den Parlamentswahlen 2007, bei denen die Kandidaten des Zentrums nicht im Bündnis mit der UMP antraten, gewann das MoDem nur drei Sitze, 2012 sogar nur zwei. Die meisten verbliebenen Parlamentarier waren das Risiko der Bayrou’schen Zentrums- und Autonomiestrategie nicht eingegangen und waren den Bündnisrufen der UMP gefolgt. Als Nouveau Centre wurden sie Teil von Sarkozys Regierungsmehrheit.

Und auch in der Folge ging es für Bayrou und sein MoDem stetig bergab: Nach herben Niederlagen bei allen Zwischenwahlen konnte er mit nur noch neun Prozent bei den Präsidentschaftswahlen 2012 nicht mehr an die Erfolge des Jahres 2007 anknüpfen, ja verlor sogar sein Parlamentsmandat. Die Wähler – an die simple bipolare Ordnung gewöhnt – goutierten nicht den Bündnis-Kurs der „géométrie variable“[6], mit dem sich das MoDem seine Partner aussuchte. Darüber hinaus stellte die UMP 2012 in Bayrous Wahlkreis erstmals einen starken Gegenkandidaten auf, der Bayrou just dessen parlamentarische Hochburg entwinden konnte.

Folglich konzentrierte sich Bayrou kommunalpolitisch auf seine Heimat, die Stadt Pau, und wurde dort 2014 nach zahllosen vorherigen Anläufen zum Bürgermeister gewählt. Eine Position, aus deren Distanz zu Paris und den nationalen Krisenphänomenen er nun Kraft und Ressourcen schöpft. Nach wie vor ist er als Kommentator bei nationalen Medien gefragt und noch lange nicht aus dem Bewusstsein der Menschen verschwunden; im Kleinen praktiziert er nun die Vorschläge, die er für die Nation entwickelt hat. Obwohl Bayrou bislang eine weitere Kandidatur für das Jahr 2017 ausgeschlossen hat, scheint der mittlerweile 64-Jährige noch lange nicht am Ende seiner politischen Laufbahn zu stehen. Jedenfalls wird immer wieder gemunkelt, dass Pau sein Labor für Frankreich sei.

Daniela Kallinich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Sie promoviert über das politische Zentrum in Frankreich.
 
[1] Zu Bayrous Biografie vgl. z.B.: Gelly, Violaine: François Bayrou, Paris 1996; Geisler, Rodolophe: Bayrou l’obstiné, Paris 2012; Michelland, Antoine/Séguy, Phlippe: François Bayrou. „Quand la Providence veut …“, Monaco 2007; Véronis, Estelle u.a.: Bayrou, François: Confidences, Paris 2007.
[2] Interview mit François Bayrou am 17.09.2012 in Paris: „Die Wahlen 1973 waren die ersten mit dem gemeinsamen Programm [von Parti socialiste und Parti communiste]. Und ich war mit beiden Blöcken nicht einverstanden. Weil ich ganz klar und kompromisslos antikommunistisch war. Ich habe sehr früh Soljenitsyne und die ganzen Autoren der intellektuellen Opposition gegen Stalin gelesen […] danach auch alle Refuzniks. Ich war also antikommunistisch. Ich mochte auch nicht, wofür die Rechte zu dieser Zeit stand, sie war ziemlich oft sehr geschäftlich orientiert […] Pompidou war ein sehr schlauer Kerl. Aber sein Lager war gerne auf der Seite der Interessen und der Wirtschaft. Das mochte ich nicht. Also war ich dazwischen. Dazwischen gab es eine kleine politische Bewegung, die „Mouvement réformateur“ hieß und aus zwei Schienen bestand. Eine hinter Jean-Jacques Servan-Schreiber, der von den traditionell häufig antiklerikalen Radikalen stammte, und auf der anderen Seite Jean Lecanuet, sehr schwach damals und Christdemokrat. Und ich war eben Christdemokrat. Daher bin ich zum „Mouvement réformateur“ und darin zum Centre démocrate, dem Ausdruck der Christdemokratie darin, gegangen […]“
[3] Zu politischen Karrieren in Frankreich vgl. Kallinich, Daniela: Nicolas Sarkozy. Vom Außenseiter zum Präsidenten, Stuttgart 2011.
[4] Vgl. z.B. Denon-Birot, Marie-Nelly: De la démocratie chrétienne à force démocrate, Paris 2000.
[5] Zu UDF und Nouvelle UDF vgl. Fretel, Julien: Militants catholiques en politique. La Nouvelle UDF, Thèse pour le doctorat en science politique, Universite de Paris I, Pantheon Sorbonne, Departement de Science politique, Oktober 2004; Sauger, Nicolas: Les scissions de l’UDF (1994–1999). Unité et dissociation des partis, mécanismes de transformation de l’offre partisane. Thèse pour obtenir le grade de Docteur de l’Institut d’Etudes Politiques de Paris en science politique, 08.09.2003; Massart, Alexis: L’Union pour la démocratie française (UDF), Paris 1999.
[6] Dt. etwa: wechselnde Koalitionen.