[analysiert]: Dr. Britta Baugarten über die Wahrnehmung der Griechenlandkrise in Portugal.
Eines der brennendsten Themen dieses Sommers waren der drohende Grexit und seine Alternativen für Griechenland. Im Folgenden geht es um die Frage, wie die drohende Staatspleite Griechenlands und der ihr folgende Prozess – insbesondere die Verhandlungen zwischen Vertretern von EU, Troika und IWF, Referendum und Abkommen – sowie die Rolle Deutschlands dabei in Portugal wahrgenommen worden sind.
Auch Portugal ist stark von der Finanzkrise betroffen und musste 2011 unter harten Auflagen der Troika ein Hilfspaket in Anspruch nehmen. Im Unterschied zu Griechenland gilt es jedoch als Musterschüler unter den Ländern, die auf externe Hilfsprogramme angewiesen waren. 2014 verließ Portugal den EU-Rettungsschirm, die Regierung hatte alle Auflagen umgesetzt und kann inzwischen einige Erfolge des Sparprogramms vorweisen. Nach Meinung linker Experten seien diese bei genauem Hinsehen jedoch bloße Augenwischerei. Am 4. Oktober 2015 wird in Portugal gewählt – ein Wahlkampf, in dem der Umgang mit der Wirtschaftskrise eine wichtige Rolle spielt. So ist dann auch nicht verwunderlich, dass die Griechenlandkrise in den portugiesischen Medien besonders viel Platz einnimmt. Zwischen dem 24. Juni und 24. Juli 2015 erschienen alleine im Diário de Notícias – in der traditionsreichsten unter den großen überregionalen Tageszeitungen – insgesamt 96 Kommentare zur Griechenlandkrise. Hier sollen Ergebnisse einer Auswertung dieser Kommentare präsentiert werden.[1]
Insbesondere zwei große Ereignisse wurden ausgiebig kommentiert: das Referendum und die sich anschließenden „Vereinbarungen zur Griechenlandrettung“. In der Kommentierung des Referendums dominierten in Portugal Vorhersageversuche, Szenarien und eine Unsicherheit darüber, wie es mit Europa weitergehen sollte. Syriza wurde zu diesem Zeitpunkt noch als Gewinner betrachtet, Tsipras bekäme mit dem Ausgang des Referendums ein „Extraleben“ und Legitimität, während der Sparpolitik eine Absage erteilt wurde. Kritik wurde v.a. an den Umständen des Referendums geübt: der kurzfristige Zeitplan, die fehlende Souveränität der Griechen, Drohungen und Lügen im Vorfeld des Referendums durch die Befürworter des „Ja“. Ein Kommentator bezeichnete das Referendum als fehlgeschlagenen Selbstmordversuch Syrizas. Einige Kommentatoren kritisierten das Verfahren und beklagten, die Griechen könnten anderen Ländern nicht vorschreiben, unter welchen Bedingungen sie Hilfe akzeptieren, und andere zwingen, weiterzuzahlen.
Stärker wertend fielen die Kommentare zur zweiten Vereinbarung aus. Begriffe wie „Desaster“ und „unterstes Niveau der Politik“ sind hier keine Seltenheit. Positiv wurde lediglich von einigen Kommentatoren angemerkt, dass der Ausstritt Griechenlands aufgeschoben sei und für griechische Banken nun schnelle Hilfe bereitstehe. Ein Kommentar spricht von Gerechtigkeit für Länder, die sich an Sparvorgaben halten. Die Treffen zum zweiten Abkommen wurden aber weitaus häufiger als „Demütigung Griechenlands“ bezeichnet – eine Formel, die über die gesamte Phase der Analyse besondere Bedeutung erlangte. Die Vereinbarung sei eine Entscheidung zwischen Euro und Demokratie, der demokratische Protest sei gebrochen worden und indem Tsipras dem Ergebnis des Referendums widersprach, verrate er sein Volk für nichts. Sie sei ferner ein Sieg der Gläubiger und Sparpolitiker, der jedoch verheerende Folgen für Europa habe. Europa verliere seine Seele sowie seine Sicherheit, seine Stabilität gerate in Gefahr. Einig ist man sich bezüglich der Zukunftslosigkeit des Abkommens: Griechenland sei weder fähig noch willens, die Auflagen einzuhalten, und die Gläubiger wüssten das auch. Das Abkommen sei keine Lösung für Griechenland und werde mehr Sparmaßnahmen nach sich ziehen. Sprachlich fallen einige Kommentare durch Kriegsvergleiche und Parallelen zur Weimarer Republik bis hin zu Begriffen wie Genozid und Kolonialismus auf. Im Zusammenhang mit Kritik an der deutschen Politik wird von den Sparmaßnahmen als „neues Naziprojekt“ oder „Aufnötigen eines Sparprogramms mit Nazi-Eleganz“ gesprochen. An solchen Aussagen und Begriffen zeigt sich die emotionale Aufladung der Kommentare zur Griechenlandkrise.
Als Drohszenario steht neben dem Ende des Euro auch das Ende Europas. Gewarnt wird vor einem Bumerang-Effekt der Griechenlandkrise und den hohen Kosten eines möglichen Austritts für die anderen Länder, aber auch vor einem Demokratieverlust und dem Vorstoß von radikalen Gruppierungen und Parteien, nicht zuletzt vor sozialer Gewalt. Während des gesamten Zeitraums findet sich starke Kritik an den europäischen Politikern, sowohl im Hinblick auf Moral als auch auf politische Kompetenz. Ihnen wird ein fehlender Wille vorgeworfen, mit Griechenland zusammenzuarbeiten und an Sparprogrammen festzuhalten, anstatt die griechische Regierung bei ihrer Suche nach Alternativen zu unterstützen. Einige Kommentare sprechen davon, dass die europäischen Politiker Griechenland aus dem Euro werfen wollten und versuchten, Syriza zu brechen. Besondere Kritik zog der Versuch auf sich, vor dem Referendum Informationen über Griechenland zu verheimlichen.
Allerdings sehen nicht alle Kommentatoren die europäischen Politiker als Einheit. Einige gehen so weit, uneinheitliche Positionen zu kritisieren. Mit besonderer Besorgnis richten v.a. linke Kommentatoren ihren Blick auf Europa, dem ein Fehlen an Solidarität und Zivilität attestiert wird. Es vergesse seine gemeinsame Geschichte und die Bedeutung Griechenlands darin und konzentriere sich nur noch auf Finanzfragen. Die ungleiche Wettbewerbsfähigkeit und verschiedene Wachstumsbedingungen seien zum Problem geworden – entstanden sei ein Club der reichen Länder, in dem diese unter Führung der deutschen Politik gegenüber den ärmeren Partnern begünstigt würden. Auf politischer Ebene herrschten zu viele gegenseitige Vorurteile und Uneinigkeiten. Wohl auch im Hinblick auf Portugals Position in einem solchen Europa heißt es in einem Kommentar: „Wir wollen kein Europa, in dem jedes Jahr der schlechteste die Gemeinschaft verlassen muss“. Es wäre unmenschlich, wenn Europa nur auf Finanzen schaute, denn der Umgang mit dem drohenden Grexit sei das wichtigste Ereignis für Europa seit dem Fall der Berliner Mauer, ein politisches Drama, bei dem die Menschlichkeit Europas auf dem Prüfstand stehe.
Besondere Aufmerksamkeit galt der Rolle Deutschlands beim Abkommen, das nach Ansicht der Kommentatoren die Verhandlungen dominierte. Polemisch wird von „massiven Vergeltungsmaßnahmen“ und dem „Triumph Deutschlands“ geschrieben. Schon vor dem Referendum wurde den deutschen Politikern vorgeworfen, ausschließlich für nationale Interessen einzutreten und seine dominante Position in Europa auszunutzen. Arroganz, Egoismus und Dominanz sind Charaktereigenschaften, die nicht selten im Zusammenhang mit Deutschland genannt werden. Nach der zweiten Vereinbarung und dem harschen Auftreten von Wolfgang Schäuble verstärkte sich diese Kritik. Den Deutschen wurde einerseits das Ziel einer „Low cost Finanzunion zu eigenem Vorteil“ unterstellt, andererseits ginge es ihnen um imperiales Streben, destruktive Wut, martialische Rache und die Demütigung Griechenlands und seiner Regierung.
Einige Kommentatoren versuchten sich in kulturellen Erklärungen des Verhaltens der deutschen Politiker in den Verhandlungen, bspw. sei der Begriff „Schuld“ im Deutschen mit moralischem Versagen verbunden, was die Wut auf Griechenland erkläre. Insbesondere Schäubles Vorschlag zum temporären Ausstieg Griechenlands aus der Eurozone wurde stark kritisiert – in einer Solidargemeinschaft könne ein Staat nicht den Rauswurf eines anderen fordern. Ein polemisches Gedankenspiel forderte den Rauswurf Deutschlands aus der EU, um deutsche Löhne zu erhöhen und die verbleibenden Länder wettbewerbsfähiger zu machen. Diesem Gedankenspiel liegt die in Portugal weit verbreitete Ansicht zugrunde, dass Deutschland seinen Nachbarländern durch zu hohe Exportraten und zu geringe Importe schade.
Griechenland dagegen wurde eher positiv dargestellt, als stolzes Volk, das der Macht des Geldes widerstehe, mutig Widerstand gegen das System leiste und mit erhobenem Kopf auf Konfrontationskurs gehe. Neben Sympathiebekundungen finden sich viele Verweise auf die griechische Kultur und die Bedeutung der Griechen für die europäische Geschichte. Über den gesamten Zeitraum der Analyse hinweg sind Wertappelle zu finden, die zur Solidarität mit Griechenland aufrufen und daran erinnern, wie viel Griechenland Europa hinsichtlich Kultur, geschichtlich und als Grenzposten der EU gegeben habe. Griechenland solle deshalb nicht allein finanziell betrachtet werden.
Auch lassen sich aber Kommentare finden, die Steuerflucht und nicht eingehaltene Versprechen gegenüber Europa thematisieren. Neben der sozialen Misere des Landes wurde v.a. auch das Risiko des Populismus in Griechenland angesprochen. Nach dem Referendum sei die Beziehung zu anderen EU-Ländern nachhaltig gestört. Das wichtigste sei aber, Griechenland bei Reformen zu helfen, innerhalb oder außerhalb des Euro, da die Schulden nicht zurückzuzahlen seien, was alle wüssten. Konservative Kommentatoren richteten ihre Kritik eher auf die griechische Regierung und nutzten die Gelegenheit zur Kritik an der portugiesischen Linken, die des Öfteren ihre Solidarität mit Griechenland geäußert hatte. Es sei eine verrückte Idee, dass Gläubiger ihr Geld nicht zurückhaben sollten, die Regierung sei radikal und würde alles zum Extremen führen, sie wolle eine Diktatur errichten, sei dement und fanatisch. Oftmals kommt eine solche Kritik an Syriza im Kontext von Kritik an der spanischen Podemos auf – eine im Hinblick auf den portugiesischen Wahlkampf interessante Verbindung – schaut die portugiesische Linke jenseits der Sozialdemokraten doch hoffnungsvoll auf die Entwicklungen in Spanien und Griechenland. Ein Scheitern linker Politik in Griechenland und Spanien stellt auch linke Alternativen in Portugal infrage. Von linker Seite wird v.a. das Tsipras’ Handeln nach dem Referendum als Betrug am eigenen Volk kritisiert.
Aber nicht alle Kommentare zur griechischen Regierung sind negativ. Relativiert werden solche Kommentare durch andere, die den geringen Handlungsspielraum der griechischen Regierung betonen. Die Situation Griechenlands sei aber weniger aussichtslos, als bspw. die Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg.
Auffällig wenige Kommentare ziehen aus der Griechenlandkrise direkte Schlüsse für Portugal. Hier reichen die Kommentare von Positionen, dass die EU wichtig für Portugal sei, bis hin zum Gegenteil: „Dieses Europa ist nicht mehr das unsrige“. Einerseits werden Solidaritätsbekundungen mit Griechenland kritisiert, andererseits solle sich Portugal aufgrund seiner eigenen Situation mehr für Griechenland einsetzen. Stattdessen stehe die konservative portugiesische Regierung auf Seiten der Gläubiger und versuche, die griechische Regierung zu schwächen. Portugal gewänne nichts aus der Griechenlandschelte und die portugiesischen Politiker stellten sich mit der Ablehnung von Schuldenerlassen auch gegen die Interessen der portugiesischen Bürger. Die Krise in Griechenland wird dazu genutzt, die Unsinnigkeit von Sparmaßnahmen und Portugals Rolle als Musterschüler zu reflektieren.
Es herrscht Wahlkampf in Portugal – und dieser lässt die Kommentatoren nicht unbeeinflusst: Während einige mit Hilfe des Griechenlandbeispiels argumentieren, dass eine radikale Linke Europa nicht regieren könne, stellen andere das bestehende Europa als Diktatur und Griechenland als Hoffnung auf Demokratie dar. Beunruhigen sollten uns aber v.a. die Kommentare zur deutschen Politik, die nicht selten in generalisierter Form als Deutschlandbild im portugiesischen Diskurs auftauchen. Innerhalb weniger Jahre der aktuellen Krise in Europa ist ein Stereotyp zurückgekehrt, das die Deutschen als kalt, egoistisch und wirtschaftlich kalkulierend zeichnet, während die deutsche Politik teilweise wieder als Bedrohung für Europa wahrgenommen wird.
Dr. Britta Baumgarten, Soziologin, arbeitet und lehrt am CIES-ISCTE- IUL (Lissabon, Portugal) zu Zivilgesellschaft und sozialen Bewegungen in Portugal und Brasilien. Sie war von 2008 bis 2011 Postdoc am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), von 2006-2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen und von 2001 bis 2004 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im EU-Forschungsprojekt „UNEMPOL“ an der Universität Bamberg.
Aktuelle Publikationen:
- Carmo Duarte, Mariana/ Baumgarten Britta (2015): Portugal. The Crisis and New Actors Against Austerity, European Green Journal, Special Issue “Connecting the Struggles”, Volume 11, June, 68-73.
- Baumgarten, Britta/ Daphi, Priska/ Ullrich, Peter (2014): Conceptualizing Culture in Social Movements, Palgrave Studies in European Political Sociology Series, Palgrave Macmillan.
- Baumgarten, Britta (2013): Geração à Rasca and Beyond. Mobilizations in Portugal after 12 March 2011, in: Current Sociology, 61, 4, July, 457-473.
[1] Der Diário de Notícias ist die wohl traditionsreichste und mit ca. 16.000 verkauften Exemplaren pro Tag auch eine der am weitesten verbreiteten Tageszeitungen Portugals. In den Kommentaren zur Griechenlandkrise ist eine große Bandbreite von Kommentatoren und Positionen auszumachen – auch wenn viele Kommentatoren eher dem konservativen Spektrum zuzurechnen sind. Neben eigenen Kommentatoren druckte die Zeitung auch übersetzte Kommentare aus der Financial Times, einen Kommentar des ehemaligen griechischen Finanzministers Varoufakis und Kommentare verschiedener Experten aus Universitäten und internationalen Institutionen, u.a. des IWF. Etwa achtzig Prozent der Kommentare im Analysezeitraum stammten von portugiesischen Kommentatoren. Sie geben einen vorläufigen Einblick, wie die erste „heiße Phase“ der Griechenlandkrise – von der Ankündigung des Referendums bis zur Abstimmung der ersten Auflagen des Hilfspakets im griechischen Parlament – in Portugal diskutiert wurde.