[kommentiert]: Jöran Klatt über den Eurovision Song Contest als politischen Wettbewerb
Das Präludium des „Te Deum“ von Marc-Antoine Cherpentier ist eine jener Melodien, die fast jeder kennt, aber kaum jemand korrekt benennen kann. Man hat sie noch von der Sendung „Wetten, dass…?“ im Ohr: Vor der Ausstrahlung dieses Lagerfeuers der Nation markierte sie, flankiert von pompösen Sternen, dass das, was nun folgt, Eurovision sei, also ein Teil des gemeinsamen Projekts europäischer Rundfunkanstalten. Eurovision wollte schon immer mehr sein als einfach nur Fernsehen mit einem etwas größeren Absatzmarkt; vielmehr stand es seit jeher synonym für die Idee einer vereinten Öffentlichkeit Europas. Und so verhält es sich auch mit dem größten eurovisionären Vorhaben, das seit 1956 wiederkehrend die Nationen vereinen soll: dem „Eurovision Song Contest“.
Der ESC, wie der Wettbewerb meist kurz genannt wird, hat sogar etwas Utopisches an sich. Es geht um die Idee, Länder und deren Kulturräume über Musik in Begegnung zu bringen: Sie sollen friedlich miteinander konkurrieren und dabei einander (sich selbst darf ein Land keine Punkte geben) Punkte zusenden, sich also gewissermaßen gegenseitig medial berühren. Man könnte den ESC gar eine Verkörperung des Projekts der Moderne nennen. Denn besonders das Kernpublikum ist vom Grundgedanken her positiv eingestellt und blickt optimistisch nach vorne und in die Zukunft. Das bunte Spektakel und die Künstlerinnen und Künstler, die beim ESC reüssieren, scheinen eine eindeutige Sprache zu sprechen. Wenn Tom Neuwirth als seine Kunstfigur „Conchita Wurst“ in der Siegesrede sagt: „We are unstoppable!“, hört man diesen utopischen Charakter, der Telos und Communitas einschließt, deutlich heraus. Insbesondere die LGBT-Community [1] feiert den ESC. Immer wieder werden dort Zeichen für Toleranz und Freiheit gesetzt, besonders in Bezug auf sexuelle Orientierung oder Identität. Fast ist man also geneigt, den Wettbewerb als rundum progressiv einzuschätzen – wenn da nicht auch diese andere Seite wäre.
Der ESC bildet Jahr für Jahr auch eine Projektionsfläche für die Probleme der Gegenwart; er ist also im wahrsten Sinne des Wortes eine diskursive Öffentlichkeit – und auch das macht ihn zur Utopie. Denn in den letzten Jahren ist neben den Siegeszügen des Bunten deutlich geworden, dass es stets Widerstände, Proteste und Alternativen zu den Alternativen gab, z.B. wurde der Travestiekünstler mit all seiner Symbolkraft für ein spezifisches Publikum auch gegen jemand anderen gewählt. Dieses Andere ist hier aber nicht nur die Imagination einer Community, die einen Gegner braucht, um sich ihrer selbst zu vergewissern und nach außen abzugrenzen. Es gibt sie tatsächlich, die politischen Friktionen innerhalb eines Wettbewerbs, in dem es doch oberflächlich „nur um Musik“ geht. Der Contest ist somit auch eine Parabel auf das politisch wankende Europa, auf anhaltende und neue Konflikte.
Dabei ist sexuelle und religiöse Identität kein neues Thema beim ESC: Bereits als die Transsexuelle Dana International mit ihrem Song „Diva“ 1998 den Contest gewann, erregten sich die religiösen Gemüter in ihrer Heimat Israel, jenem Land, wegen dessen Teilnahme am ESC arabische Länder innerhalb der europäischen Rundfunkunion wiederum bis heute nicht bereit sind, überhaupt an dem Contest zu partizipieren.
Ein ebenfalls wiederkehrender Konflikt: die Balkanstaaten, gegen die jedes Jahr aufs Neue der Vorwurf des „Blockvotings“ erhoben wird. Gemeint ist damit, dass sich Länder, die einen Kulturraum teilen, gerne gegenseitig Punkte zuschieben und sich somit einen Vorteil verschaffen würden. Die Forschung hat diese Stimmpräferenzen zwar an Einzelfällen (z.B. zwischen Zypern und Griechenland) gezeigt, aber nie zweifelsfrei nachweisen können, dass diese Strategie tatsächlich Auswirkungen auf das Gesamtergebnis habe.[2] Gleichwohl gibt es mittlerweile Regularien in den Vorentscheidungen, die verhindern sollen, dass es überhaupt zu diesem „Blockvoting“ kommt; bspw. werden die Balkanstaaten in den zwei Vorentscheiden aufgeteilt. Generell wird der ESC allerdings immer wieder für solche vermeintlich oder tatsächlich benachteiligenden Praktiken kritisiert. Insbesondere die Türkei verweigert sich seit 2013 der Teilnahme, u.a. wegen der sogenannten „Big-Five-Regelung“, der zufolge die Vertreter der fünf größten Rundfunkanstalten (Deutschland, Frankreich, das Vereinigte Königreich, Spanien und Italien) automatisch für die Endrunde gesetzt sind.
In den letzten Jahren spitzten sich die Konflikte erneut zu: 2009 wurde der Contest nach dem Vorjahressieg des russischen Sängers Dima Bilan in Moskau ausgetragen. Traditionell finden am Austragungsort vor dem ESC öffentliche Feierlichkeiten von Schwulen und Lesben statt – in der russischen Hauptstadt es kam es infolgedessen zu Verhaftungen.[3] Bilans eigene Positionen in dieser Frage sind übrigens ambivalent: 2012 unterzeichnete er zwar einen offenen Brief, der die russische Gesetzgebung gegen „homosexuelle Propaganda“ anprangerte.[4] Gleichwohl kritisierte er ein Jahr später, dass ausländische Künstler den Wettbewerb häufig nutzen würden, um sich „von der Bühne aus an unsere Minderheiten [zu] wenden.“ Bilan weiter: „Unsere Künstler kommen bei Konzerten im Westen ohne Predigten aus.“[5]
2014 traten für Russland in Kopenhagen die Zwillinge Anastasija und Marija Tolmatschowa mit ihrem Song „Shine“ an, einem unpolitischen Lied – dennoch genügte die bloße Herkunft der beiden, um sich im Rahmen der Krimkrise lautstarke Buhrufe einzuhandeln. Auch in Deutschland stellte man sich die Frage, ob es legitim sei, sich für die „Unschuldszwillinge“ zu begeistern oder gar für sie anzurufen.[6] Dabei stehen sie – wie auch die 2015 angetretene Polina Gagarina oder Sergej Lazarev, der den russischen Beitrag für das Jahr 2016 singen wird –, wenngleich vielleicht nicht willentlich-wissend, doch mindestens durch ihr Auftreten so interpretierbar für die ästhetische Verkörperung des neokonservativen Russlands unter Putin: Sie sind allesamt jung, sympathisch, (hetero)sexy und gerade im Musikalischen betont zurückhaltend.
Bilans Äußerung, die erstaunlich an die Rhetorik Wladimir Putins erinnert, zeigt: Es gibt ein russisches Gefühl der Beeinflussung von außen, eine Abwehrhaltung gegenüber dem Westen. Dabei nimmt Putin gern eine erhabene, (vermeintlich) unpolitische Position ein, um dem Westen eine neokoloniale Haltung vorzuwerfen. Die Leidtragenden sind allerdings zumeist die Künstlerinnen und Künstler. Die Buhrufe gegen die Tolmatschowa-Schwestern zeigen, dass sie sich kaum noch dem Verdacht, politische Repräsentanten zu sein, entziehen können. Dass Russland in den letzten Jahren die landesinternen Vorentscheidungen abgeschafft und die Auswahl des/der eigenen Kandidaten/Kandidatin zur internen Angelegenheit des pervy kanal, des Staatsfernsehens gemacht hat, verstärkt diese Skepsis nur umso mehr.
Lazarevs Song „You’re the only one“ ist ein unpolitisches, tanzbares Liebeslied, gesungen von einem Mann, der die Globalisierung westlicher Schönheitsideale verkörpert. Obwohl Lazarev so erstaunlich westlich wirkt, war er bisher nur in Russland bzw. im russischen Kulturraum bekannt. Dieser scheint nach der Westorientierung in den 1990er Jahren wieder vermehrt eigene Superstars zur produzieren und diese nun paradoxerweise als Spiegelbild der vormals dort begründeten Muster in den Westen zu exportieren. Einerseits erscheint dieses Russland im utopisch aufgeladenen ESC also irgendwie deplatziert, andererseits haben die russischen KünstlerInnen in den letzten Jahren stets sehr erfolgreich abgeschnitten und Lazarev wird 2016 sogar als einer der großen Favoriten gehandelt. Der ESC besteht eben aus einer größeren Community als jener, die sich zu ihrer Kernbelegschaft erklärt hat. Sie wird damit leben müssen, dass der Wettbewerb ein heterogener Kulturkonflikt bleibt, in dem sich neben Progressiven auch Konservative selbstbewusst dazugesellen: Einen fairen Umgang haben auch sie verdient.
2016 geht für die Ukraine die Krimtatarin Jamala mit ihrem Song „1944“ ins Rennen. Für Russland ein weiterer Affront, handelt das Lied doch von der Deportation der Krimtataren durch Josef Stalin. Die griechische Band „Argo“ hat übrigens angekündigt, 2016 ein Lied über die Situation Griechenlands in der Finanz- und Flüchtlingskrise zu singen. Der ESC bleibt also (auch) ein politischer Wettbewerb. Das ist gut so, denn vielleicht werden solche rituellen Formen im politischen Europa unterschätzt. Formalia wie die stakkatoartig wiederholten Höflichkeitsfloskeln bei der Punktevergabe („Thank you, Germany, for the show and being such a wonderful host“) sind in Zeiten von Flüchtlings-, Finanz- und Russlandkrise auch sinnstiftende symbolische Umgangsformen und Erinnerungen an den Mythos Europa als Miteinander von sehr unterschiedlichen Menschen und Lebensformen: eben eine Eurovision.
Jöran Klatt arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung und promoviert an der Uni Hildesheim.
[1] LGBT steht für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender.
[2] Millner, Ralf; Stoetzer, Matthias-Wolfgang; Fritze, Christina; Günther, Stephanie: Fair oder Foul? Punktevergabe und Platzierung beim Eurovision Song Contest, Jenaer Beiträge zur Wirtschaftsforschung, (2015) Heft. 2.
[3] Russland: Moskaus Polizei nimmt Schwule vor Song Contest fest, in: Zeit Online, Tagesspiegel, 16.05.2009, http://www.zeit.de/news/artikel/2009/05/16/2799414.xml [14.03.2016].
[4] http://www.pinknews.co.uk/2015/04/05/exclusive-bbc-cuts-gay-rights-protest-from-eurovision-anniversary-show/ [14.03.2016]. http://sputniknews.com/russia/20121220/178294940.html [14.03.2016].
[5] http://www.queer.de/detail.php?article_id=18765 [14.03.2016].
[6] Maier, Jens: Da steht nicht Putin auf der Bühne, in: Stern 7.5.2014, http://www.stern.de/kultur/musik/eurovision-song-contest/russland-wird-zum-politikum-des-esc-da-steht-nicht-putin-auf-der-buehne-3707858.html [14.03.2016].