[analysiert]: Anne-Kathrin Meinhardt über die Atompolitik in Frankreich fünf Jahre nach Fukushima
Im März 2011 ereignete sich die Reaktor-Katastrophe von Fukushima. Noch im selben Jahr beschloss die Bundesregierung den Ausstieg aus der Atomenergie und läutete damit die deutsche Energiewende ein. In Frankreich dagegen sind die atompolitischen Veränderungen bis heute weitaus geringer ausgefallen. Fünf Jahre nach dem Atomunfall in Japan soll deshalb ein Blick auf die energiepolitischen Entwicklungen in unserem französischen Nachbarland geworfen werden.
Mit insgesamt 58 aktiven Reaktoren verfügt Frankreich weltweit über den größten Anteil an Atomkraftwerken pro Einwohner.[1] Die Kernenergie hat für das Land eine essenzielle, historisch gewachsene Bedeutung. Allerdings betrifft das nicht nur die Energieversorgung: Die „militärische und zivile Nutzung der Atomkraft [sind] siamesische Zwillinge – also untrennbar miteinander verbunden.“[2]
Im Jahr 2011, zum Zeitpunkt des japanischen AKW-Unglücks, lag der Anteil der französischen Atomkraft bei der Stromerzeugung bei etwa 75 Prozent – derjenige bei erneuerbaren Energien hingegen nur bei 16 Prozent. Der konservative Präsident Nicolas Sarkozy antwortete auf die Fukushima-Katastrophe demonstrativ mit einer Laufzeitverlängerung der AKW auf über vierzig Jahre.[3] Seine Argumentation: Die Kernenergie sei die preiswerteste Lösung für die Wirtschaft, um sich mit Energie zu versorgen. Historisch betrachtet führte er damit eine Politik fort, welche die Atomenergie zur zentralen Energiegewinnungsform in Frankreich gemacht hatte. Seit der Präsidentschaft von Charles de Gaulle Ende der 1960er Jahre war das Ziel der französischen Außen- und Sicherheitspolitik, die (energetische) Unabhängigkeit des Landes zu wahren und die Nation zu schützen – beides mithilfe der Atomkraft.[4] Ungeachtet dieser staatstragenden Argumente stieg auch die Kritik an der Atomenergie in Gestalt von Protesten der Ökologiebewegung.
Der Sozialist François Hollande, der ein Jahr nach der Nuklear-Katastrophe zum neuen Präsidenten in Frankreich gewählt worden war, hatte bereits im Wahlkampf für den Bereich der Atomenergie Veränderungen angekündigt. Als Staatschef berief er dann ein nationales Diskussionsforum zur Energiewende mit unterschiedlichen Interessengruppen ein, das einen gesellschaftlichen Konsens zur künftigen energiepolitischen Strategie erarbeiten sollte.[5] Im März 2015 wurde schließlich das Energiewendegesetz verabschiedet, das einige Neuheiten enthielt: Unter anderem soll der Anteil der Atomkraft am Energiemix von 75 Prozent auf fünfzig Prozent verringert werden.[6] Demnach hat sich ein politischer Richtungswechsel im Land der Atomkraft vollzogen, den es beim Unglück von Tschernobyl noch nicht gegeben hatte.
Die Gründe für diese atompolitischen Reaktionen in Frankreich sind vielschichtig. Seit sechzig Jahren ist die Kernenergie ein wichtiger Teil der Wirtschaft – die Atombranche ist immerhin der drittgrößte Industriesektor Frankreichs – und hat somit lange Zeit über die parteipolitischen Lager hinweg den Konsens in der Energiepolitik geprägt. Einerseits gilt der Atomsektor als sehr geschlossen; andererseits ist er mit anderen Bereichen wie bspw. dem Banksektor, weiteren Industriezweigen und dem Staat eng verstrickt. So profitiert zwar die Wirtschaft von der Atom-Expertise, den Arbeitnehmern und der Produktion, aber gleichzeitig lenkt der Staat die Vorhaben, um die nationale Energieversorgung und Sicherheit zu gewährleisten.
Trotz Protesten blieb die Zustimmung zu dieser Energieform lange ungebrochen.[7] Dies kann mit der historischen Pfadabhängigkeit erklärt werden: „Ideologische […] Unnahbarkeit“[8] und das politische System erschweren Veränderungen. Sarkozy blieb diesem Standpunkt treu. François Hollande dagegen ging neue Wege und versuchte, das System zu öffnen. Er reagierte damit auch auf die kritische Haltung der Bürger gegenüber der Kernenergie, die sich in den letzten Jahren verstärkt hatte: Hatten vor der Katastrophe von Fukushima noch etwa zwei Drittel der Franzosen die Atomenergie befürwortet,[9] so änderte der Unfall das Meinungsbild, sodass im April 2012 bereits 83 Prozent der Befragten den Kernenergieanteil reduziert sehen wollten.[10] Aber auch die Ökologiebewegung hat Spuren hinterlassen – Fessenheim im Elsass kann dabei als exemplarischer Ort für regionalen Widerstand gesehen werden. Allerdings scheint inzwischen der erste Schock überwunden zu sein, sodass die Zahl der Atombefürworter wieder gestiegen ist.[11] Dies liegt nicht nur an der verstrichenen Zeit seit dem Unglück von Fukushima, sondern auch daran, dass viele Arbeitsplätze mit der Atomlobby verknüpft sind. Zudem spielen für die Franzosen Energiekosten eine sehr wichtige Rolle – Atomenergie ist die günstigste Energieform.
Trotz inzwischen wieder nachlassender Atomkritik ist der energiepolitische Wandel in der Gesellschaft und in Teilen der Politik angekommen – in der Wirtschaft dagegen noch nicht.[12] Verglichen mit Deutschland kann in Frankreich keineswegs von einer Energiewende gesprochen werden; dafür sind die Veränderungen noch zu gering. Gemessen jedoch an der historischen Entwicklung und dem nationalen Stellenwert der Kernenergie im Land hat sich in Frankreich durchaus ein Richtungswechsel hin zu einer Energiewende vollzogen.
So verkündete die französische Ministerin Emmanuelle Cosse vor wenigen Tagen, dass Präsident Hollande das älteste französische und am stärksten kritisierte AKW in Fessenheim angesichts lokaler und internationaler (v.a. deutscher) Proteste nun doch bereits Ende 2016 vom Netz nehmen wolle.[13] In dieser Entscheidung manifestiert sich der genannte atompolitische Richtungswechsel in Frankreich. Die aktuellen Geschehnisse in Fessenheim zeigen freilich, dass dafür zuletzt immer wieder externe Einflüsse wie z.B. besondere Vorfälle oder internationale Vorgaben entscheidend gewesen sind. Aufgrund dieser Vorkommnisse verringert sich in Frankreich allerdings die gesellschaftliche Akzeptanz der Kernenergie, wodurch der Druck auf die politisch Verantwortlichen steigt.
Anne-Kathrin Meinhardt ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. In ihrer Bachelor-Arbeit hat sie sich mit dem Wandel der Atom-Politik in Frankreich beschäftigt.
[1] Vgl. Royal, Ségolène: La transition énergétique. Un nouveau modèle énergétique français, 18.06.2014, URL : http://www.developpement-durable.gouv.fr/IMG/pdf/140618_Document_Nouveau_modle_nergtique.pdf, S. 21, [eingesehen am 10.03.2016].
[2] Mez, Lutz: Perspektiven der Atomkraft in Europa und global, in: Piepenbrink, Johannes (Hrsg.): Ende des Atomzeitalters? Von Fukushima in die Energiewende, Bonn 2012, S. 51-66, hier S. 59.
[3] Siehe Le monde.fr: La durée de vie des centrales nucléaires françaises prolongée, in: Le monde.fr, 12.02.2012, URL: http://www.lemonde.fr/election-presidentielle-2012/article/2012/02/12/sarkozy-va-prolonger-la-duree-de-vie-des-centrales-francaises_1642284_1471069.html [eingesehen am 07.03.2016].
[4] Siehe Kempin, Ronja: Ziele und Instrumente der Außen- und Sicherheitspolitik. Preisgabe des gaullistischen Erbes?, in: Kimmel, Adolf (Hrsg.): Länderbericht Frankreich, Bonn 2012, S. 318-335, hier S. 320; Mallevre, Alain: L’histoire de l’énergie nucléaire en France de 1895 à nos jours. CEA, März 2007, S. 11.
[5] Vgl. Rüdinger, Andreas: Die Energiewende in Frankreich: Aufbruch zu einem neuen Energiemodell?, in: Friedrich Ebert Stiftung (Hrsg.): Internationale Politikanalyse, Berlin 2014, S. 3-9, hier S. 4.
[6] Vgl. Le Hir, Pierre: Que contient la loi sur la transition énergétique?, in: LeMonde.fr, 01.10.2014, URL: http://www.lemonde.fr/planete/article/2014/10/01/les-principales-mesures-du-projet-de-loi-sur-la-transition-energetique_4498549_3244.html [eingesehen am 07.03.2016].
[7] Siehe Evrard, Aurélien: Contre vents et marées. Politiques des énergies renouvelables en Europe, Paris 2013, S. 201 f.
[8] Hillengaß, Christian: Atomkraft und Protest. Die politische Wirkung der Anti-AKW-Bewegung in Deutschland, Frankreich und Schweden, München 2011, S. 77.
[9] Siehe Ministère de l’écologie, du développement durable et de l’énergie: Le risque nucléaire, 11.05.2012, URL: http://www.statistiques.developpement-durable.gouv.fr/lessentiel/ar/1974/1097/risque-nucléaire.html [eingesehen am 07.03.2016].
[10] Siehe Dabi, Frédéric/Lacroix-Lanoe, Cécile: Les Français et la sortie du nucléaire. Avril 2011. Ifop 2011, Nr. 19432, Umfrage.
[11] Fourquet, Jérôme/Pratviel, Esteban: Les Français et le nucléaire. Résultats détaillés. Juin 2013. Ifop pour Dimanche Ouest France, Nr. 111359, Umfrage, 2013, URL: http://www.ifop.com/media/poll/2275-1-study_file.pdf [eingesehen am 10.03.2016].
[12] Siehe Denhez, Frédéric: Nucléaire. Le vrai du faux, Paris 2013, S. 148.
[13] Siehe o.V.: AKW in Frankreich: Fessenheim soll noch 2016 vom Netz, in: Spiegel Online, 07.03.2016, URL: http://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/frankreich-akw-fessenheim-soll-noch-dieses-jahr-schliessen-a-1080943.html [eingesehen am 07.03.2016].