„Es war die einzige Option.“

[nachgefragt]: Jochen Ott über die bevorstehende NRW-Wahl.

Jochen Ott, stellvertretender Vorsitzender der SPD Nordrhein-Westfalen, blickt zurück auf die Regierungsbildung im Sommer 2010, reflektiert das politische Experiment einer Minderheitsregierung und sagt, welche entscheidende Frage die Piraten nach der Wahl beantworten müssen.

War es aus heutiger Sicht richtig, 2010 eine Minderheitsregierung einzugehen?

Es war auf jeden Fall die richtige Entscheidung, weil viele wichtige Entscheidungen für Nordrhein-Westfalen in den zwanzig Monaten getroffen wurden. Ich glaube, wir haben in NRW noch nie eine Regierung gehabt, die in zwanzig Monaten so viele Gesetze, Initiativen und Entscheidungen getroffen hat; und den Mut zu haben, dies auch in einer Minderheitsregierung zu wagen, war schon wichtig und richtig.

Eine engere Zusammenarbeit mit der LINKEN wurde mit Verweis auf deren Regierungsunfähigkeit zurückgewiesen. Wäre eine feste Tolerierung mit einer Partei nicht dennoch für die Minderheitsregierung stabiler gewesen?

Wäre es sicherlich nicht, weil die LINKE in der Art und Weise, wie sie aufgestellt ist in Nordrhein-Westfalen, vollkommen unberechenbar ist. Es gibt da eine Reihe von Leuten, mit denen man durchaus reden kann, aber dann gibt es andere, die sind quasi nicht erreichbar für Argumente und man braucht in einer Regierung im größten Bundesland der Bundesrepublik schon Verlässlichkeit darin, dass einmal ausgemachte Dinge auch gelten. Viele Linksfraktionen in den Kommunalparlamenten, mit denen man gute Absprachen treffen kann, haben da positive Erfahrungen gegeben, aber im Land war ganz klar: Mit dieser Linksfraktion, auch mit dieser Diskussion zwischen Partei und Fraktion, die die intern ständig haben, war es nicht möglich. Von daher war es richtig, den Weg zu versuchen, den wir gegangen sind, und bei den Themen, die auch CDU und FDP interessieren, auch deren Unterstützung zu gewinnen.

Warum gab es keine dauerhafte Tolerierung durch eine andere Fraktion?

Das war nicht möglich. Die CDU war in keiner Weise in der Lage, die Wahlniederlage zu verdauen. Sie war nicht in der Lage nach vorne zu gucken und es war ganz schwierig mit Jürgen Rüttgers überhaupt Verhandlungen zu führen, weil das Verständnis für eine ganze Reihe von Punkten einfach nicht da war. Die FDP hatte sich so in ihrer Ideologie gefangen, dass insbesondere die Fraktionsspitze der Partei damals denjenigen, die ich mal sozialliberal nennen will, die versucht haben sich zu öffnen, im Grunde genommen das Wasser sofort abgegraben haben. Von daher gab es diese Option nicht und die LINKE war aus meiner Sicht auch in den Gesprächen vollkommen inakzeptabel aufgestellt – mit Positionen, die man vielleicht irgendwann in Geschichtsseminaren linkstheoretisch ausdiskutieren kann, die aber für eine Regierung im größten Bundesland einfach inakzeptabel sind und die allen anderen Demokraten stark geschadet hätten. Deshalb gab es damals keine andere Option. Was allerdings durch die Minderheitsregierung gelungen ist, ist, dass durch diese nicht-fixierte Tolerierung von einer Partei viele Gespräche stattfinden mussten. Das war sehr anstrengend, weil man für die vielen Gesetzesvorhaben ständig versuchen musste, Mehrheiten zu organisieren. Aber es hat sich gelohnt, weil unter dem Strich in den zwanzig Monaten so viele Entscheidungen wie nie zuvor in Nordrhein-Westfalen getroffen wurden.

Woran ist es aus ihrer Sicht schlussendlich gescheitert?

Der Historiker Fritz Fischer hat über den Ersten Weltkrieg gesagt, alle sind so hineingeschlittert. Und ich persönlich glaube, dass das für FDP und LINKE auch gilt. Sie sind in die Neuwahlen hineingeschlittert. Bis zum Schluss haben sie nicht geglaubt, dass Hannelore Kraft dann am Ende das auch durchziehen würde. Noch an dem Mittwochmorgen haben die Mitarbeiter unserer Abgeordneten SMS und Mails geschrieben: Keine Sorge, es werden wieder zwei aufs Klo gehen. Das war aber am Ende nicht mehr der Fall, weil Hannelore Kraft ganz deutlich gemacht hat, dass sie sich nicht und wir uns als SPD nicht erpressen lassen. Da hat die Fraktion einstimmig dahinter gestanden und von daher waren Neuwahlen der einzige Weg, nachdem FDP und LINKE sich an der Stelle verspekuliert hatten.

Wie gestalteten sich die Gespräche in der SPD-Fraktion nach dem Eintreffen des Verwaltungsgutachtens und war die Neuwahl die einzige Option, die diskutiert wurde?

Es war die einzige Option. Zu dem Zeitpunkt gab es schlichtweg keine andere. Rein rechtlich betrachtet ist das Gutachten der Landtagsverwaltung sehr zu bezweifeln. Ich glaube, in einer anderen Situation, die nicht so angespitzt und so kurzfristig gewesen wäre, hätte man andere Professoren sicherlich zu Rate gezogen, aber in dieser Situation wäre der Eindruck entstanden, man würde sich in eine Rechtsdiskussion flüchten, und da ist unsere Ministerpräsidentin ganz klar: klare Kante. Da haben wir auch gemeinsam gesagt, wir wollen öffentlich nicht noch wochenlang ausdiskutieren, ob es noch andere Rechtsauffassungen gibt. Jeder Bürger weiß: Zu jeder rechtlichen Frage gibt es mindestens fünf verschiedene Rechtsanwälte mit siebenundzwanzig verschiedenen Meinungen. Aber es ist schon sehr bedenklich, dass eine solche Entscheidung so kurzfristig und dann mit einer so zweifelhaften rechtlichen Stellungnahme dann stattgefunden hat. Aber als sie nun mal im Raum war und im Ältestenrat andiskutiert worden ist, war klar, wenn das so ist, wird man das innerhalb von vierundzwanzig Stunden jetzt nicht hinterfragen können.

Klares Ziel von SPD und Grünen ist eine gemeinsame Mehrheit für die nächste Legislaturperiode. Welche Koalitionen wären denkbar, wenn dieses Ziel verfehlt werden sollte?

Die SPD setzt darauf, dass wir mit den Grünen zusammen weiterregieren können, da wir eine erfolgreiche Regierung waren. Wir sind zwei unterschiedliche Parteien, wir haben zwei unterschiedliche Schwerpunkte, aber wir haben – gerade angesichts der nordrhein-westfälischen Erfahrungen in der Vergangenheit – eine gute Regierung gebildet. Wenn das nicht reichen sollte, dann wird man – wie beim letzten Mal auch – Gespräche mit allen Parteien führen müssen und man muss sich ein Bild machen. Ich hoffe, dass es nicht so kommt, ich hoffe, dass die Menschen mit Mehrheit die rot-grüne Regierung im Amt bestätigen, aber wenn, dann ist es in der Demokratie so üblich, muss man mit allen reden und dann muss man sehen: Wo gibt es inhaltlich die größten Schnittmengen? Und vorauszusehen, was daraus wird – das wäre viel zu früh. Das wird dann im Laufe von einigen Wochen in vielen Gesprächen, die systematisch vorzubereiten sind und wo systematisch sozialdemokratische Inhalte abgeprüft werden, zu entscheiden sein.

Auch in Nordrhein-Westfalen haben die Piraten sehr gute Chancen in den Landtag einzuziehen. Wie wird die SPD mit den Piraten umgehen?

Ich habe sowas noch nie in meinem politischen Leben erlebt – weder zu Juso-Zeiten noch in den letzten elf Jahren als Parteivorsitzender –, dass eine Partei und Vertreter einer Partei in Podiumsdiskussionen den ganzen Abend sagen: „Dazu haben wir keine Meinung, dazu haben wir noch keine Meinung, das müssen wir uns noch erarbeiten, das wissen wir noch nicht so genau.“ Ich finde: Das ist wirklich ein Phänomen und zeigt ein bisschen, wie der Zustand der Demokratie in der Bundesrepublik ist, wenn man tatsächlich gewählt wird, weil man keine Antwort weiß. Wir sogenannten etablierten Politiker diskutieren auch sehr oft, an welchen Stellen wir überhaupt noch Lösungen haben angesichts von komplexen Themen und ganz dicken Brettern, die man bei Verwaltungen und Bürokratien bohren muss, um Themen wirklich nach vorne zu bringen; aber wir haben die Verantwortung, den Menschen zu sagen, wofür wir stehen. Und wenn ich den Menschen nicht mehr sagen kann, wofür ich stehe, sondern ständig sage: „Weiß ich noch nicht, muss ich noch drüber nachdenken“, dann habe ich damit große Bauchschmerzen. Ich bin sehr gespannt, wie lange die Piraten das durchhalten. Sie werden im Landtag dann einfach abstimmen müssen. Sie werden sich dann nicht bei jeder zweiten oder dritten Entscheidung enthalten können, sondern sie werden klar sagen müssen: Sind sie dafür oder sind sie dagegen. Und sie werden irgendwann auch die Frage beantworten müssen: „Wer bezahlt das?“ Ich war schon als Juso dafür, ÖPNV kostenlos für alle zu machen. Nur am Ende muss ich halt als Politiker Entscheidungen treffen: Bezahl ich mehr Lehrer in der Schule, bezahle ich Freifahren für alle oder bezahle ich dafür, dass unsere Straßen und Brücken in Stand gehalten werden? Es sind ganz viele wichtige Aufgaben und Pipi-Langstrumpf-Parteien, nach dem Motto „widewidewitt, ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“ – davon haben wir schon genug gehabt in der Vergangenheit. Ich finde, zu Politikverdrossenheit gehört auch, den Menschen Sachen zu versprechen, von denen man weiß, dass sie niemals kommen. Das geht nicht.

Das Interview führte Felix M. Steiner.

Jochen Ott ist stellvertretender Vorsitzender der SPD Nordrhein-Westfalen.