Eiszeit in der einstigen sozialdemokratischen Hochburg Schweden

[analysiert]: Jens Gmeiner über die Krise der schwedischen Sozialdemokratie nach dem Rücktritt des Parteivorsitzenden Håkan Juholt.

Eigentlich sind die Temperaturen für diese Jahreszeit in der schwedischen Hauptstadt Stockholm relativ mild. Auf knapp zwei Grad unter null beläuft sich die Tagestemperatur im „Florenz des Nordens“. Während der schwedische Winter sich also bisher von seiner milden Seite zeigt, durchzieht eine nie da gewesene eisige Kaltfront die wohl erfolgreichste sozialdemokratische Partei des letzten Jahrhunderts. Die einst stolze und ruhmreiche schwedische sozialdemokratische Arbeiterpartei (SAP) steht vor der schwersten Krise ihrer Geschichte. Die Partei von Olof Palme und Tage Erlander gab am 21. Januar 2012 bekannt, dass Håkan Juholt, der erst im März des Vorjahres neu gewählte Parteivorsitzende, zurücktreten werde. Kein Parteivorsitzender in der SAP war nur so kurz im Amt. Während seine Vorgängerin Mona Sahlin immerhin vier Jahre amtierte und nach heftiger interner Kritik als Folge der katastrophalen Wahlniederlage im November 2010 ihren Rücktritt ankündigte, brachte es Juholt auf gerade einmal zehn Monate. Ein deutlicheres Zeichen für den Niedergang der ehemaligen Staatspartei Schwedens dürfte es wohl nicht geben.

Dabei begann alles so hoffnungsvoll. Juholt hatte sich nach mehrmonatigen Streitigkeiten und politischen Ränkespielen gegen seine rechtslastigen Konkurrenten aus dem „Stockholmer Parteiadel“ durchgesetzt. Der schnauzbärtige Verteidigungspolitiker aus der Provinz Kalmar, den mancher aus der politischen und journalistischen Branche aufgrund seines Oberlippenbartes als „Pizzabäcker von Oskarshamn“ bezeichnete, stand anfangs für eine traditionelle Ausrichtung der SAP. Die Basis jubelte und schöpfte Hoffnung auf einen politischen Neuanfang mit klaren sozialdemokratischen Konturen.

Nach der Wahlniederlage der SAP im September 2010, als die schwedischen Sozialdemokraten nur noch hauchdünn vor den regierenden Konservativen standen, ertönte der Ruf nach einem klaren Schnitt mit der Modernisierungspolitik unter Mona Sahlin. Diese hatte in ihrer Amtszeit nicht nur vergeblich versucht, den schwerfälligen Parteitanker organisatorisch und programmatisch zu erneuern, sondern hatte auch zum ersten Mal in der Geschichte der SAP im Vorfeld eine Koalition mit Grünen und Linkspartei vereinbart. Am Wahlabend des 19. September 2010 havarierte dann der Parteitanker an der Wahlurne, obwohl dieser schon seit Beginn der 1990er Jahre strukturell an allen Seiten leckt.

Nicht nur die Beziehungen zum mächtigen Dachgewerkschaftsverband LO sind brüchiger geworden, sondern auch die Bindungen zu großen Teilen der Bevölkerung. Während die SAP in den Industriegürteln Mittelschwedens und im Norden immer noch eine 40-Prozent-Partei ist, verliert sie in den prosperierenden, bevölkerungsreichen Großstädten im Süden an Rückhalt. Dort dominieren die Grünen und vor allem die liberalkonservativen Moderaten, die den Sozialdemokraten mit ihren leistungsorientierten, individuellen Vorstellungen deutlich den Rang einer Volkspartei streitig machen. Zudem fischen die rechtspopulistischen Schwedendemokraten im Wählermilieu der SAP und konnten bei der Wahl 2010 auch mit Hilfe ehemaliger Stammwähler der SAP in das Parlament einziehen. Das einstige Volksheim (folkhemmet), das metaphorisch den umfassenden, sicheren Wohlfahrtsstaat umschreibt, erodiert seit Anfang der 1990er Jahre auf kultureller, ökonomischer und soziostruktureller Basis – und die schwedische Arbeiterpartei erodierte dabei unaufhaltsam mit.

Viele deutsche Sozialdemokraten haben reflexartig immer wieder ihre Blicke nach Schweden gerichtet, wenn sie eine bessere Gesellschaft, eine beispiellose sozialdemokratische Erfolgsgeschichte sehen wollten. Aber nach den Wahlniederlagen im Jahr 2006 und 2010 befindet sich die viel erfolgreichere sozialdemokratische Partei nunmehr im Nachbarland Norwegen. Die Krise der SAP ist aber nicht nur struktureller Natur, sondern basiert vor allem auf strategischen Fehlern, Fehlentscheidungen und innerparteilichen Streitigkeiten sowie hintergründigen Ränkespiele um die Macht in der Partei. Schon die Wahl von Håkan Juholt glich eher einem Politikzirkus als einer zukunfts- und politikorientierten Entscheidung. Juholt brachte dies auch beiläufig bei seiner Rücktrittsankündigung zur Sprache, als er ausführte: „Ich suchte dieses Amt nicht, es wurde mir angeboten.“

Juholt war der Kandidat der geographischen und politischen Peripherie, deren Distrikte einen weiteren Kandidaten aus Stockholm verhindern wollten. So schlossen sich sehr heterogene Distrikte in Schweden zusammen, um ihren Kandidaten durchzuboxen. Obwohl Juholt stärker als Mona Sahlin in der Basis verankert war und als Vertreter der industriellen Hochburgen in Schweden gute Beziehungen zu den Gewerkschaften aufweisen konnte, besaß er selbst kein klares Mandat in den Parteidistrikten. Zudem hatte Juholt keine Regierungserfahrung und galt im Stockholmer Politikbetrieb eher als Außenseiter. Die Wahl Juholts, den eigentlich niemand vorher auf der Liste hatte, entfachte jedenfalls im Hintergrund kontinuierlich Brandherde in der Partei, die nur auf einen Brandbeschleuniger warteten.

Die innerparteilichen Zerwürfnisse, die bei der Nominierung von Juholt zum Tragen kamen, sind bis zum heutigen Tage nicht verschwunden und haben auch maßgeblich zu seinem Rücktritt beigetragen. Hinzu kommt, dass Juholt über einige Affären gestolpert ist wie die unrechtmäßige Wohngelderstattung für seine Dienstwohnung in Stockholm. Generell war Juholts Amtszeit gekennzeichnet von Kommunikationspannen, innerparteilichen Zerwürfnissen und Vorwürfen bezüglich seiner Person. Auch seine Vertrauenstour durch Schweden nach seiner Dienstwohnungsaffäre konnte den erlittenen Schaden für ihn und seine Partei am Ende nicht mehr ausgleichen.
Als Anfang Dezember 2011 die große Umfrage des Statistischen Zentralamts die Sozialdemokraten bei gerade einmal 27 Prozent platzierte, verlor Juholt auch bei seinen letzten Befürwortern an Rückhalt, die ihn zehn Monate zuvor noch an die Spitze der SAP gehievt hatten. Die scheinbar so loyale und geschlossene Partei begehrte abermals auf gegen ihren angeschlagenen Parteivorsitzenden. Der Vertrauensvorschuss war damit aufgebraucht und die Initialzündung für Juholts Rücktritt gegeben. Allein die personellen Querelen der letzten Jahre zeigen, dass die einstige Regierungspartei ihre jahrzehntelange Regierungsfähigkeit zu verlieren droht – wenn nicht gar schon gänzlich verloren hat.
Nach Juholts Rücktrittsankündigung hat nun die Generalsekretärin Carin Jämtin den Parteivorsitz übernommen, bis die Partei einen neuen Kandidaten für diesen Posten nominiert. Will die SAP ein zweites Desaster verhindern, sollte sie bei der erneuten Kandidatensuche einen offenen und transparenten Prozess der Nominierung durchführen und vor allem politische Inhalte sowie zukünftige Konzepte vor Personenfragen stellen. Falls die schwedischen Sozialdemokraten ihre innerparteilichen Divergenzen inhaltlich, geographisch und personell nicht überwinden sollten, die sich seit dem Rücktritt Mona Sahlins verfestigt haben, dürften die einstige Vorzeigegenossen aus Schweden auch bei der Wahl 2014 weiter in der Oppositionsdepression verharren. Dabei könnte die SAP schon jetzt mit einem offenen Prozess der Kandidatenfindung beginnen, um die Wogen in der Partei zu glätten und die atmosphärische Eiszeit zu überwinden. In jeder Krise steckt bekanntlich auch eine Chance, das verfestigte Eis langsam zu brechen, gerade im milden Winter der schwedischen Hauptstadt.

Jens Gmeiner ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.