Eine Gefahr für die Gesellschaft?

[kommentiert]: Tanja Kirchner über die Historie von Parallelgesellschaften

Auch im Jahr 2012, ein Jahr nach dem Jubiläum des 50-jährigen Anwerbeabkommens zwischen der Türkei und Deutschland, können regelmäßig Menschen auf den Straßen Deutschlands beobachtet werden, die sich mit genervten Gesichtern darüber echauffieren, dass sich insbesondere muslimische „Ausländer“ nicht an die „deutsche Kultur“ anpassen wollten und könnten. Daher wird auch in den Massenmedien das Thema „Parallelgesellschaft“ immer wieder kontrovers diskutiert, wobei sich auch hier die Debatte meist auf muslimische Migrantinnen und Migranten bezieht. Was aber bedeutet eigentlich der Begriff „Parallelgesellschaft“, woher kommt er und gibt es eine Rechtfertigung für die Negativbehaftung des Wortes?

„Parallelgesellschaft“ ist keineswegs ein neues Phänomen. Es lässt sich vielmehr schon Ende des 19. Jahrhunderts am Beispiel der so genannten „Ruhrpolen“ beschreiben. Diese meist jungen Männer aus Polen wurden aufgrund rapider Expansion in Industrie und Bergbau angeworben,[1] um in den Städten des Ruhrgebiets zu arbeiten. Dabei wurden sie an den bislang unstrukturierten Stadträndern angesiedelt und machten in einigen Städten bereits nach wenigen Jahren den Großteil der Bevölkerung aus.[2] Um der Diskriminierung und der preußischen Zwangsgermanisierung, der sie permanent ausgesetzt waren, zu entkommen, schlossen sie sich zusammen, organisierten sich in einer Vielzahl eigener Vereine und gründeten aufgrund der fehlenden Unterstützung der Gewerkschaften in ihren Betrieben eine eigene polnische Gewerkschaft (Zjednoczenie Zawodowe Polskie).[3]

Durch den hohen Organisationsgrad in den verschiedensten Lebensbereichen konnten sie zunächst ihre eigene Kultur wahren und ihre Interessen vertreten, sich gleichzeitig aber auch mit den „deutschen“ Regeln, wie zum Beispiel jenen des Tarifrechts, vertraut machen. Am Beispiel der „Ruhrpolen“ wird deutlich, dass „Parallelgesellschaften“ und Separation die Integration von Einwanderern nicht unbedingt verhindern müssen, sondern ein wichtiger Aspekt für ihre erfolgreiche Integration darstellen können.

Allerdings besteht eine Vielzahl von Unterschieden zwischen der Einwanderung der „Ruhrpolen“ vor etwa 130 Jahren und der heutigen Immigration, was sich durchaus auf die Integration auswirken kann. Die Arbeiter von damals kamen in bevölkerungsarme unstrukturierte Regionen und stellten schon bald die Mehrheit der Einwohner dar. Heute erfolgt die Einwanderung meist in Großstädte mit bereits etablierten Strukturen, die einen hohen Grad der Anpassung erfordern. Die Migrantinnen und Migranten sind heute außerdem nur kleine Minderheiten und fallen daher politisch nicht ins Gewicht. Hinzu kommt, dass zu Zeiten der polnischen Einwanderung die Industrie regelrecht expandierte. Heute stehen die Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt bei weitem nicht mehr so gut und ein wichtiger Integrationsort, nämlich der Arbeitsplatz, ist daher seltener gegeben.

Ein letzter, aber sehr wichtiger Unterschied ist die veränderte Situation des Wohnungsmarktes. Während die Segregation der Polen damals zum großen Teil freiwillig stattfand, ist die räumliche Segregation der heutigen Einwanderer weitestgehend erzwungen. Die Migrantinnen und Migranten haben in der durchstrukturierten Gesellschaft der Gegenwart kaum mehr die Möglichkeit, ihren Wohnsitz frei zu bestimmen und werden bereits bei der Einreise in die schlechteren Quartiere, die im Volksmund so genannten „Ghettos“ des Wohnungsmarktes, gefiltert.[4]

Auch die Wahrscheinlichkeit, dass beispielsweise eine türkische Familie, die schon seit vielen Jahren in Deutschland lebt, eine Wohnung in einem von der Oberschicht bewohnten Viertel bekommt, ist eher gering. Hier zeigt sich, dass die Entstehung derartig abgegrenzter Viertel heutzutage nicht freiwillig geschieht, sondern die soziale Segregation auf das Verhalten der Mehrheitsbevölkerung zurückzuführen ist, die nicht in der Lage zu sein scheint, allen Menschen die gleichen Möglichkeiten zu gewähren. Die Argumentation der Massen, dass sich „Ausländer“ selbst in eigene Wohnviertel zurückziehen würden, sich nicht integrieren möchten und unter sich bleiben wollen ist, somit hinfällig.

Eine weitere Gruppierung, die in einer sozialen „Parallelgesellschaft“ lebt, jedoch völlig aus dem öffentlichen Diskurs herausgehalten wird, ist die sogenannte „Elitegesellschaft“. Dazu gehörten im Jahr 1995 nach der Potsdamer Elitestudie rund 2.400 Personen, die zum Großteil ein abgeschlossenes Hochschulstudium haben und sich aus Familien mit höherem sozialen Status rekrutieren.[5] Diese „Elite“ steht in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz oben und besucht eigene Eliteschulen und Universitäten. Sie leben freiwillig in eigenen, teuer überwachten Wohnvierteln – in der „Parallelgesellschaft“ der Reichen – und bleiben gerne unter sich,[6] was jedoch niemanden zu stören scheint. Denn erstaunlicherweise wird das Wort „Parallelgesellschaft“ nur im negativen Kontext von Integrations- und Migrationsdebatten genutzt und nicht auf andere „soziale Minderheiten“, besonders die sich selbst ausgrenzende Elitegesellschaft, angewendet.

Aus dem Gesagten folgt, dass „Parallelgesellschaften“ und Segregation nicht notwendig ein Problem darstellen müssen. Vielmehr lässt sich sogar die Relevanz der „Parallelgesellschaften“ als Grundlage erfolgreicher Integration erkennen. Es hängt primär davon ab, ob Parallelgesellschaften freiwillig entstehen oder von außen erzwungen werden. Durch die Entstehung von homogenen Gruppierungen, in denen sich die Einwanderer wohl und geschützt fühlen, stehen sie nicht dauerhaft unter Anpassungsdruck, zudem entstehen aufgrund ähnlicher Ansichten der Zugehörigen weniger Konflikte, sondern eher ein starker Zusammenhalt. Des Weiteren ist ihnen die Möglichkeit gegeben, ihre Identität zu wahren und zu stärken,[7] was eine Voraussetzung ist, um sich Fremden zu öffnen und sich erfolgreich in eine „neue Gesellschaft“ zu integrieren.

Die ausschließlich negative Konnotation des Begriffs „Parallelgesellschaft“ ist bei genauem Hinsehen also keinesfalls gerechtfertigt. Allerdings erzeugt die einseitige Verwendung des Wortes in öffentlichen Diskursen über Migrantinnen und Migranten, bei der die Elite vollkommen ignoriert wird, ein irreführendes kollektives Wissen, denn die zahlreichen Vorteile, die eine solche „Parallelwelt“ auch mit sich bringen kann, werden übergangen.

Tanja Kirchner ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.


[1] Vgl. Kleßmann, Christoph: Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet: 1870-1945. Soziale Integration u. nationale Subkultur e. Minderheit in d. dt. Industriegesellschaft, Göttingen 1978, S. 23.

[2] Vgl. Häußermann, Harmut u. Oswald, Ingrid: Zuwanderung und Stadtentwicklung, in: Leviathan, Sonderheft 17 (1997), S. 30-41, hier S. 36.

[3] Vgl. Kleßmann, Christoph: Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet: 1870-1945. Soziale Integration u. nationale Subkultur e. Minderheit in d. dt. Industriegesellschaft, Göttingen 1978, S. 61 u. 63.

[4] Vgl. Häußermann, Harmut u. Oswald, Ingrid: Zuwanderung und Stadtentwicklung, in: Leviathan, Sonderheft 17 (1997), S. 30-41, hier S. 37 u. 38 (mit besonderem Augenmerk auf den 3 Thesen).

[5] Vgl. Nowak, Jürgen: Leitkultur und Parallelgesellschaft. Argumente wider einen deutschen Mythos, Frankfurt a. M. 2006, S. 67.

[6] Vgl. Nowak, Jürgen: Leitkultur und Parallelgesellschaft. Argumente wider einen deutschen Mythos, Frankfurt a. M. 2006, S. 69.

[7] Vgl. Häußermann, Harmut u. Oswald, Ingrid: Zuwanderung und Stadtentwicklung, in: Leviathan, Sonderheft 17 (1997), S. 30-41, hier S. 41.