[analysiert]: Jens Gmeiner über die Bedeutung der Evangelikalen bei den US-Wahlen
Nein, es war nicht George W. Bush. Nicht er war der erste US-Präsident jüngerer Zeitrechnung, der aus seiner evangelikalen Glaubensüberzeugung und spirituellen wie persönlichen „Wiedergeburt“ („born again“) kein Geheimnis machte. Es war Jimmy Carter, der tiefgläubige Südbaptist aus Plains im Bundesstaat Georgia. Carter lockte mit seiner Person und gewiss auch seiner Verwurzelung im Süden, dem so genannten solid south, vermehrt evangelikal orientierte Wählergruppen zur Präsidentschaftswahl und verdankte vor allem ihnen seinen Wahlerfolg.
Ein Einwurf aber gleich zu Beginn. Die Evangelikalen gibt es nicht, weder in den USA noch in Deutschland. Evangelikale sind in allen protestantischen Glaubensgemeinschaften beheimatet. Wenn also die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft kein Identifikationsmerkmal ist, müssen andere Kriterien gefunden werden. Drei Merkmale seien kurz genannt: Evangelikale glauben an die Unfehlbarkeit der Bibel, wobei daraus nicht unbedingt eine wortwörtliche Interpretation derselben folgen muss. Zudem betonen Evangelikale ihre persönliche Beziehung zu Jesus und sehen nur diesen Weg als Erlösung an. Eine aktive Bekehrung der Menschen zum christlichen Glauben und die Verkündigung des Evangeliums sind weitere kennzeichnende Faktoren.
Nicht selten werden die Evangelikalen in einen Topf geworfen mit „religiösen Rechten“, deren politische Heimat schon immer der republikanische Konservatismus gewesen sei. Doch eine homogene politische Ausrichtung kann man ihnen so einfach nicht unterstellen, ethnische und geographische Zugehörigkeiten spielen da hinein. Farbige und hispanische Evangelikale etwa sind keinesfalls Anhänger der Republikaner. Und die Baptisten im Süden der USA, übrigens der größte Verbund baptistischer Gemeinden und seinerzeit Hauptunterstützer George W. Bushs, haben eine weitaus konservativere Ausrichtung als ihre verwandten Vereinigungen im Norden. Kurz gesagt: Ein weißer Baptist aus Texas kann religiös dasselbe glauben wie ein baptistischer Afroamerikaner aus Chicago, nur politisch driften die Glaubensbrüder deutlich auseinander.
Vor 1970 hatten sich evangelikale Wählergruppen im Süden nicht nennenswert an Wahlen beteiligt, geschweige denn sich offensiv und politisch zu Wort gemeldet. Die evangelikalen Glaubensgemeinschaften verharrten bis Mitte der 1970er Jahre vielmehr in ihren subkulturellen Milieus, vornehmlich im Süden und Mittleren Westen, wo sie eine Gegenkultur zum bestehenden Gesellschafts- und Wertesystem des modernen Amerikas des Nordostens und der Westküste etabliert hatten. Sie verschanzten sich in ihren glaubensfesten Inseln der Moral, bildeten eigene evangelikale Parallelstrukturen, die sich wie Felsen in der Wüste gegen den stürmischen Wind der scheinbar orientierungslosen Modernisierung behaupteten.
Der Sturm der Modernisierung, dem sich die Evangelikalen bis heute entgegenstemmen, hat sie aber sukzessive aus ihren Parallelstrukturen hinaus auf die politische Bühne getrieben. Während die Evangelikalen 1976 noch mehrheitlich für ihren Glaubensbruder, den Demokraten Carter, votierten, haben sie sich seither relativ deutlich auf Seiten der Republikaner angesiedelt und bilden die Kerntruppen des christlich konservativen Flügels der Grand Old Party. Die Machtsymbiose von Republikanern und vor allem weißen Evangelikalen verschafft der Partei sozialkonservative Wählergruppen und der evangelikalen Bewegung Gehör bei wichtigen politischen und gesellschaftlichen Fragen, den sogenannten moral issues.
Die Chefstrategen der Republikaner hatten schon unter Nixon mit ihrer southern strategy versucht, die Partei für die eher konservativ als liberal geltenden evangelikalen Wähler im Süden zu öffnen. Aber erst mit der Hinwendung der Demokratischen Partei zur Bürgerrechtsbewegung und dem Druck, der unter der Präsidentschaft Jimmy Carters auf die segregatorische Praxis der evangelikalen Parallelgesellschaft ausgeübt wurde, vollzog sich eine weitreichende parteipolitische Tendenz der evangelikalen Wähler zu den Republikanern. Mit dem Zusammenbruch der New Deal Coalition in den 1960er Jahren, die neben Schwarzen, Juden, Katholiken auch Evangelikale integrierte, begann eine Dekade später die Politisierung der Evangelikalen zugunsten der G.O.P.
Diese Mobilisierungswelle in den 1970er Jahren wurde durch die Entscheidungen des Supreme Court zur Legalisierung der Abtreibung und dessen Verbot von Schulgebeten noch intensiviert. Im Jahr 1980 wechselte dann eine Mehrheit der Evangelikalen zum Präsidentschaftskandidaten Ronald Reagan, der strategisch gezielt auf moral-issues setzte, um die verunsicherten evangelikalen Strömungen in seine Wählerkoalition zu integrieren. Themen wie Abtreibung, die öffentliche Rolle der Religion und ein vermeintlich biblisch begründetes Familienbild wurden nun von Wahlstrategen und Predigern politisiert, obwohl diese Themen vorher niemals den Diskurs der Evangelikalen dominiert hatten. Hilfe bekam Reagan, obwohl geschieden, in dieser Zeit auch von religiösen Organisationen, die sich gegen die Evolutionstheorie, den „gottlosen“ Kommunismus und für die Apartheid-Politik in Südafrika engagierten. Die weißen Evangelikalen verkörpern seitdem wohl die loyalste Wählerklientel der Republikaner und haben damit einer Allianz von Religion und Politik zugestimmt, die unter der Amtszeit des „wiedergeborenen“ Präsidenten George W. Bush ihre Hochphase erreichen sollte.
Dieses Bild der Evangelikalen dominiert bis heute die Medien und gewiss trifft es auch für einen Teil der gegenwärtigen Bewegung zu. Gleichwohl verkennt man mit dieser Kurzzeitbeobachtung die historische Rolle des Evangelikalismus für die USA, der vor der einseitigen Politisierung durch die Republikaner nicht nur von reaktionären Abwehrhaltungen und Kulturkämpfen durchzogen war.
Der Evangelikalismus wurde seit Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem in Form von religiösen revivals und awakenings zu einer moralischen, aber auch politischen Gestaltungskraft in den USA. Die Betonung der persönlichen Frömmigkeit stärkte das Individuum gegenüber den Autoritären, schärfte basisdemokratisches Denken und Graswurzelbewegungen. Baptisten waren die ersten, die gegen die Sklaverei zu Felde zogen und für die Trennung von Kirche und Staat standen. Stellte doch die enge Verquickung von Thron und Altar in der „alten Welt“ häufig ein Grund für die Auswanderung der religiösen Dissidenten in die USA dar. Die „neue Welt“ sollte mit diesem Paradigma brechen und der religiösen Pluralität Rechnung tragen. Kurz: Der Evangelikalismus in den USA war und ist keineswegs nur konservativ, reaktionär und parteipolitisch auf die Republikaner fixiert, sondern trägt auch einen bedeutenden emanzipatorischen, fortschrittlichen und sozialkaritativen Wesenszug in sich.
Dies wird am deutlichsten an der Bürgerrechtsbewegung, die vornehmlich von schwarzen evangelikalen Pastoren wie Martin Luther King getragen wurde. Dem Evangelikalismus wohnt auch ein utopisches Element inne, was King mit „I have a dream“ überdeutlich zum Ausdruck brachte. Der amerikanische Religionshistoriker Randall Balmer, der sich selbst als evangelikal bezeichnet, hat in seinem Artikel „Jesus is not a republican“ die einseitige Ausrichtung der weißen Evangelikalen auf die Republikaner scharf angegriffen und die fetischartige Fokussierung auf Themen wie Abtreibung, Homosexualität und einen schlanken Staat kritisiert. Von Armutsbekämpfung, Umweltschutz und dem Schutz der Schwächeren sei in heutigen evangelikalen Kreisen weit weniger die Rede, als sich die evangelikalen Pfingstkirchen im 20. Jahrhundert und die Methodisten des 19. Jahrhunderts noch an die niedrigen Klassen und Minderheiten richteten und für Befreiung und Hoffnung kämpften.
Viele Evangelikale der Gegenwart, die vermutlich auch am 6. November wieder mehrheitlich die Republikaner wählen werden, haben sich von diesem Erbe der Vergangenheit langsam verabschiedet. Die Trennung von Staat und Kirche wird dabei wieder hinterfragt, Moralfragen dominieren soziale Themenbereiche, Krieg wird im Namen (ihres) Gottes zugelassen oder gerechtfertigt. Seit den 1980er Jahren hat die Nähe mancher evangelikaler Kirchenfürsten und Teleevangelisten zum republikanischen Lager eine unheilvolle Verbindung von Religion und Politik zu Tage gefördert. Diese Allianz hat dem amerikanischen Evangelikalismus die sozialkritische und antiautoritäre Komponente größtenteils entzogen. An die Stelle der Religion ist mitunter parteipolitische Ideologie getreten, da wo einst Befreiung und Hoffnung standen, dominieren heute Machtpolitik und Dogmatik.
Selbst der Mormone Mitt Romney, den manch hartgesottene Evangelikale wegen seiner Religion nur mürrisch als Präsidentschaftskandidaten akzeptiert haben, wird die enge Bindung der Evangelikalen an die Republikaner nicht ernsthaft erschüttern können. Doch bröckelt das Lager der Evangelikalen an anderer Stelle. Zum einen wächst eine Generation nach, die neben Moralfragen auch zunehmend sozial- und umweltpolitische Themen auf die Tagesordnung setzt. Zum anderen werden mittelfristig die weißen protestantischen Amerikaner an Gewicht in der Bevölkerung verlieren und die Latinos an Gewicht gewinnen. Die Kernklientel der Republikaner schrumpft und die bisherigen Minderheiten, vornehmlich Anhänger der Demokraten, wachsen.
Religion wird allerdings weiterhin ein wichtiger und elektoral einflussreicher Faktor in der amerikanischen Politik bleiben. Deshalb sollten auch die Demokraten ihr religiöses Profil nicht verkümmern lassen, eine Warnung übrigens, die häufiger auch von demokratischen Ex-Präsidenten wie Jimmy Carter und Bill Clinton an die eigene Partei gerichtet worden ist. Nur sollte Religion, das zeigt das Beispiel der Evangelikalen, auch immer fähig sein, auf Distanz zu gehen, kritikfähig zu sein und sich nicht im Zentrum der Macht anzubiedern. Vielleicht brauchen gerade die „born again“-Christen in den USA mehr denn je eine Bekehrung, die sie vom gewählten „rechten“ Weg wieder abbringt.
Jens Gmeiner ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieoforschung.