[Göttinger Köpfe]: Christian Werwath über die Politikerin und Autorin Hannah Vogt
Hannah Vogts Leben wirkt auf den ersten Blick richtungslos: Sie war früh in der KPD engagiert. Mit 23 Jahren war sie politische Inhaftierte im Konzentrationslager Moringen. Nach ihrer Entlassung machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester, bevor sie 1945 in Göttingen im Fach Volkswirtschaft promovierte. Hannah Vogt war anschließend Referentin in der Landeszentrale für politische Bildung in Hessen und später Autorin eines Bestsellers. Die Stadt Göttingen ernannte sie nach über zwanzig Jahren Ratsarbeit zunächst in der FDP-Fraktion und dann in der SPD-Fraktion zur Ehrenbürgerin. Zudem war Hannah Vogt Trägerin des Bundesverdienstkreuzes. Ihre Lebensstationen erscheinen rätselhaft, wer war Hannah Vogt?
Hannah Vogt wurde 1910 in Berlin-Charlottenburg geboren. Im Alter von neun Jahren verließ sie mit ihrer Mutter Emma, einer Fabrikantentochter aus Gütersloh, und ihrem Vater Wilhelm die preußische Metropole und zog nach Göttingen. Der promovierte Bibliotheksrat Wilhelm Vogt hatte eine Stelle an der dortigen Georg-August-Universität angenommen. Im großbürgerlichen Anwesen ihrer Eltern im Göttinger Ostviertel konnte sie bereits im Kindesalter den gut ausgestatten Bücherschrank ihrer Eltern nutzen, um ihren Wissensdurst zu stillen. Das Abitur auf dem Oberlyzeum, dem heutigen Hainberg-Gymnasium, bestand sie 1929 mit Auszeichnung. In der Schulzeit hielt sich Vogt im Umfeld des Internationalen Jugend-Bundes sowie des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes auf. Sie setzte sich zunächst lediglich mit deren politisch-programmatischen Überzeugungen auseinander, bevor sie schließlich – wohl auch, um sich von ihrem Elternhaus zu distanzieren – während ihres Studiums der KPD beitrat.
Dabei wandte sich Vogt mit jugendlicher „Radikalität“ dem Kommunismus zu und hatte sich alsbald gänzlich der Parteiarbeit verschrieben. Sie verteilte Flugblätter auf dem Göttinger Marktplatz und organisierte Parteiveranstaltungen mit (Berg-)Arbeitern aus dem Harz. Hannah Vogt wollte aufklären und aufrütteln. Mit ihrem schriftstellerischen Talent und ihrer Wortgewandtheit warnte sie eindringlich vor den Gefahren der nationalsozialistischen Ideologie. Noch 1979 schrieb sie zum Thema rechtsradikale Propaganda: „«Wir können nicht tatenlos zusehen» – das heißt: jeder einzelne muß in seinem Lebensbereich […] aufklärend wirken, für die Wahrheit eintreten, dem Grundwert der Humanität Respekt verschaffen.“ Diese Aufklärung war zeit ihres Lebens zu einer handlungsleitenden Maxime geworden.
Vogts frühes politisches Engagement löste bei den Eltern Entsetzen aus. Nicht nur, weil die Mitgliedschaft in der KDP in den großbürgerlichen Kreisen, in denen die Familie verkehrte, einen Makel darstellte, sondern auch, weil sich zu jener Zeit die Universitätsstadt bereits zu einer der frühen Hochburgen der NSDAP entwickelt hatte. Das gestaltete die Arbeit der Kommunisten vor Ort gefährlich. Und tatsächlich, nur etwa einen Monat nach der Machtergreifung Hitlers wurde Vogt per Haftbefehl im Kreis Osterode gesucht und wegen Anstiftung zum Hochverrat verhaftet. Im Alter von 23 Jahren brachte man sie in das Konzentrationslager Moringen.
Was möglicherweise als jugendliche Auflehnung gegen das bürgerliche Elternhaus begann, wurde plötzlich zur echten Überlebensprobe. Ihrem jugendlichen Aktionismus wurde durch Freiheitsberaubung ein jähes Ende gesetzt. Mit etwa 120-140 anderen Frauen erlebte Vogt Demütigungen und Bestrafungen durch die SS. Ihr intensiver Schriftverkehr mit der Familie und Freunden unterlag der Zensur der Lageraufsicht. Dennoch lässt sich im Zeitverlauf herauslesen, wie sie nach und nach an den Haftbedingungen zerbrach. Hannah Vogt wurde vorsichtiger, nachdenklicher und ängstlicher. Als sie im Zuge der „Weihnachtsamnestie“ von Hermann Göring im Dezember 1933 entlassen wurde, kam sie wieder bei ihren Eltern unter. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges lebte sie in innerer Emigration, denn die Angst, ein zweites Mal verhaftet zu werden, war von nun an ihr ständiger Begleiter. Vogt vermied es aufzufallen und begann eine Ausbildung zur Krankenschwester. Ihren politischen Widerstand gab sie völlig auf und brach mit ihrem früheren Umfeld. Nach neunjähriger Studienunterbrechung und einem Gnadengesuch konnte sie 1942 nur mit großer Unterstützung ihrer Eltern in Marburg wieder Volkswirtschaften studieren.
1945 kehrte Hannah Vogt zur Promotion an die wiedereröffnete Universität Göttingen zurück. Das Kriegsende wurde zu einem bedeutenden Wendepunkt in ihrem Leben. In ihrem Tagebuch vermerkte sie: „Dies Inselhafte unserer [Göttinger] Existenz, dieser Wohlstand, diese Unversehrtheit – sie verpflichten.“ Vogt war im Gegensatz zu ihren Jugendjahren zu einer stillen Beobachterin ihrer Umgebung geworden, was sich vor allem in ihrer Arbeit als freie Journalistin widerspiegelte. Doch beließ sie es nicht beim Schreiben, sondern nutzte die neu gewonnenen Freiheiten der aufkeimenden Demokratie, um sich erneut politisch und gesellschaftlich einzubringen. Das tat sie in der Göttinger Nothilfe für Kriegsleidende. Doch wollte sich Hannah Vogt zusätzlich auch an hervorgehobener Stelle engagieren. Nun sollte sich zeigen, dass sie während ihres inneren Exils doch nichts von ihrem Willen und Tatendrang verloren hatte. Sie trat 1948 in die Göttinger FDP ein, die sich, im Gegensatz zum nationalkonservativen Landesverband, an den christlich-liberalen Ideen Friedrich Naumanns orientierte, mit denen Vogt sich weit besser identifizieren konnte. Auch in ihrer Promotion hatte sie sich intensiv mit Naumanns Vorstellungen und Ideen befasst.
Die Liberalen waren in Göttingen nach dem Krieg die mit Abstand stärkste Kraft und stellten die meisten Ratsmitglieder. Der Aufstieg gelang Hannah Vogt in der kleinen Partei auch deshalb recht schnell. Sie setzte sich in der klar männerdominierten FDP durch und saß bereits ein Jahr nach ihrem Beitritt als Nachrückerin im Stadtrat. Eine Direktwahl verpasste sie nur knapp. Doch die freidemokratische Partei veränderte auch in Göttingen nach und nach ihr Gesicht, sie wurde von rechts unterwandert. Zunehmend klafften zwischen Vogt und ihrer Partei große Lücken, vor allem im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Vehement protestierte sie gegen den freidemokratischen Wahlvorschlag, Wilhelm Sievers, einst hochrangiges Mitglied der NSDAP und der SS, zum neuen Oberstadtdirektor zu wählen. Sie stellte sich schließlich gegen die eigene Fraktion und verhinderte so Sievers‘ Ernennung. Dadurch geriet sie in den Folgejahren in einen fortwährenden Zwist mit der Parteispitze, obgleich ihr 1952 die Direktwahl in den Göttinger Stadtrat gelang. Doch war sie von nun an weitgehend isoliert und drang mit ihren Ideen nicht mehr durch.
Gleichzeitig hatte Hannah Vogt zu jener Zeit das Glück, von ihrem Bekannten, dem hessischen Kultusminister Arno Hennig, nach Wiesbaden gerufen zu werden. Der ehemalige Göttinger Bundestagsabgeordnete hatte ihr schriftstellerisches Talent erkannt und bat sie, als Referentin in der hessischen Landeszentrale für Heimatdienst zu arbeiten. Im Bereich der politischen Bildung und ausgestattet mit weitgehenden Freiheiten und Kompetenzen konnte sich Hannah Vogt entfalten. Sie setzte sich anknüpfend an ihre Jugendzeit kritisch mit der mangelnden Aufarbeitung des Nationalsozialismus auseinander. Eine ganze Reihe von Büchern und Aufsätzen, die immer wieder mit persönlichen Aussagen versehen sind, zeugen davon. 1961 veröffentlichte sie gar einen Beststeller mit dem Titel Schuld oder Verhängnis? 12 Fragen an Deutschlands jüngste Vergangenheit, der eine Auflage von über 500.000 Exemplare erreichte.
Als ihr Förderer Henning 1959 seinen Ministerposten verlor, kehrte Hannah Vogt nach Göttingen zurück, um es noch einmal mit der aktiven Politik zu versuchen. Zwischenzeitlich war sie aus der FDP ausgetreten und in die SPD eingetreten. Jedoch scheiterten ihre Versuche von der Sozialdemokratie als Landtagskandidatin gegen Peter von Oertzen beziehungsweise als Oberbürgermeisterin in Göttingen nominiert zu werden. Zum einen besaß sie nach ihrer örtlichen Abwesenheit und erst kurzen Parteizugehörigkeit keine große Anhängerschaft und zum anderen hatte ihr die mit der SPD koalierende FDP die Sievers-Angelegenheit nicht verziehen. So blieb Vogt letztlich die Ratsarbeit, die sie aber, nach Auskunft ehemaliger Ratsmitglieder, inhaltlich und gesellschaftlich engagiert betrieben und sehr ernst genommen hat.
Im Februar 1994 starb Hannah Vogt in Göttingen. Es war ihr ein ständiges Anliegen, für den Schutz und Aufbau der Demokratie einzustehen – dafür nahm sie viele Umwege, Schwierigkeiten, ja sogar Repressionen in Kauf. Ihr Leben wirkte nicht nur ruhelos, sondern war es auch – aber nur, weil sie ständig neue Wege suchte, um vor dem, was sie erleben und erfahren musste, zu warnen.
Christian Werwath ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.