Edathy – oder: Was passt zur Sozialdemokratie?

Beitrag verfasst von: Franz Walter

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[kommentiert]: Franz Walter zur Edathy-Kontroverse in der SPD.

Gegen Sebastian Edathy läuft ein Parteiordnungsverfahren. Das Verhalten des früheren Bundestagsabgeordneten der SPD passe nicht zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, begründete Parteichef Sigmar Gabriel die Initiative. Ohne Zweifel kann Gabriel sich mit seinem Verdikt auf den legendären Tribun seiner Partei in den Jahren des Kaiserreichs, August Bebel, berufen. Bebel hatte in seinen Memoiren über sexuelle Vorkommnisse Anfang der 1860er Jahre berichtet und deutliche Worte des Abscheus bekundet. Im April 1862 soll ein junger Mann von 28 Jahren im Mannheimer Schlossgarten ein „Sittenvergehen“ an einem unter 14 Jahre alten Jungen begangen haben, wie zwei Damen gegenüber der Polizei zu Protokoll gaben. Der Knabe selbst war von der Staatsmacht nicht mehr aufzufinden. Doch andere Jungen bestätigten, dass der verdächtige Mann sich ihnen mit ähnlichen Ansinnen genähert hatte. Eine Gefängnisstrafe wurde verhängt. August Bebel rechtfertigte das Urteil der Justiz: „Man mag über die gleichgeschlechtliche Liebe noch so frei denken, so war es unter allen Umständen eine Ehrlosigkeit, die Befriedigung der selben am hellen Tage in einem öffentlichen Tag und an einem schulpflichtigen Knaben zu versuchen.“

Insofern also scheinen die moralischen Maßstäbe der Sozialdemokraten in dieser Hinsicht von Bebel bis Gabriel konstant und verlässlich zu sein, wenngleich die Vorwürfe bzw. Tatbestände gewiss nicht gleichzusetzen sind. Allerdings: Der Mann, der im Schlossgarten minderjährigen Jungen mit dem Ziel sexueller Handlungen aufgelauert haben soll, war nicht irgendjemand, sondern einige Jahre später Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, also der Anführer der jungen Sozialdemokratie, im Grunde die politisch und agitatorisch fähigste, zumindest die prägende Figur im Sozialismus der 1860er Jahre, die doch als ihr Geburtszeitraum von der SPD im letzten Jahr mit Gebühr und einigem Aufwand groß gefeiert wurden. Sein Name: Johann Baptist von Schweitzer.

Das gehörte eben zu den Eigentümlichkeiten der neuen sozialistischen Bewegung, dass ihre Gründungspatronen und Protagonisten weder aus der Arbeiterklasse stammten, noch recht eigentlich intime Kenntnisse der proletarischen Verhältnisse besaßen. Der eine, Ferdinand Lassalle, war ein berüchtigter Salonlöwe, Liebhaber schöner Frauen und exquisiter Weine, ein früher Rentier und Bohemien; der andere, Johann Baptist von Schweitzer, war Sprössling einer Frankfurter Patrizierfamilie, promovierter Jurist und Autor von Theaterstücken, ein Komödiant. Sein politisches Engagement zielte anfangs auf die nationale Bewegung in den Turn- und Schützenvereinen, in denen er jeweils führende Funktionen innehatte. Danach konzentrierte sich seine Aktivität auf die Arbeiterbildung. Dann aber kam er in seiner Frankfurter Heimatgegend politisch nicht mehr voran, da die Vorfälle aus Mannheim sich herumgesprochen und zu seiner Ächtung im Arbeitervereinswesen am Main geführt hatten. Von Schweizer siedelte nach Berlin über, kam mit Ferdinand Lassalle zusammen, gründete die neue Parteizeitung, den Socialdemokrat. 1867 rückte er dann ganz an die Spitze des ADAV, gelangte überdies als Abgeordneter in den Norddeutschen Reichstag.

1868 war von Schweitzer ohne Zweifel die zentrale Führungsfigur in der sozialdemokratischen Bewegung, die allerdings auf die erbitterte Gegnerschaft der leitenden Figuren der zweiten sozialdemokratischen Organisation – junge politische oder soziale Bewegungen pflegen sich gerade zu Beginn zu spalten und mit einer gehörigen Portion Unversöhnlichkeit miteinander zu streiten –, nämlich August Bebel und Wilhelm Liebknecht, stieß. Der Parteihistoriker Franz Mehring attestierte später von Schweitzer, in jenen Jahren „der am klarsten und schärfsten blickenden Sozialist auf deutschem Boden“ gewesen zu sein. Erst durch ihn wurde die kleine Sekte, die Lassalle geschaffen hatte, zu einer schlagfertigen, verhältnismäßig geschlossenen, taktisch verblüffend klug operierenden Formation. Im Vergleich zu Wilhelm Liebknecht, dem ewigen 1848er und Romantiker des politischen Kampfes, hatte von Schweitzer, eifriger Rezipient der Schriften Machiavellis, einen analytischen, illusionslosen Blick für politische Kräfteverhältnisse und Handlungsmöglichkeiten.

„Kein anderer deutscher Arbeiterführer“, schrieb ein weiterer Historiker der Sozialdemokratie, Gustav Mayer, „hatte so wenig wie er vom Ideologen in sich.“ Wie Ferdinand Lassalle, so besaß auch von Schweitzer einige Bewunderung für die meisterlichen politischen Schachzüge von Bismarcks. Und wie Lassalle, vielleicht gar noch stärker als dieser, baute auch von Schweitzer seine Parteiführung in der jungen Sozialdemokratie autokratisch aus, strebte einen sozialistischem Bonapartismus bzw. Cäsarismus an. Mit solch maßlosen Ambitionen entfachte und stärkte er allerdings oppositionelle Kräfte im eigenen Lager, was dazu führte, dass von Schweitzer 1871 von der politischen Bühne abtrat, wenngleich er mit der ihm eigenen Raffinesse zuvor noch versucht hatte, die Mitglieder der Partei gegen die ihm zusetzenden Delegierten und Aktivistenkader auszuspielen. Aber auch die Genossen an der Basis hatten sich zuletzt mehr und mehr von ihm abgewandt. Zu sehr war seine persönliche Integrität ins Gerede gekommen. Von Schweitzer liebte die Annehmlichkeiten eines luxuriösen Lebens, ohne es sich materiell leisten zu können. Er verschuldete sich hier, pumpte sich dort etwas, konnte es nicht zurückzahlen und griff – so warf man ihm zumindest vor – beherzt selbst in die Kasse des Arbeitervereins.

Kurzum: Er galt den Historikern der Arbeiterbewegung als eine „dekadente“, „moralisch zweifelhafte“ und „derangierte“ Persönlichkeit, dessen Verdienste um den Ausbau und die Festigung der Sozialdemokratie von den meisten Autoren jedoch nicht geleugnet wurden. Sein erster wichtiger Fürsprecher war Ferdinand Lassalle, Gründervater der Sozialdemokraten in Deutschland, der Johann Baptist von Schweitzer rehabilitierte, als dieser nach seinem Vergehen im Schlosspark politisch gescheitert zu sein schien. Lassalle machte deutlich, dass ihm der Mannheimer Vorfall gleichgültig sei, dass das Gewese, was darum im ADAV gemacht werde, allein die Engstirnigkeit der Arbeiter dokumentiere. Schließlich hatten, so Lassalle, bereits die antiken Griechen, ihre Philosophen und Staatsmänner, den sexuellen Geschmack von Schweitzer kultiviert und ohne moralische Bedenken ausgelebt.

Weit strenger hingegen bewerteten die Großmeister der sozialistischen Theorie, Karl Marx und Friedrich Engels, was von Schweitzer zur Last gelegt wurde. Besonders Engels hatte auch mit der Päderastie der Griechen – der „Widerwärtigkeit der Knabenliebe“, wie er es nannte – nichts im Sinn. Er setzte dergleichen mit Homosexualität in eins, hielt beides für gleichermaßen „widernatürlich“; schwule Parteifreunde bezeichnete er verächtlich als „Arschficker“. Und er fürchtete sich davor, dass irgendwann einmal die Bewegung (linker) Homosexueller mehrheitsfähig werden könne. „Guerre aux cons, paix aux trous-de-cul“, würde es dann heißen. Und es sei nur ein Glück, dass dann beide, Marx und er, wohl zu alt seien, „als daß wir noch beim Sieg dieser Partei fürchten müßten, den Siegern körperlich Tribut zahlen zu müssen. Aber die junge Generation! Übrigens auch nur in Deutschland möglich, daß so ein Bursche auftritt, die Schweinerei in eine Theorie umsetzt und einladet: introite usw. Leider hat er noch nicht die Courage, sich offen als ‚Das‘ zu bekennen, und muß noch immer coram publico ‚von vorn‘, wenn auch nicht ‚von vorn hinein‘, wie er aus Versehen einmal sagt, operieren. Aber warte erst, bis das neue norddeutsche Strafgesetz die droits de cul anerkannt hat, da wird es ganz anders kommen.“ Von Karl Marx hieß es, dass er die Homosexualität von Gegnern im Sozialismus gezielt genutzt hätte, um diese vor anderen zu kompromittieren und deren Einfluss zu schmälern.

Marx, Lassalle, von Schweitzer, Engels, Bebel – zur Sozialdemokratie gehörten sie alle, mit denkbar prägendem, nachhaltigem Einfluss. Auf Lassalle und von Schweitzer bezogen sich seit jeher die staatstragenden, sogenannten realpolitischen Sozialdemokraten. In der Tradition von Marx, Engels, Bebel wähnten sich die radikalen Sozialisten des linken Flügels. Aber passte das wirklich alles so leicht? Ob die Parteigerichtsbarkeit, die nun wieder gefordert ist, schlüssig und unzweifelhaft den Maßstab präsentieren kann, was mit der Sozialdemokratie konveniert, was nicht? Die Geschichte zumindest gibt ganz eindeutige Antworten darauf nicht. Aber wann täte sie das überhaupt?

Franz Walter ist Leiter des Instituts für Demokratieforschung.