Das Jahr 2014 – Blicke in die Vergangenheit

Beitrag verfasst von: Otto-Eberhard Zander

[kommentiert]: Otto-Eberhard Zander verknüpft das gegenwärtige Jahr in einem historischen Panorama mit der Vergangenheit.

Im vergangenen Jahr sind die historischen Ereignisse des Jahres 1913 eingehend betrachtet worden, was in den Werken „Die Schlafwandler“[1] von Christopher Clark und „Das Jahr 1913“[2] von Florian Illies literarische Höhepunkte fand. Nun ist es im Jahr 2014 an der Zeit, sich der wesentlichen Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts seit 1914 und davor zu erinnern.

Als der Erste Weltkrieg begann, lag ein anderes Ereignis von ähnlich nachhaltigen gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen in Europa 125 Jahre zurück: die Französische Revolution. Außerdem beging am 27. Januar 1914 Kaiser Wilhelm II. seinen 55. Geburtstag und konnte mit dem vergangenen Jahr, dem 25. seiner Regentschaft, aus seiner Sicht durchaus zufrieden sein: Denn im Februar 1914 lag der deutsch-dänische Krieg von 1864 bereits fünfzig Jahre zurück – diesen Konflikt hatte seinerzeit Bismarck genutzt, um mit dem ersten der insgesamt drei sogenannten Einigungskriege – 1864, 1866 und 1870/71 – das deutsche Kaiserreich zu schaffen; eine beständige politische Ordnung, in deren Glanz[3] sich Wilhelm II. dann bis zum 29. Juni 1914 sonnte. Denn dieses Datum, der Tag des Attentats von Sarajewo, stellte den „Reisekaiser“[4] mit einem Mal vor völlig neue Herausforderungen: Die Kriegserklärungen des Deutschen Reiches an Russland und Frankreich im August 1914, die auf krassen Fehleinschätzungen, insbesondere der Rolle Großbritanniens, gründeten,[5] und die nahezu bedingungslose Unterstützung der österreichischen Politik gegenüber Serbien führten zur sogenannten „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“[6]. Militärische Fehlbeurteilungen des deutschen Generalstabes wie auch die Schwächung des „rechten Flügels“[7] der deutschen Armeen bedingten das „Wunder an der Marne“ mit und führten zu einem jahrelangen Stellungs- und Abnutzungskrieg, den das Deutsche Reich, insbesondere nach dem Kriegseintritt der USA im Jahr 1917, nicht mehr gewinnen konnte. Auch wenn da der Erste Weltkrieg bereits über zwei Monate gedauert hatte, soll nicht unerwähnt bleiben, dass im Oktober 1914 der Physiker Max v. Laue, der von 1900 bis 1902 an der Georgia Augusta zu Göttingen studiert hatte, für seine Erkenntnisse in der Röntgen-Strukturanalyse den Nobelpreis für Physik zuerkannt bekam.

Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg bewog den im Jahr 1914 gerade 25 Jahre alten Kriegsfreiwilligen Adolf Hitler dazu, wie er selbst später in seinem Buch „Mein Kampf“ formulierte, Politiker zu werden.[8] Hätten seinerzeit mehr Menschen dieses Buch gelesen, dann wäre der Menschheit womöglich der Zweite Weltkrieg erspart geblieben, den Hitler dann 1939, also in diesem Jahr vor 75 Jahren, begann, nachdem er am 15. März desselben Jahres durch die völkerrechtswidrige Erpressung des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Hacha den „Rubikon überschritten“ hatte, als er die Gründung des „Reichprotektorates Böhmen und Mähren“ erzwang.[9]

Ein Kalender nimmt keine Rücksicht auf historische Ereignisse, aber am Ostersonntag 2014 jährt sich der 20. April 1889 zum 125. Mal; und an diesem Tag vor 75 Jahren ließ sich Adolf Hitler anlässlich seines fünfzigsten Geburtstags mit einer über vier Stunden dauernden Militärparade in Berlin feiern, um das deutsche Volk auf den bevorstehenden Waffengang einzustimmen, den er dann, acht Tage später, am 28. April 1939 in einer Reichstagsrede rhetorisch ebenso geschickt wie perfide vorbereitete.[10] Nach anfänglichen Erfolgen der deutschen Wehrmacht und der Besetzung nahezu fast ganz Europas war durch den Beginn der alliierten Invasion am 6. Juni 1944 – also im Sommer 2014 vor siebzig Jahren – das Ende des Zweiten Weltkrieges absehbar. Auch das am 20. Juli desselben Jahres gescheiterte Attentat auf Adolf Hitler jährt sich somit zum siebzigsten Male.[11]

Nach dem totalen Zusammenbruch Deutschlands entstanden vor 65 Jahren zunächst am 23. Mai 1949 die Bundesrepublik Deutschland und am 7. Oktober die Deutsche Demokratische Republik. Beide Staatsgründungen waren der völligen Niederlage und den Gegensätzen der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges geschuldet. Mehr als vierzig Jahre sollten beide Staaten existieren, bis sich im Sommer 1989 – vor 25 Jahren – das Ende des Kommunismus und damit auch das Ende der deutschen Teilung abzeichneten. Als Markstein hierzu kann der Staatsbesuch des sowjetischen Präsidenten Michail S. Gorbatschow im Sommer desselben Jahres gewertet werden, sofern man der Schilderung von Bundeskanzler Helmut Kohl glauben darf.[12] Die Phase, die am 9. November 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer begann und 329 Tage später am 3. Oktober 1990 mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland endete, wurde beherzt genutzt von Kohl, der einerseits die Stimmung in der Bevölkerung der DDR richtig eingeschätzt und zum anderen mit dem damaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher den Prozess der Wiedervereinigung im europäischen Kontext klug „abgefedert“ hatte.[13]

Zwar hatte sich in den Jahrzehnten der Existenz der Bundesrepublik Deutschland durch die kluge und weitsichtige Politik Konrad Adenauers, der als erster Bundeskanzler der Westintegration und einer berechenbaren wie stetigen Außenpolitik absolute Priorität eingeräumt hatte, sowie der Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt[14], der vertrauensbildende Verträge mit der Sowjetunion und Polen geschlossen hatte, ein gewisses Vertrauenskapital bei den europäischen Nachbarn gebildet; aber eine Vereinigung beider deutschen Staaten stieß doch zunächst auf erhebliche Vorbehalte und großes Misstrauen.[15] Dieses um so mehr als Bundeskanzler Helmut Kohl am 28. November 1989 – in diesem Jahr vor fast 25 Jahren – seinen „Zehn-Punkte Plan“ im Deutschen Bundestag vorgestellt und damit die politische Meinungsführerschaft übernommen hatte. Eine Sternstunde gegen Ende des Jahres 1989 war am 22. Dezember die Öffnung des Brandenburger Tores, nachdem Kohl drei Tage zuvor vor der Dresdner Frauenkirche proklamiert hatte: „Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation…!“[16] Im Jahr 2014 jährt sich der Mauerfall zum 25. Mal; und wenn auch noch viel zu tun bleibt, so haben die Deutschen in West und Ost doch die größten Hindernisse auf dem Weg zur Vollendung der Einheit bewältigt. Vierzig Jahre waren die Deutschen geteilt und vierzig Jahre wird es wohl insgesamt dauern, bis die letzten Spuren der deutschen Teilung getilgt sein werden[17].

Die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, die vor 100 Jahren 1914 begann und nahezu in einen „dreißigjährigen Krieg“ mündete, der vor 75 Jahren im Zweiten Weltkrieg in einem erneuten Waffengang kulminierte, hat Erschütterungen und Verwerfungen nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt hervorgebracht – wie in keiner Phase der Weltgeschichte zuvor. An beiden Weltkriegen, insbesondere am zweiten, hat Deutschland erhebliche Schuld, war für die vielen Millionen an Toten des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust ursächlich verantwortlich. Nach Teilung und Mauerfall vor 25 Jahren – im Jahre 1989, also 200 Jahre nach der Französischen Revolution von 1789 – hat es sich zur führenden Wirtschaftsmacht in einem vereinten Europa entwickelt. Mit dieser Wirtschaftsmacht geht automatisch auch politische Macht einher. Angesichts der vergangenen 100 Jahre deutscher Geschichte ist die deutsche Politik angehalten, im Jahr 2014 von dieser gewachsenen wirtschaftlichen und politischen Macht in einem vereinten Europa klugen und zurückhaltenden Gebrauch zu machen – dieses gebietet die Lehre aus den Ereignissen von 1914 bis 2014.

Dr. Otto-Eberhard Zander ist Lehrbeauftragter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

 


[1] Clark, Christopher, Die Schlafwandler – Wie Europa in den Krieg zog, München 2013.

[2] Illies, Florian, 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2012. Auch das Institut für Demokratieforschung hatte sich in der dort vierteljährlich erscheinenden Publikation INDES dem Jahr 2013 gewidmet.

[3] Vgl. hierzu die Rede des Reichskanzlers Fürst Bülow vom Dezember 1897: „Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne!“, in: Penzler, Johannes (Hrsg.), Fürst Bülows Reden nebst urkundlichen Beiträgen zu seiner Politik, I. Band, 1897-1903, Berlin 1907, S. 7.

[4] Im Volksmund hieß dessen Großvater Wilhelm I., der „greise Kaiser“, dessen Sohn Friedrich III., der nur 99 Tage regierte, der „weise Kaiser“ und er selbst der „Reisekaiser“, da er auch zusätzlich „Wilhelm der Plötzliche“ genannt, seine ständige Unrast durch Reisen zu kompensieren suchte, ausgedehnte Kreuzfahrten mit der Jacht „Hohenzollern“ noch im Juli 1914, Jagdaufenthalte in der Göhrde, der Romintener Heide, in Letzlingen etc., vgl. hierzu http://www.berliner-zeitung.de/archiv/reise-kaiser,10810590,10100586.html, Zugriff am 29.01.2014; vgl. hierzu auch Kölner Stadtanzeiger vom 20.07.2004, Wilhelm der Plötzliche

[5] Kronprinz Wilhelm, Erinnerungen, Berlin 1922, S. 137, Gespräch des Kronprinzen mit dem Reichskanzler v. Bethmann-Hollweg: „Das ist ja ausgeschlossen, England bleibt bestimmt neutral!“

[6] Kennan, George F., The Decline of Bismarcks European Order, Franco-Russian Relations 1875-1890, Princeton 1979, S. 3.

[7] Bircher, Eugen/Bode, Walter, Schlieffen, Mann und Idee, Zürich 1940, S. 203. Auf dem Sterbebett soll Generalfeldmarschall Alfred Graf Schlieffen gesagt haben: „Macht mir den rechten Flügel stark!“ Aber der Flügel war nicht stark genug.

[8] Hitler, Adolf, Mein Kampf, München 1926, S. 217.

[9] Vgl. Shirer, William L., Aufstieg und Fall des Dritten Reiches, Köln, 1961, S. 416 f.

[10] Vgl. ebenda, S. 441. Der US-amerikanische Präsident F.D. Roosevelt hatte Hitler in einer Note gemahnt, zu versichern, dass er keine Aggressionsabsichten hege. Hitler hatte in einer eigens dazu einberufenen Reichstagssitzung am 28. April 1939 diese Note in einer Rede beantwortet. Nach ebd., S. 438: „Diese Rede [war] wahrscheinlich die brillanteste, die er je gehalten hat. Denn was reine Beredsamkeit, Schlauheit, Ironie, Sarkasmus und Heuchelei anlangte, bewegte sich Hitler auf einer Höhe, die er niemals wieder erreichte“. In dieser Rede hatte Hitler zwei Verträge einseitig aufgekündigt und damit öffentlich verdeutlicht, dass er auf einen Krieg hinsteuerte.

[11] Stahlberg, Alexander, Die verdammte Pflicht, Erinnerungen 1932-1945, Berlin 1996, S. 457 f. Nach dem 21. Juli 1944 erhöhte sich die Zahl der Kriegstoten von bisher täglich 1588 bis zum 6. Mai 1945 auf täglich 16.641 Tote, was Stahlberg als entscheidendes Argument für das Wagnis des Attentats sieht.

[12] Vgl. Kohl, Helmut, Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung, Meine Erinnerungen, München 2009, S. 29-31.

[13] Vgl. Teltschik, Horst, 329 Tage – Innenansichten der Teilung, Berlin 1991.

[14] Am 15. Juli 1963 hatte Willy Brandts Berater Egon Bahr an der Evangelischen Akademie in Tutzing eine Vortrag mit dem Titel „Wandel durch Annäherung“ gehalten. Diese Formulierung galt und gilt als Kernelement von Willy Brandts Ostpolitik.

[15] Vgl. Kohl, Helmut, a.a.O., S. 79. Insbesondere die britische Premierministerin Margaret Thatcher hatte sich entschieden ablehnend zu einer möglichen deutschen Vereinigung geäußert.
[16] Ebd., S. 153.
[17] Vgl. hierzu Landeszentrale für Politische Bildung Schleswig-Holstein, Richard von Weizsäcker, Die Deutschen und ihre Identität, Reden des Bundespräsidenten, Kiel 1986, S. 57. In seiner Rede zum vierzigsten Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sagte der damalige Bundespräsident Richard v. Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Bonn u.a.: „Vierzig Jahre nach dem Ende des Krieges ist das deutsche Volk nach wie vor geteilt. Wir haben die Zuversicht, daß der 8. Mai nicht das letzte Datum in der Geschichte bleibt, das für alle Deutschen verbindlich ist“.
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