Draufgänger im Fridtjof-Nansen-Haus

[Göttinger Köpfe]: Franz Walter über Brandts Kanzleramtschef Horst Ehmke.

Gerade erst hatte er sein Notabitur abgelegt. Nun wollte er in Göttingen studieren. Wenige Monate zuvor hatte er, kaum aus der Kriegsgefangenschaft der Roten Armee entlassen, nur noch 43 Kilo gewogen. Und jetzt schlug er im niedersächsischen Harz mehrere Wochen Holz, um an eine der begehrten Lebensmittelsonderkarten für Schwerstarbeiter zu gelangen. Wir reden von Horst Ehmke, Sohn eines Chirurgen aus Danzig, 19 Jahre alt. Und wir schreiben das Jahr 1946, genauer: das Wintersemester 1946/47. Ehmke hatte Hunger, aber viel war in der Universitätsmensa am Wilhelmsplatz nicht zu bekommen, ganz überwiegend lediglich Maisbrot, wie er in seinen Memoiren Jahrzehnte später festhielt. Daher gebrauchte er die Axt für die Sonderration.

Bald fand er Unterkunft in der Göttinger Merkelstraße 4, im professoralen Ostviertel. Dort stand das „Levinsche Haus“, nach dem Tuchfabrikanten Levin benannt, der das Haus – mehr eine Villa, noch mehr: eine Art Burg oder Schloss, mit großräumiger Eingangshalle, steinernen Löwen vor dem Kamin, saalgroßen Zimmern mit Fenstern aus bleigefassten Buntglasscheiben – 1901 in Auftrag gegeben hatte. 1902 war es fertiggestellt. Später bewohnte es, bis 1933, der jüdische Professor für Experimentelle Physik und Nobelpreisträger James Franck. 1948 gründete der Norweger Olav Brennhovd hier die „Gesellschaft Internationaler Studentenfreunde e. V.“, die aus der „Levinschen Villa“ das „Fridtjof-Nansen-Haus“ machte, in der Studierende aus aller Welt Unterkunft, Bildung und Geselligkeit fanden. Horst Ehmke fand hier, in einem Nachbarhaus, gar seine spätere (erste) Ehefrau Theda.

„Wir tanzten und feierten ständig, wir hatten viel nachzuholen“, erinnerte sich Ehmke an seine Göttinger Zeit. Aber natürlich wurde auch und durchaus mit erheblichem Eifer studiert. Sein akademischer Lehrer war Rudolf Smend, der erste Rektor der Georg-August-Universität nach Kriegsende, bei dem er 1952 über „Grenzen der Verfassungsänderung“ promoviert wurde. Einige Jahre später legte Ehmke seine Habilitationsschrift zum Thema „Wirtschaft und Verfassung“ vor. Mit 34 Jahren erhielt er seinen ersten Ruf als Professor für Öffentliches Recht nach Freiburg, avancierte bald darauf, mit 39 Jahren, eben dort zum Dekan. Zu Beginn der Großen Koalition wurde er, der schon Mitte der 1950er Jahre als Assistent beim damaligen juristischen Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Adolf Arndt, gearbeitet hatte, Staatssekretär unter Gustav Heinemann, kurz darauf – als dieser zum Bundespräsident gewählt wurde – Bundesminister der Justiz. In die SPD war er bereits 1947, während seines Göttinger Studiums, eingetreten. Doch das war es – von einigen Auftritten im örtlichen SDS abgesehen – an sozialdemokratischer Basisarbeit auch schon für die nächsten 15 Jahre.

Auch deshalb verlief etlichen Traditionalisten in der SPD diese Blitzkarriere entschieden zu schnell. Sie misstrauten dem kecken Bürgersohn, der nichts richtig ernst zu nehmen schien, sich zuweilen auch über die Mythen und Ikonen des Sozialismus im schnoddrigen Ton lustig machte, der heute links, morgen Mitte, übermorgen vielleicht rechts sein konnte. Die klassischen Sozialdemokraten hatten stets angestrengt kämpfen müssen, um anerkannt zu werden, um die gesellschaftliche Integration halbwegs zu schaffen. Lockerheit und Nonchalance gehörten daher nicht zu ihren Charaktereigenschaften. Ehmke aber war alles leicht gefallen. Und so trat er auf: spielerisch, gewandt, das Leben genießend. Und seine ungewöhnlich große Intelligenz verführte ihn häufig dazu, langsamer denkenden Gesprächspartnern in die Argumentation zu fallen. Und er konnte es sich partout nicht abgewöhnen, anderen mit Ironie zu begegnen. Die sozialdemokratischen Parteitagsdelegierten ließen ihn daher 1968 durchfallen, als er für den Bundesvorstand seiner Partei kandidierte.

Dabei war Ehmke doch ein typischer Vertreter seiner Generation, die in ihrer akademischen Schicht während der 1960er Jahre in etliche Leitungspositionen der bundesdeutschen Gesellschaft eindrang, dort die Medien, die Kultur, die Wissenschaft und Universitäten, für einige Jahre auch die Politik prägte. Diese Jahrgänge konstituierten gewissermaßen die „Generation Planung“, die Kohorte „Modernität, Sachlichkeit und Effizienz“.

Der sozialdemokratische Parteivorsitzende Willy Brandt, weniger mit Ressentiments beladen als etliche seiner Parteifreunde, erkannte die besondere Begabung Ehmkes – „Horst ist unser Spezialist für alles“, pflegte er zu sagen – und machte ihn 1969 als Regierungschef der neuen sozialliberalen Koalition zum Chef seines Kanzleramts. Binnen weniger Monate wurde Ehmke sodann zum Enfant terrible der Bonner Politik. Auch im eigenen politischen Lager wimmelte es von Feinden des forschen Kanzleramtsministers. Helmut Schmidt pflegte eine heftige Abneigung gegen den ihm in vielem durchaus wesensähnlichen Vorsteher des Palais Schaumburg. Aber auch Außenminister Walter Scheel vom freidemokratischen Koalitionspartner mochte Ehmke nicht. Der SPD-Fraktionschef Herbert Wehner war ebenfalls ein Gegner. Und in den Bundestagsfraktionen von SPD und FDP fanden sich ebenso nur wenige Freunde und Sympathisanten Ehmkes. Etliche Historiker geben dieser zeitgenössischen Ehmke-Fronde auch in der Rückschau zumeist recht. Ehmke sei, so kann man in zahlreichen Abhandlungen nachlesen, nicht der richtige Mann am richtigen Platz gewesen.

Aber wie hätte er der richtige Mann sein, was genau hätte er machen müssen? In aller Regel bekommt man auf diese Frage von kundigen Interpreten des Politischen zu hören, dass ein guter Kanzleramtschef seine Funktion still, leise, unauffällig ausfüllen müsse. Dass er ohne Eitelkeit und Ruhmsucht zu Werke zu gehen habe. Dass er allein dem Kanzler die Inszenierung des Politischen in der Öffentlichkeit überlassen solle. An diesem Maßstab gemessen war Ehmke seinerzeit in der Tat eine glatte Fehlbesetzung. Ehmke war alles andere als zurückhaltend, geräuschlos, öffentlichkeitsscheu. Brandts Kanzleramtsleiter liebte vielmehr die Präsentation, die Resonanz, den Applaus, die Aufmerksamkeit des großen Publikums. Ehmke hat gewiss keine Sekunde gegen seinen Kanzler intrigiert, hat sich nicht ernsthaft als ein Rivale zu ihm aufgebaut. Aber dass er irgendwann später, sollte Brandt einmal amtsmüde werden, einen durchaus exzellenten Kanzler der Deutschen Bundesrepublik abgeben würde, davon allerdings dürfte Ehmke felsenfest überzeugt gewesen sein. Und einen Hehl machte er aus diesem strotzenden Selbstbewusstsein nicht.

So war Ehmke nun einmal. Er war ein Kraftpaket, ein Draufgänger, unaufhörlich nach vorne stürmend, dabei eine schillernd vieldeutige, man kann auch freundlicher sagen: multitalentierte Gestalt. Er war zwar ein Ordinarius, aber er war nicht professoral. Dafür wirkte er zu vitalistisch, zu hemdsärmelig, zu kraftstrotzend mit seinem amerikanischen Bürstenhaarschnitt. Er genoss – anders als viele zaudernde Professoren und Intellektuelle, die es in die Politik verschlagen hatte – die Möglichkeiten der realen Macht. Doch fehlten ihm die mitunter nötigen opportunistischen Rücksichtnahmen, die Anpassungsgeschmeidigkeit zahlreicher Politiker. Ehmke war in vielerlei Hinsicht zu intelligent für die Politik, zu schnell, zu scharfsinnig – und letztlich dadurch zu scharfzüngig. Mit langsamer denkenden Kollegen zeigte er wenig Geduld. Er fiel ihnen ins Wort, wies sie zurecht. Er konnte einfach eine gelungene süffisante Pointe auf Kosten anderer nicht unterdrücken. Man hat es oft geschrieben: Es fehlte Ehmke mitunter an Dezenz und Diskretion. So gesehen war es tatsächlich heikel, ihn auf dem Stuhl des Kanzleramtschefs zu platzieren. Denn es war ja richtig, dass der Leiter der Regierungszentrale Konflikte zwischen den Ressorts dämpfen musste, dass er zu moderieren, zu koordinieren, auszugleichen und zusammenzufügen hatte.

Und dennoch schossen die polemischen Urteile über Ehmkes Hoppla-jetzt-komm-ich-Stil weit über das Ziel hinaus, ja: sie wurden ihm nie gerecht. Es reicht nicht, wenn man sich nur auf seine unzweifelhafte Egozentrik fixiert. Egon Bahr lag schließlich nicht daneben, als er sich in seinen Memoiren bewundernd erinnerte, dass er vor und nach Ehmke niemanden kennen gelernt habe, der mehr Papier bearbeitet, mehr vom Tisch geschafft hätte. Gewiss, Ehmke hatte sich in der Regierungszentrale viel vorgenommen. Dabei scheiterte sein seinerzeit berüchtigter „Planungsverbund“, mit dem er die Reformvorhaben der Ministerien und des Kanzleramts verklammern und synchronisieren wollte, am Wiederstand der Einzelressorts, vor allem an der notorischen Eifersucht von Helmut Schmidt, auch an der Gleichgültigkeit des Kanzlers in diesen Dingen. Aber sonst hatte Ehmke das Amt gut und fest im Griff. Ehmke war kein weltabgewandter Professor, aber auch nicht lediglich ein schnodderiger Vielredner. Er war ein durchaus harter Arbeiter, der sich, wenn nötig, zwanzig Stunden am Tag durch Akten fressen konnte. Er administrierte akkurat und kompetent, entlastete damit seinen Kanzler von viel Alltagsroutine. Dass viele altgediente Ministerialbürokraten Ehmke nicht leiden konnten, zeigte nur, wie sehr er ihnen Leistungen und ungewohntes Tempo abforderte. Schließlich war das Amt in den 1960er Jahren, seit dem Abgang von Adenauer, ziemlich heruntergekommen. Ehmke führte wieder die nützliche Personalrotation zwischen Kanzleramt und Ministerien ein, die seit 1963 geruht hatte. Und er modernisierte das verstaubte Amt, sorgte für moderne Kommunikationstechniken.

Aber auch das überschäumende Temperament Ehmkes war nicht nur von Nachteil. Der Kanzler jedenfalls, um den es schließlich ging, zog daraus mehr Nutzen als Schaden. Horst Ehmke selbst sprach später in seinen Memoiren von einer „kompensatorischen Arbeitsteilung“, die er mit Willy Brandt gepflegt habe. In der Tat: Kanzleramtschefs und Kanzlerberater müssen in vielfacher Hinsicht komplementär zu ihren Kanzlern stehen; sie sollten über Fähigkeiten verfügen, die ihren Chefs fehlen; sie sollten die Kanzler ergänzen, nicht spiegeln, sollten also ihre Defizite ausgleichen, nicht ihre Stärken unterstreichen. Willy Brandt besaß ein eher grüblerisches Wesen, wich Konflikten gern aus. Ehmke hingegen liebte die Rauferei, das Kampfgetümmel, den Schlagabtausch. Ehmke war infolgedessen gleichsam Bodyguard und Blitzableiter für Brandt.

Doch nach den Bundestagswahlen 1972 musste Ehmke, auf Druck von Wehner und Schmidt, aus dem Kanzleramt verschwinden. Und nicht zufällig begann nun auch der stetige Abstieg Brandts. Ehmke selbst übernahm das Ministerium für Forschung, Technologie und Post, schied aber dort nach der Demission von Brandt ebenfalls aus. Ab 1977 war er noch für knapp 15 Jahre ein wichtiger Mann in der SPD-Fraktion, Experte für Außenpolitik, aber auch weiterhin brillant extemporierender Redner zu allen Fragen der Politik. Nach den Bundestagswahlen 1990 überwarf er sich als dezidierter Lafontainist mit dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Vogel, was ihn fortan die wichtigsten Ämter in der Partei und im Bundestag kostete. Ab 1994 gehörte er dem Parlament nicht mehr an. Seither schrieb er, bevorzugt in seinem Ferienhaus in der Eifel, Kriminalromane. Sex spielt darin eine vorzügliche Rolle. Auch geheimdienstliche Machenschaften. Natürlich Politik. Erfahrungen eben aus einem prallen Leben.

Franz Walter ist Direktor des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.