Don Quijote muss ein Pirat gewesen sein…

[kommentiert]: Christopher Schmitz über den Wahlkampf der Piratenpartei Göttingen.

Im Laufe der letzten Tage und Wochen wurde hier, in unserem Hause, viel über die kommende Landtagswahl sinniert und auch diskutiert. Es wurde erörtert, wie groß die Chancen der einzelnen Parteien wohl sind, am 20. Januar ins Leineschloss gewählt zu werden. Das Urteil über die Aussichten der Piratenpartei war dabei vielfach kurz und schonungslos: „Sie werden es nicht schaffen.“ Mehr gebe es dazu nicht zu sagen. Doch, wer den Wahlkampf der Partei auch vor Ort verfolgt hat, wird nachdenklich, hält inne und fragt sich: Gibt es tatsächlich nichts zu sagen? Wohl schon.

Man würde ansonsten unterschlagen, mit welchem Elan und Eifer die Piratinnen und Piraten hier im Lande – oder zumindest hier in Göttingen – um den Einzug in den Landtag kämpfen. Eines wird sich die Partei, wenn es dann am Sonntag wahrscheinlich nicht gereicht haben wird, nicht vorwerfen müssen: dass der Einsatz nicht gestimmt hätte. Dass man es nicht versucht habe.

Betrachten wir die Situation vor Ort: Hier in Göttingen hat die Partei eine öffentliche Vortragsreihe organisiert, die an vier Terminen im Januar Wählerinnen und Wählern die Möglichkeit bot, sich über die Kernthemen der Partei zu informieren: Parteibeauftragte und Landtagskandidaten der Partei, sei es über die Liste oder für ein Direktmandat, referierten über Schlüsselthemen: die Energiewende, das Urheberrecht, die direkte Demokratie und schließlich auch das Bedingungslose Grundeinkommen, kurz BGE.

War der Vortrag zum Urheberrecht gut besucht und wurde dort noch eine lebhafte Diskussion mit freiberuflichen Kulturschaffenden geführt, die bei einer Urheberrechtsreform nach „piratigen“ Mustern um ihren Lebensunterhalt bangen, fanden sich für den Vortrag über die direkte Demokratie leider nur sehr wenige Zuhörer. Dies ist einerseits für die Veranstalter schade und andererseits auch überraschend, wenn ein solch elementares Thema fünf Tage vor einer Landtagswahl keine Resonanz erfährt. Der Partei ist jedenfalls nicht vorzuwerfen, sie würde ihre Anliegen nicht kommunizieren wollen.

Und auch sonst scheint der Einsatz zu stimmen. Nach dem Vortrag über das Urheberrecht lief die Diskussion innerhalb der Piratenrunde noch lange nach dem offiziellen Ende der Veranstaltung weiter. Obwohl sich die Runde erst um Mitternacht auflöste, standen alle Beteiligten am nächsten Morgen wieder ab 10.30 Uhr auf dem Göttinger Marktplatz und kämpften auf ganz klassische Art und Weise am Stand neben den fünf anderen großen Parteien um die Stimmen der Wählerinnen und Wähler. Laura Dornheim, eine Piratin aus dem feministischen Zirkel der Partei, fuhr nach ihrer Beteiligung am Göttinger Wahlkampf weiter nach Oldenburg, um dort dann zu twittern:

Zur gleichen Zeit liefen in Hannover ca. fünfzig Piratinnen und Piraten in blauen Westen durch die Stadt und brachten den Bürgerinnen und Bürgern in Bus und Bahn das Konzept des fahrscheinlosen öffentlichen Nahverkehrs näher.

Aus dieser Perspektive könnte man sagen: Eine bunte Vortragslandschaft und ein kreativer Wahlkampfstil, dazu noch die innovativen Wahlplakate, das sollte doch die Wählerinnen und Wähler überzeugen. Doch hat der Landesverband ein großes Problem: Gewählt wird zwischen Elbe und Ems und nicht nur in den Piratenhochburgen wie Hannover, Göttingen oder Hameln. Die Partei hat ein Flächenproblem, was sehr deutlich wird, betrachtet man die Organisationsdichte der Partei

Die Hochburgen der Partei drängen sich zwischen Weserbergland und Leinetal, was natürlich Auswirkungen auf die Aufstellung der Partei hat. Die Wahlkreise 81 bis 87, also zwischen Meppen und Wittmund, werden in der Partei über einen einzigen, vor gerade drei Monaten gegründeten Regionalverband, den RV Ostfriesland, organisiert. Hier sind nach einer Aufstellung des Landesverbandes nur 57 Piratinnen und Piraten für diese sieben Wahlkreise organisiert. Zum Vergleich: Die Wahlkreise Hameln/Rinteln und Schaumburg haben hier vierzig Paar potentiell helfende Hände und auch die Wahlkreise Hildesheim, Alfeld und Sarstedt könnten auf 58 Köpfe zurückgreifen. Viele Wahlkreise konnten keinen Direktkandidaten aufstellen, weil schlicht keine rechtsgültige Parteivertretung vor Ort organisiert ist oder das Personal fehlt.

Organisationsdichte der Piraten: Orange: Kreisverbände; Hell: informelle Piratentreffen: Weiß: Keine Organisation (Lüchow-Dannenberg). Eigene Bearbeitung, Original: Piratenpartei Niedersachsen, CC-0

Weil in diesen Regionen kaum Wahlkampf stattfinden kann, ist natürlich die Verantwortung für die übrigen, besser organisierten Kreisverbände der Partei umso größer. Sie müssen nun für all die weißen Flecke auf der Karte mitkämpfen und jede Stimme, die dort im Wahlkampf vor Ort hätte gewonnen werden können, zusätzlich einwerben. Ein Kreisverband, der sich dieser Herausforderung stellen muss, ist Göttingen. Von hier kommt der Kandidat für den ersten Listenplatz, hier gibt es eine kleine Fraktion im Stadtrat, eine Vertretung im Kreistag. Hier finden sich eine Organisationsstruktur und engagierte Piratinnen und Piraten, die bereit sind, zu kämpfen. Und das alles, orientiert man sich an den aktuellen Umfragen, „against all odds“, wie Phil Collins diesen Umstand musikalisch wohl treffend beschreiben könnte.

Und dennoch wird die Herausforderung, soweit man das beurteilen kann, angenommen: Die Weigerung aufzugeben und die Bereitschaft, den Umfragen zu trotzen, obwohl selbige Woche für Woche ein eher schlechteres als besseres Ergebnis prognostizieren, ist an der Basis weit verbreitet. Natürlich werden die Umfragewerte zur Kenntnis genommen und natürlich befürchten die Aktiven auf der Straße, dass ein solcher Umfragewert am Ende bitterere Realitäten schafft, als sich durch Wahlkampf kompensieren ließe. Und natürlich gestehen sich Beteiligte auf Nachfrage auch selbstkritisch ein, dass die gutgemeinte Ideenkopierer-Kampagne nicht ganz so gut gelungen ist, wie sie mal gemeint war.

Dennoch kann man Zufriedenheit mit der eigenen Leistung, Zuversicht, und Hoffnung beobachten. Das persönliche Resonanzempfinden widerspreche den Umfrageergebnissen, heißt es bei den Engagierten. Der Wahlkampf bereite Freude, die Reaktionen der potentiellen Wählerinnen und Wähler seien so erfreulich wie das Wetter am vergangenen Samstag, sagen sie. Und so gewinnt man als Beobachter den Eindruck, dass es für die Engagierten auf der Straße das größte Unglück war, dass der Göttinger Oberbürgermeister am vergangenen Samstag kein Wahlprogramm der Piratenpartei entgegennehmen wollte, als er den Marktplatz passierte.

Ist dieser Optimismus Realitätsverweigerung  oder Zynismus? Oder ist es einfach der sarkastisch gefärbte Humor von Mitgliedern einer Partei, die mit dem Rücken an der Wand steht und weiß, dass sie am Sonntag nur gewinnen kann? In gewissen Netzkreisen, in denen auch die Piraten vertreten sind, sind die Comicstrips des Webcomics xkcd so bekannt und so legendär wie anderen Bevölkerungskreisen die Sketche von Loriot oder Heinz Erhardts Made. Einer der berühmtesten Strips unter dem Titel „Alternative Energy Revolution“ hat dafür gesorgt, das Bild des Don Quijote in den Köpfen der Nerds erneut lebendig werden zu lassen. Das Bild des Ritters, wie er gegen die Windmühlen zu Felde zieht, ist eine weltberühmte Metapher für den Aufstand gegen das Unvermeidliche. Von ihm scheinen viele der Wahlkämpfer inspiriert zu sein. Denn blickt man auf den Wahlkampf des Kreisverbands Göttingen, so drängt sich der Verdacht auf: Don Quijote muss ein Pirat gewesen sein. Was bleiben wird, ist das Wissen, alles gegeben zu haben.

Christopher Schmitz ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Weitere Beiträge zum Thema Piratenpartei finden sich hier.