Am 15. Oktober 2017 wurde die ÖVP bei den Nationalratswahlen in Österreich stärkste Kraft vor der SPÖ. Dem jungen Spitzenkandidaten der ÖVP, Sebastian Kurz, gelang damit ein Erdrutschsieg, durch den er den sozialdemokratischen Bundeskanzler Christian Kern ablöste. In Österreich, dem Land der „ewigen“ großen Koalition, in dem seit den 1970er Jahren fast durchgängig die SPÖ den Kanzler gestellt hat, ist dies ein großes Novum. Die zweite Neuheit, mit der sich die Weltpresse in letzter Zeit befasst hat, ist, dass der ÖVP-Spitzenkandidat Kurz erst 31 Jahre alt und somit einer der weltweit jüngsten Regierungschefs ist.
Wie konnte es dazu kommen, dass die SPÖ in Österreich stark verloren hat, während FPÖ und ÖVP, die sich im Wahlkampf an fremdenfeindlichen Äußerungen gegenseitig überboten,[1] die großen Wahlsieger sind und nun eine gemeinsame Regierungskoalition auf die Beine gestellt haben? Dem vorausgegangen war ein intensiver und harter Wahlkampf, der diesmal anders war, zumindest anders wahrgenommen wurde als alle Wahlkämpfe zuvor. Von einem „wie in den USA geführten Wahlkampf“ sprachen bereits zahlreiche österreichische Medien.[2] Denn zum ersten Mal seit Langem wurde im deutschsprachigen Raum von allen Seiten ein Wahlkampf mehr mit Schmutzkampagnen und populistischen Phrasen – v.a. über Social Media – als mit Themen geführt. Auch der gezielte Einsatz von Bots[3] war ausschlaggebend für einen neuartigen modernisierten Wahlkampf.
So hatte der Wahlkampf bereits mit einem Skandal begonnen – den die ÖVP selbst auslöste, als der junge Sebastian Kurz die Partei übernahm und sogleich die große Koalition aufkündigte. Ab diesem Zeitpunkt erlebte Österreich etwas Ungewohntes. Kurz präsentierte eine wahrscheinlich von langer Hand geplante Kampagne, indem er am Tag nach Auflösung der großen Koalition sogleich seine Website und Social-Media-Strategie änderte und auf Angriff umschaltete. Zuvor hatte Kurz seine Partei und die Jugendorganisation der ÖVP vollkommen unter seine Kontrolle gebracht: Durch seine Arbeit als Außenminister hatte er sich ein zuverlässiges Netzwerk an Unterstützern aufbauen und den amtierenden ÖVP-Vorsitzenden Reinhold Mitterlehner dauerhaft unter Druck setzen können. Als dieser geschwächt zurücktrat, stand die Partei führungslos vor einem Scherbenhaufen. Kurz erklärte sich bereit, die Führung über die Partei zu übernehmen, wenn man ihm drei Kriterien erfülle: vollständige Kontrolle über die Liste zur Kandidatenaufstellung der ÖVP, eigenmächtiges Verfassen des Programms sowie freie Hand bei der Modernisierung der Partei.[4]
Der Herausforderer des sozialdemokratischen Kanzlers Kern, der trotz seines jungen Alters schon seit Jahren in Regierungsverantwortung stehende Kurz, schnitt seine Partei vollkommen auf sich selbst zu, indem er den Listennamen von „ÖVP“ in „Liste Sebastian Kurz“ änderte, der Partei einen neuen Anstrich verpasste und alle Wahlkampftermine und -werbungen gezielt auf seine Stärken hin ausrichtete. Dabei sollte seine Partei wie eine populistische Anti-Establishment-Bewegung erscheinen. Dies begann beim Bruch mit dem sozialdemokratischen Koalitionspartner, dem Kurz Ideenlosigkeit vorwarf, und mündete in einer groß angelegten „für einen neuen Stil in der österreichischen Politik“-Kampagne.
Dabei nutze Kurz gezielt die derzeit in vielen europäischen Ländern zunehmende Kritik an den herrschenden Politikeliten. Sich als Anti-Establishment-Partei zu präsentieren, obwohl Kurz dem politischen Establishment spätestens seit seiner Berufung zum Staatssekretär für Integration im Jahr 2011 selbst angehört, ist deshalb ein kluger Schachzug gewesen. Mit seiner Bewegung, in der nicht nur Parteimitglieder, sondern jeder politisch Interessierte mitmachen konnte, gelang Kurz, die Zielgruppe der „jungen Menschen“ unter dreißig Jahren anzusprechen, die sich noch nie von den alteingesessenen Parteien adressiert gefühlt hatten.
Natürlich war dies für Kurz die einfachste Zielgruppe, da er selbst noch jung ist und sich über Social Media nach wie vor primär die jungen Wähler erreichen lassen. Kurz’ digitale Kampagne unterschied sich insbesondere von denjenigen anderer Parteien, indem er „die Community“ an seinem alltäglichen Leben teilnehmen ließ sowie im Netz stets höflich, kompetent und freundlich agierte. Kurz konzentrierte sich bei seiner Wahlkampfarbeit zudem besonders auf Praxen, die sonst nur bei bekannten Instagram- und Facebook-Influencern zu finden sind. Nicht nur perfektionierte er seine Selbstdarstellung über Bilder und Videos, sondern er versuchte auch stets, das politische Leben für den Zuschauer so interessant wie möglich zu präsentieren, indem er viel auf Prominente, aber auch auf „einfache Unterstützer“ in seinem Wahlkampfteam setzte.
Dadurch gelang Sebastian Kurz etwas durchaus Beeindruckendes: Er bespielte die Zielgruppe der jungen Menschen so stark, dass sich bald viele „junge Helfer“ im ganzen Land gefunden hatten, die Kurz bei seiner Kampagne unterstützen wollten. Jeder konnte sich in den zahlreichen Freiwilligenbüros in ganz Österreich oder online anmelden und auf fast jede erdenkliche Art die Kurz-Kampagne unterstützen – sei es klassisch am Wahlkampfstand, in der Zentrale beim Social-Media-Auftritt oder auch via Essen kochen für die anderen Helfer. Der große Anreiz, den diese Strategie für junge Menschen hatte, lässt sich v.a. damit zu begründen, dass politische Arbeit als unkompliziert und schnell dargestellt wurde. Der Einstieg war einfach und man wurde direkt mit zielführenden Aufgaben betreut, von denen man sich gleich mitgerissen fühlte. So ließ sich rasch und simpel ein großes Interesse für die politische Arbeit wecken.
Als die Kampagne in dieser Hinsicht erfolgreich lief, wurde das Augenmerk auf andere Themen ausgeweitet. Man merkte eine deutliche Verschärfung des Wahlkampfes bei Themen, die sonst eigentlich nur die populistische FPÖ abgriff, allen voran die Bereiche Zuwanderung und Migration. Sebastian Kurz fischte mit seiner Kampagne weit am rechten Rand, griff dort kursierende Ressentiments auf und etablierte sich und seine „Bewegung“ zudem als neue populistische Organisation, die gegen „die da oben“ ankämpft – obwohl er wie gesagt selbst zum politischen Establishment gehörte. Die politische Kampagne gipfelte in einer à la USA geführten Schlammschlacht zwischen ÖVP und SPÖ, als die Vorwürfe einer Denunzierungsaktion gegenüber der SPÖ publik wurden. Die SPÖ habe gezielt Social-Media-Seiten eingerichtet, um mit rassistischen und antisemitischen Aussagen gegen Sebastian Kurz im Netz zu „hetzen“, so lauteten die Anschuldigungen.[5] Wer für wen gearbeitet und wer für wen spioniert hatte, bleibt uns heute noch immer verschlossen; doch die fundamentalen Vorwürfe, mit denen dieser Wahlkampf geführt wurde, erinnerten sehr stark an das Trump’sche „Lock her up“ im US-Wahlkampf 2016.[6]
Mit seiner Bewegungskampagne konnte Kurz seine Partei von zwanzig Prozent zur mit 32 Prozent nunmehr stärksten Kraft führen. Bedeutet dies nun, dass wir uns an solche Wahlkämpfe gewöhnen müssen? Dass harte und intrigante Kampagnen jetzt auch in Deutschland geführt werden? Dass öffentliche Denunzierungen zum neuen politischen Stil gehören? Und dass immer stärker populistisch geführte Kampagnen die Zukunft des Wahlkampfs darstellen? Dies ist zu befürchten. Auch in Deutschland hat der politische Achtungserfolg von Kurz bei vielen jungen Konservativen Erstaunen und Anerkennung hervorgerufen.[7]
Im Vergleich zum österreichischen Wahlkampf ist der deutsche Bundestagswahlkampf 2017 größtenteils wieder einmal mit deutscher Nüchternheit und Ruhe geführt worden. Übermäßig harte Angriffe und Schlammschlachten blieben aus. Dagegen bot sich das Bild von zwei ähnlichen Volksparteien, und nur die AfD schoss gegen alle Parteien gleichzeitig, während der Rest des Bundestagswahlkampfes leise dahinplätscherte. Wäre also eine Orientierung an dem in Österreich geführten Wahlkampf vielleicht gar nicht so verkehrt?
Resümierend lassen sich durchaus ambivalente Schlüsse aus dem österreichischen Wahlkampf ziehen. Geführt wurde ein kompetenter Social-Media-Wahlkampf, der auch neuartige Plattformen wie Instagram und Snapchat einbezog. Da in Deutschland momentan jede Partei mit dem ewigen Nachwuchsproblem kämpft, wäre eine stärkere Ausrichtung auf jüngere Plattformen sicherlich hilfreich. Wichtig dabei ist nur, dass dies auch professionell geschieht. Sonst entsteht schnell der Eindruck, dass Akteure der älteren Generation versuchen, mit der neuen Generation mitzuhalten, was immer eine Welle des Spotts in der Online-Community nach sich zieht.
Auch die Öffnung der Parteien, die oftmals als festgefahrene Institutionen wahrgenommen werden, mag ein wichtiges Element zukünftiger Wahlkämpfe sein. In Österreich konnte man sehen, dass viele Menschen sich für Politik begeisterten, Lust hatten, in Wahlkämpfen mitzureden und diese auch zu gestalten. Dennoch ist vielen Menschen die Hürde zu hoch, in eine Partei einzutreten und dafür ein Leben lang „gebrandmarkt“ zu sein. Eine Öffnung im Wahlkampf könnte daher auch in Deutschland mehr Menschen als nur die eigenen Parteimitglieder zu politischer Aktivität motivieren.
Nicht wenige Punkte aber sollte man sich aus Österreich nicht „abgucken“ – sondern am besten sogar verhindern. So sind die populistischen Kampagnen von Sebastian Kurz ein Warnsignal: Mit Populismus lassen sich zwar Wahlen gewinnen, aber die damit heraufbeschworenen Inhalte und scheinbar „leichten Lösungen“ sind in einer Regierungskoalition meist nur sehr schwer umzusetzen. Und auch eine Schlammschlacht, in der sich die großen Volksparteien gegenseitig diffamieren, sollte nicht unbedingt zum politischen Usus werden. Schließlich ist nicht zu vergessen, dass im Wahlkampf der spätere mögliche Koalitionspartner angegriffen wird und somit die Vertrauensgrundlage einer späteren Zusammenarbeit zerstört werden könnte. Außerdem vertieft ein solch schmutziger Wahlkampf gesellschaftliche Gräben und erschwert, diese dann im Laufe der Regierungszeit wieder zu überbrücken.
Somit lässt sich eine durchwachsene Bilanz des populistischen Bewegungswahlkampfes ziehen. Der Sieger steht fest. Doch man sollte nie vergessen, mit welchen Mitteln dieser Sieg errungen wurde. Und die Zukunft wird zeigen, ob ein solch schmutziger Wahlkampf sich nicht doch noch einmal rächen wird.
Tim Julian Wook, geb. 26.03.1995, studiert Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre im 3. Semester und hat im Wintersemester 2017/2018 das Seminar „Wer sind ‚die Rechten‘? Historische Perspektiven auf rechte Bewegungen und Stichwortgeber“ besucht.
[1] Vgl. Gasser, Florian: Eine österreichische Tragödie. Bestechungsvorwürfe, ein Lügendetektortest, prügelnde Politiker, Schmutzkampagnen und jede Menge Populismus: Österreich hat den absurdesten Wahlkampf seit Langem erlebt, in: Zeit Online, 15.10.2017, URL: http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-10/oesterreich-wahl-wahlkampf-oevp [eingesehen am 23.02.2017].
[2] Vgl. Bartlau, Christian: Österreichs dreckiger Wahlkampf. Was Kurz von Trump und Haider gelernt hat, in: ntv, 13.10.2017, URL: https://www.n-tv.de/politik/Was-Kurz-von-Trump-und-Haider-gelernt-hat-article20079222.html [eingesehen am 23.02.2017]
[3] Vgl. Freiberg, Laura/Solfrank, Peter: Manipulation durch Social Bots. Wie Meinungsmache im Internet funktioniert, in: Bayrischer Rundfunk, 26.10.2016, URL: https://www.br.de/nachrichten/social-bot-erklaerstueck-100.html [eingesehen am 23.02.2017].
[4] Vgl. o.V.: Kurz als ÖVP-Parteichef nominiert. Hoch gepokert und gewonnen, in: tagesschau.de, 14.05.2017, URL: https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-regierungskrise-107.html [eingesehen am 19.02.2017].
[5] Vgl. Gasslitter, Petra: Wahlkampf auf Österreichisch oder: eine Facebook-Kampagne geht nach hinten los, in: Stern, 02.10.2017, URL: https://www.stern.de/politik/ausland/wahlkampf-in-oesterreich–eine-facebook-kampagne-geht-nach-hinten-los-7645242.html [eingesehen am 23.02.2017].
[6] Vgl. Lackner, Herbert: Sebastian Kurz. Populismus-Automat, in: Zeit Online, 16.10.2017, URL: http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-10/sebastian-kurz-oevp-oesterreich-wahl-populismus [eingesehen am 19.02.2017].
[7] Vgl. o.V.: Junge-Union-Chef erklärt Kurz zum Vorbild. in: Welt Online, 16.10.2017, URL: https://www.welt.de/politik/ausland/article169665804/Junge-Union-Chef-erklaert-Kurz-zum-Vorbild.html [eingesehen am 23.02.2017].