Streitpunkt Essen

Beitrag verfasst von: Max Blaeser
[gastbeitrag]: Maximilian Blaeser über die verfehlte Sozial- und Ehrenamtspolitik am Beispiel der Essener Tafel

„Mein Verein“ heißt eine aktuelle Sonderausstellung im Bonner Haus der Geschichte. Die Ausstellung thematisiert den Verein „als Ort von Geselligkeit und Gemeinschaft, […] der Menschen aus unterschiedlichen sozialen Milieus zusammenführt“[1]. Bis vor Kurzem galt dieser Satz auch für die Tafeln in Deutschland, die sich selbst als Orte der Begegnung bezeichneten[2]. Seit dem Entschluss der Essener Tafel, mittelfristig nur noch deutsche Staatsbürger*innen aufzunehmen, ist ein Streit über Diskriminierung bei der Tafel entbrannt. Ausgangspunkt der Essener Maßnahme war der hohe Ausländer*innenanteil der Kundschaft (75 Prozent) sowie der eigene Wunsch, „vernünftige Integration zu gewährleisten“[3]. Ältere Menschen oder Alleinerziehende innerhalb der Kundschaft, so die Essener Tafel, hätten sich zunehmend unwohler gefühlt. Vielleicht habe man, so zitiert die Süddeutsche Zeitung den Essener Tafelvorsitzenden Jörg Sartor, „zwei Jahre lang Deutsche benachteiligt – ohne es zu wissen“[4]. Die Situation polarisiert.

Während Politiker*innen wie Karl Lauterbach feststellen, dass „Ausländerhass sogar bei den Ärmsten angekommen“[5] sei, konstatiert die Bundeskanzlerin einen spürbaren Druck auf die Tafel und würdigt das große Engagement der Tafel-Ehrenamtlichen[6]. Ein Runder Tisch mit Vertreter*innen der Tafel Deutschland, der Essener Tafel sowie der Wohlfahrtsverbände und der städtischen Institutionen soll nun Lösungen erarbeiten – in einem Streit mit sich verhärtenden Fronten.[7] Wie ist der Fall Essen sozialpolitisch zu werten?

Ende der 1990er Jahre implementierte der Bundestag die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“. In deren Abschlussbericht heißt es:

„‚[…] Engagement ist eine unverzichtbare Bedingung für den Zusammenhalt der Gesellschaft“ – mit dieser Grundüberzeugung hat der Deutsche Bundestag […] die Enquete-Kommission […] eingesetzt und ihr den Auftrag erteilt, ‚konkrete politische Strategien […] zur Förderung des freiwilligen, gemeinwohlorientierten […] Engagements […] zu erarbeiten‘.“[8]

Zum damaligen Zeitpunkt war die Tafelbewegung keine zehn Jahre alt, verfügte nicht einmal über eine feste Geschäftsstelle; dennoch gab es 2002 bereits 310 Tafeln im Bundesgebiet.[9] Die Enquete-Kommission legte den Grundstein für eine Bürgerschaftsdebatte sowie einen Sozialstaatsumbau, welche die Entwicklung der Tafel maßgeblich beeinflussen sollten: Mit der „kommunitaristisch geprägten Bürgergesellschaftsdebatte“[10] und der Implementierung des Prinzips des aktivierenden Sozialstaates habe sich die Gemeinwohlproduktion von der „staatlich/gesellschaftlichen Ebene zur lokal/individuellen Ebene“[11] verschoben. Hartz IV habe, so sind sich mehrere Autor*innen einig, einen sogenannten Tafelboom ausgelöst[12]. Dessen Folge sind 753 Tafeln im Jahr 2007, und heute mehr als 930. Allein deren Nutzung durch mehr als 1,5 Millionen Menschen[13] sei ein Beleg für die kritischen Regelsätze von Hartz IV und das Problem der Ernährungsarmut in Deutschland[14]. Sieht man von der nahezu flächendeckenden Ausbreitung der Tafeln ab, stünden diese auch für eine Devolution des deutschen Wohlfahrtsstaates und eine Delegation sozialstaatlicher Aufgaben an Ehrenamtliche.[15]

Der Fall Essen ist problematisch. Die Essener Tafel hat sich, über ihre Zugehörigkeit zum Dachverband Tafel Deutschland e.V., zu universeller Hilfe verpflichtet: „Die Tafeln helfen allen Menschen, die der Hilfe bedürfen“, lautet einer der Verbandsgrundsätze.[16] Tafeln sind, laut eigener Aussage, in ihrer Arbeit selbstreflektiert[17] und haben im Rahmen der sogenannten Flüchtlingskrise ein breites Fortbildungs- und Beratungsangebot geschaffen, um mit den neuen Herausforderungen im Alltag umgehen zu können.[18] Dementsprechend hätte es sicherlich effektivere Wege gegeben, ja geben müssen, um der Situation Herr zu werden; Wege, welche – um es direkt zu formulieren – die Diskriminierung und Exklusion eines Personenkreises hätten vermeiden können.

Der Diskurs um die Essener Tafel lässt jedoch eine wesentliche Komponente außer Acht: die Politik. Der Fall lässt sich auf eine Inklusionsdebatte herunterbrechen: Können Tafeln inklusiv handeln? Einige Studien bezweifeln die Inklusionsfähigkeit der Tafeln. Mangelndes Interesse sei nicht der Grund für mangelnde Inklusionsleistungen; vielmehr seien Leistungsdruck auf die Tafeln und die Notwendigkeit von Effizienzsteigerungen im Tagesgeschäft dermaßen groß, dass Inklusion oft unbeabsichtigt vernachlässigt werde.[19]

Der Verband hat in der Vergangenheit manche Herausforderung, etwa die „Flüchtlingskrise“, gemeistert und die an ihn gerichteten Erwartungen in der Regel erfüllt. Jedoch warnte die Tafel bereits vor zwei Jahren vor einer ernsten Situation und der drohenden Überforderung der Ehrenamtlichen durch den massiven Kundenzulauf sowie den häufig schwierigen Umgang mit traumatisierten Geflüchteten.[20] Die Essener Tafel scheint aktuell – bei aller, mehr als berechtigten, Kritik an ihrem aktuellen Handeln – die Manifestation dieser Warnung und der Beleg dafür zu sein, dass auch das Ehrenamt an seine Grenzen stoßen kann. Jochen Brühl, der Bundesvorsitzende des Dachverbandes Tafel Deutschland e.V., lehnte die Entscheidung der Essener Kolleg*innen jüngst selbst ab, verteidigte sie jedoch im selben Atemzug vor einer seiner Meinung nach allzu harschen Kritik:

„Wir heißen das als Dachverband nicht gut. Für uns ist der Maßstab die Not und nicht die Herkunft. Die Tafel in Essen hat eine unglückliche Entscheidung getroffen. Ich billige das nicht, aber der Tafel daraus einen Vorwurf abzuleiten, ist absurd. […] Seit Jahrzehnten hat Deutschland ein gravierendes Armutsproblem, das stetig wächst. Dafür scheint sich niemand zu interessieren. Aber wenn eine Tafel, die ganz offensichtlich an ihre Belastungsgrenze stößt, eine solche Entscheidung trifft, wird daraus ein Riesenskandal gemacht.“[21]

Somit hat die Bundeskanzlerin durchaus recht: Es ist steigender Druck auf dem Kessel. Nicht erst seit Essen arbeiten einige Tafeln an ihrer Belastungsgrenze.[22] Diesen Druck haben vergangene Bundesregierungen, nicht selten unter sozialdemokratischer Beteiligung,[23] mitaufgebaut. Er lässt sich nur noch durch eine couragierte Sozialpolitik sowie eine systematische Entlastung des als so wichtig angesehenen Ehrenamtes reduzieren.

Maximilian Blaeser war wissenschaftliche Hilfskraft Institut für Demokratieforschung und promoviert zur Zeit über die Tafel Deutschland e.V..

[1] O.V.: Mein Verein. Übersicht, in: Haus der Geschichte, URL: https://www.hdg.de/haus-der-geschichte/ausstellungen/mein-verein/ [eingesehen am 28.02.2018].

[2] Vgl. Brühl, Jochen: Die Tafeln. Eine der größten sozioökonomischen Bewegungen unserer Zeit, in: Willers, Christoph: CSR und Lebensmittelwirtschaft. Nachhaltiges Wirtschaften entlang der Food Value Chain, Berlin/Heidelberg 2016, S. 63.

[5] Lüdeke, Ulf: Essener Tafel: Es ist eine Schande, wenn Politiker Tafel-Helfer zu Ausländerfeinden machen, in: Focus Online, URL: https://www.focus.de/politik/deutschland/kommentar-dass-politiker-die-tafel-helfer-in-rolle-von-auslaenderfeinden-draengen-ist-schaendlich_id_8537746.html [eingesehen am 28.02.2018].

[9] Vgl. o.V.: Zahlen & Fakten, in: Tafel Deutschland e.V., URL: https://www.tafel.de/ueber-uns/die-tafeln/zahlen-fakten/ [eingesehen am 28.02.2018].

[10] Selke, Stefan: Solidaritätsbrüche durch moralische Unternehmen. Grenzverschiebungen im System und Sozialraum der Tafel, in: Aschauer, Wolfgang u.a. (Hrsg.): Solidaritätsbrüche in Europa. Konzeptuelle Überlegungen und empirische Befunde, Wiesbaden 2016, S. 123–147, hier S. 128.

[11] Ebd.

[13] Vgl. o.V.: Zahlen & Fakten, in: Tafel Deutschland e.V., URL: https://www.tafel.de/ueber-uns/die-tafeln/zahlen-fakten/ [eingesehen am 28.02.2018].

[15] Vgl. Pfeiffer: Verdrängte Realität, S. 14 ff.; vgl. auch Selke, Stefan: Tafeln als moralische Unternehmen. Prinzipien und Profite der neuen Armutsökonomie, in: Gillich, Stefan/Keicher, Rolf (Hrsg.): Suppe, Beratung, Politik, Wiesbaden 2016, S. 218 sowie ders.: Tafeln als Spiegelbild der Gesellschaft. Freiwilligentätigkeit zwischen Euphorie und Paradoxie, in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, Jg. 62 (2011), S. 250–258, hier S. 255 ff.

[16] O.V.: Tafel-Grundsätze, in: Tafel-Deutschland, URL: https://www.tafel.de/ueber-uns/unsere-werte/tafel-grundsaetze/ [eingesehen am 28.02.2018].

[17] Vgl. Brühl 2016, S. 67.

[18] Vgl. o.V.: Das Aktuelle Seminarprogramm der Tafel-Akademie, in: Tafel-Akademie, URL: https://www.tafel-akademie.de/bildungsangebot/seminare/seminarprogramm/ [eingesehen am 28.02.2018].

[19] Meier, L./Sowa, F.: Inklusion von Bedürftigen durch Essenstafeln? Kritische Perspektiven auf sozialräumliche Inklusion im gewandelten Wohlfahrtsstaat, in: Berding, N. u.a. (Hrsg.): Die kompakte Stadt der Zukunft. Auf dem Weg zu einer inklusiven und nachhaltigen Stadtgesellschaft, Wiesbaden 2018, S. 331–349, hier S. 345.

[20] Vgl. Blaeser, Maximilian: Ehrenamt. Droht ein Kampf um die Reste?, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, URL: https://www.demokratie-goettingen.de/blog/ehrenamt-droht-ein-kampf-um-die-reste#_ftn16 [eingesehen am 28.02.2018].

[21] Schulz, Benjamin: Debatte über Essener Tafel. Das macht mich wütend, in: Spiegel Online, URL: http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/essener-tafel-was-der-vorsitzende-der-deutschen-tafeln-zum-fall-sagt-a-1195121.html [eingesehen am 28.02.2018].

[22] Vgl. Peters, Rolf-Herbert: Größte Tafel Deutschlands. Das untere der Gesellschaft, in: Der Stern, 29.05.2016, URL: http://www.stern.de/wirtschaft/die-tafeln–der-verteilungskampf-am-unteren-ende-der-gesellschaft-6871918.html [eingesehen am 29.05.2016].

[23] Somit ist Herrn Lauterbach zu widersprechen: Nicht unbedingt Ausländerhass, sondern vielmehr sozialstaatliches Versagen sind bei den Ärmsten der Armen angekommen.