Die seltsame Popularität des Nonkonformismus

[Philipp Kufferath] liest das Sonderheft des Merkur über Abweichler und Außenseiter.

Querdenker, Außenseiter, Nonkonformisten, Exzentriker und Unkorrekte gelten in der auf ständige Veränderung angelegten Marktgesellschaft gerade in Krisenzeiten als wünschenswerte Bereicherung der eintönigen und eingefahrenen Alltagsroutine. Sie werden als Urheber von Innovationen und Paradigmenwechseln ausgemacht, die der Konformität trotzen und so mit Kreativität und abweichendem Verhalten Neuerungen und sozialen Wandel hervorbringen. Doch was besagt diese Zuschreibung tatsächlich und wer nimmt sie vor? Unter welchen Voraussetzungen wird ein Außenseiter zum Nonkonformisten? Welche Gegenfiguren lassen sich dazu bestimmen? Und warum will eigentlich jeder Nonkonformist sein? Das Sonderheft vom Herbst 2011 der Zeitschrift Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken widmet sich diesem Fragenkomplex und beweist damit Gespür für ein allgegenwärtiges Zeitgeistphänomen.

Nonkonformismus kennzeichnet ein sperriges und widersprüchliches Verhalten des Einzelnen in Bezug auf die Gesellschaft, das sich nicht nach gängigen politischen Dichotomien einordnen lässt. Während sich in der Weimarer Republik konservative und nationalistische Gegner der Demokratie nonkonform gaben und das politische System mit scharfen Worten attackierten, diente der Begriff nach 1945 in der Bundesrepublik als Ausweis linker Gesellschaftskritik. Der Soziologe Alex Demirović bezeichnete beispielsweise die Theoretiker der Frankfurter Schule als „nonkonformistische Intellektuelle“. Seit den 1980er Jahren hat sich die Begriffsverwendung weiter ausdifferenziert. Zahlreiche liberale und konservative Intellektuelle, die den nach 1968 eingeleiteten Wertewandel als hegemoniale Dominanz der „Politischen Korrektheit“ interpretieren, nutzten den Begriff zur Selbstbezeichnung. Parallel dazu konnten jedoch auch Ökonomen und Sozialtheoretiker, die sich mit dem Erstarken des Neoliberalismus konfrontiert sahen, den Begriff mit einiger Plausibilität für sich veranschlagen. Es handelt sich also um einen relationalen Begriff, ein Deutungsmuster, das mehr über die (Selbst-)Inszenierung aussagt als über reale gesellschaftliche Kräfteverhältnisse.

Die Autoren im Merkur versuchen nun in wissenschaftlichen, essayistischen oder polemischen Beiträgen den Begriff näher zu bestimmen und ergründen die seltsam ambivalente Popularität dieser Sozialfigur. Heinz Bude liefert in seinem Artikel über „die gesellschaftliche Rolle des Nonkonformismus“ eine erste Definition:

„Nonkonformisten reagieren mit Unglauben auf das, was alle zu Glauben scheinen, und sie machen sich über Handlungsmaximen lustig, die nach allgemeiner Auffassung die soziale Ordnung begründen. Sie akzeptieren die stillen Annahmen der seriös daherkommenden Urteile nicht, und drehen sich auf dem gesellschaftlichen Parkett einfach anders herum.“

Nonkonformistisches Verhalten erwächst oft aus einer Rolle als Außenseiter, ist allerdings nicht zwangsläufiges Resultat derselben. Karl Heinz Bohrer unterscheidet die Begriffe folgendermaßen und weist auf weitere Bedingungen hin:

„Nonkonformisten sind meistens Außenseiter, aber nicht jeder Außenseiter ist Nonkonformist. Dieser Unterschied liegt in dem Umstand begründet, dass der Außenseiter erst dann nonkonformistisch wird, wenn er sein Außenseitertum, seine Abweichung von der konformen Meinung begründet. Und zwar nicht bloß als Ausdruck seines psychologisch-kognitiven Andersseins, sondern als ein Argument, das auf Dauer nicht bloß für seinen Sprecher gilt. Insofern impliziert das abweichende Angebot des Nonkonformisten immer auch eine mögliche zukünftige Konformität.“

Einen wichtigen Einwand schickt Gustav Seibt hingegen seiner essayistischen Betrachtung einzelner kulturgeschichtlicher Außenseiter voraus. Er benennt den scheinbar banalen Fakt, dass der Außenseiter trotz aller gegenwärtigen Aufwertung in der Regel ein stigmatisierter und unglücklicher Akteur ist, der keineswegs über herausragende Fähigkeiten verfügen muss. Auch Peter Bürger benennt ein grundsätzliches Dilemma des Außenseiters: Einerseits wendet sich dieser gegen Funktionsweisen der Gesellschaft, andererseits wirkt sein Verhalten auch auf die Gesellschaft zurück und gestaltet sie dadurch mit. Zudem ist eine gänzliche Abkehr von allen sozialen Beziehungen kaum denkbar, der Nonkonformist ist gleichsam in der Gesellschaft verortet und seine Positionierung sucht nach einem Resonanzraum in der Öffentlichkeit. Norbert Bolz macht dagegen das Umschlagen von Nonkonformität in eine neue „Konformität des Andersseins“ aus, die er in Form einer „Diktatur der Politischen Korrektheit“ am Werk sieht. In seiner Polemik zur Verteidigung des Reaktionärs bleibt wenig Raum für differenzierte Sichtweisen. Er sieht die großen eigenständigen Denker – dabei hat Bolz z. B. Thilo Sarrazin oder Botho Strauß vor Augen – durch den Druck einer mächtigen Öffentlichkeit gefährdet und rekapituliert damit eine bekannte Wehklage konservativer Intellektueller.

Viele Autoren beschäftigen sich anhand einzelner kultureller Manifestationen mit der Figur des Nonkonformisten. Jörg Lau sieht insbesondere Katastrophenfilme aus Hollywood wie Independence Day oder Armageddon als Beispiele für die populäre Inszenierung der Außenseiterrolle. Lange gesellschaftlich ausgegrenzt, als Mahner ignoriert oder müde belächelt, wachsen die Protagonisten dieser Filme angesichts der drohenden Zerstörung in die Rolle des Helden, der die konforme Gesellschaft vor der eigentlich verdienten Strafe bewahrt. Von Hamlet über Rousseau zu Kafka: Die Beiträge zu einzelnen Personen oder Romanfiguren zeigen, wie häufig, ja beinahe zwangsläufig Außenseiter in der Literatur thematisiert werden. Denn was wäre die Gegenfigur zum Außenseiter? Anklänge dazu finden sich vielleicht bei Adornos Begriff des „Autoritären Charakters“, bei Heinrich Manns „Untertan“ oder Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Begrifflich gehen Lothar Müller („Der Konformist“) und Jürgen Kaube („Ein Denkmal für den unbekannten Innenseiter“) diesem Phänomen auf die Spur.

Erhellend sind vor allem auch die bilanzierenden Artikel im letzten Teil des Heftes. Hans Ulrich Gumbrecht versucht den Zusammenhang von wissenschaftlichen Außenseitern und Paradigmenwechseln zu ergründen. Er rekonstruiert die Umstände, unter denen Einstein, Heidegger oder Foucault von randständigen Nonkonformisten zu wirkungsmächtigen Wissenschaftlern aufsteigen konnten. Seine Bilanz für heute ist allerdings verheerend: Die inflationäre Ausrufung von turns in den Geisteswissenschaften diene vor allem der Drittmittelakquise und liefere kaum noch wirkliche Durchbrüche. Auch in anderen Artikeln dominiert ein kulturkritischer Ton. Jürgen Paul Schwindt beginnt seine Polemik über den Zustand der Universitäten mit wuchtigen Worten:

„Die deutsche Universität ist wohlmöglich das Letzte, was uns einfällt, wenn wir an Nonkonformismus denken. Auch seit längst absehbar ist, dass die Hochschule nicht mehr der privilegierte Ort des Geistes ist, betreibt sie mit renegatischem Eifer ihre Selbstabschaffung. Sie ist die unheimliche Maschine, die den von ihrem politischen Außen verordneten oder doch erwarteten Terror der Selbstsäuberung in heftigen Schüben immer neu entfacht.“

Als positiven Gegenpunkt zur Konformität, zu der als regressiv wahrgenommenen Entwicklung in der Gesellschaft bedienen sich die Herausgeber des altgriechischen Begriffs der parrhesia, den sie mit Foucault als „Mut zur Wahrheit und zu risikoreichem Leben“, auch gegen Widerstände, verstehen. Die Verweigerung des Einzelnen, das Einstehen gegen vorgegebene oder empfundene Zwänge, dies scheint für viele Autoren die einzig mögliche Haltung. Hier schimmert oft eine eigenartige kulturpessimistische Resignation gegenüber den Umbrüchen der Gegenwart durch.

Philipp Kufferath ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.