Die Sehnsucht nach Dissens

[kommentiert]: Danny Michelsen zur Diskussion um Margaret Thatchers politisches Erbe.

Es ist schon symptomatisch für die derzeitige Agonie der politischen Kultur Großbritanniens: Die Debatte um die Angemessenheit des zu Ehren von Margaret Thatcher geplanten „zeremoniellen Begräbnisses“ hat in der vergangenen Woche mehr Leidenschaft entfacht als irgendeine gegenwartsorientierte Reformdebatte innerhalb des gesamten letzten Jahres. Selbst gegen die seit Anfang April greifenden De-facto-Privatisierungsmaßnahmen beim National Health Service, den Thatcher in den elf Jahren ihrer Regierungszeit nicht anzutasten gewagt hatte, hat in den letzten Wochen kaum noch jemand aufbegehrt. Und auch David Camerons Europa-Rede, die im Januar ein paar Tage lang die Kommentarspalten füllte, hat keine wirkliche Kontroverse angeregt. Vielleicht weil sich zur Frage nach der Zukunft der europäischen Integration – anders als noch in den 1980er Jahren, als die Eiserne Lady kein demagogisches Mittel scheute, um die Doktrin der nationalen Parlamentssouveränität gegen einen „europäischen Superstaat“ in Stellung zu bringen – zwischen den drei größeren Parteien (bzw. ihrem Führungspersonal) kaum noch ernsthafte Meinungsverschiedenheiten identifizieren lassen; und das, während die Bevölkerung hier tief gespalten ist. Das Umfragehoch der rechtspopulistischen UKIP, die bei den Nachwahlen der vergangenen Monate die besten Wahlergebnisse ihrer Geschichte verzeichnen konnte, erweist sich deshalb einmal mehr als ein guter Indikator für eine manifeste Krise politischer Repräsentation. Wie viele außerparlamentarische Oppositionsparteien erhebt der UKIP-Vorsitzende Nigel Farage gerne den Vorwurf des Opportunismus gegen die gesamte politische Klasse: „Sie sehen alle gleich aus. Sie hören sich alle gleich an. Und niemand von ihnen ist mit festen Prinzipien in die Politik gegangen.“ [1] Die rasant steigenden Mitgliederzahlen der Partei zeigen, wie sehr sie damit den Nerv der Zeit trifft.

Und so schwingt in all den geschmacklosen Hasstiraden und Schmähliedern, die in der vergangenen Woche auf „Death Parties“ in Brixton und anderswo dargeboten wurden, auch so etwas wie eine Sehnsucht nach Dissens, nach Polarisierung mit, die der Thatcherismus für eine Dekade in die britische Politik zurückgebracht hatte. „Immerhin wussten wir zu Thatchers Zeiten noch, wogegen wir standen.“ [2] Mit diesem Satz hat die Guardian-Journalistin Suzanne Moore jene nostalgischen Gefühle angesprochen, ohne die der ganze Hype um den Tod Thatchers eigentlich nur halb verständlich wäre. Viel wurde in den letzten Tagen davon geredet, dass Großbritannien nach der „Thatcher-Revolution“ der 1980er Jahre eben noch immer ein gespaltenes Land sei, dass „Maggie“ die Menschen noch nach ihrem Tod polarisiere. Ihre sozialpolitischen Kahlschläge, die selbst vor der kostenlosen Schulmilch nicht Halt gemacht hatten, die Deregulierung der Finanzmärkte, die Privatisierung maroder Staatsbetriebe: All das habe ganze Familien zerstört und – wie die Labour-Abgeordnete Glenda Jackson am vergangenen Mittwoch während einer siebenstündigen Sondersitzung des Unterhauses betonte – eine politische Kultur geschaffen, in der Gier, Egoismus und mangelnde Rücksicht gegenüber sozial Schwachen nicht mehr als Laster, sondern als Tugenden gelten. Aber Thatcher hat mit ihrem Kurs auch bewiesen, dass es das, was für eine gelingende politische Integration qua Repräsentation in Wettbewerbsdemokratien unabdinglich ist, wirklich noch gibt: die Wahl zwischen fundamentalen Alternativen. Das hat am vergangenen Mittwoch auch der Labour-Vorsitzende Ed Miliband gewürdigt: „Wenngleich sie niemals den Anspruch erhoben hätte, als eine Intellektuelle zu gelten, hat sie doch geglaubt und auch gezeigt, dass Ideen in der Politik von Bedeutung sind. […] Und niemand kann Margaret Thatchers Leistungen und den Thatcherismus begreifen, ohne die Ideen anzuerkennen, auf denen sie gründeten. Und die Art und Weise, wie sie vom vorherrschenden Konsens der Zeit abwichen.“ [3]

Hier müsste man freilich ergänzen, dass Thatcher mit dem, was sie als eine (immerhin zweimal wiedergewählte) politische Alternative präsentierte – nämlich die Stärkung des Laissez-faire-Prinzips in allen sozialen Bereichen – letztlich die Weichen für jenes neoliberale Paradigma der Durchökonomisierung des gesellschaftlichen Lebens stellte, demzufolge politische Steuerung, ja Politik im Allgemeinen in letzter Konsequenz für irrelevant und überflüssig gelten: für eine sich selbst entmächtigende Politik, die am Ende nur noch „alternativlose“ Lösungen verwaltet. Es ist der bedeutsame Beitrag der Thatcher-Regierungen zum Siegeszug dieser antipolitischen Doktrin, der in der vergangenen Woche noch einmal große Wut entfacht hat. Schließlich hat auch ihr Regierungsstil die Meinungsbildung im Land eher in Richtung Antipolitik verändert: die Zeichnung klar umrissener, den Klassendiskurs transzendierender Antagonismen zwischen den ehrlichen, „hart arbeitenden“ Leistungsträgern in der Mittelschicht und dem linksliberalen Establishment (wir, die Tugendhaften und Fleißigen, gegen den Sozialismus, Faulheit und Lähmung). Dazu zählt ebenso die Inszenierung starker personaler Führung bei gleichzeitiger Entmachtung des Kabinetts und das Schüren von Furcht gegenüber einem deutsch-französisch dominierten Kontinent. Thatcher hat sich mit Vorliebe solcher Kommunikationsstrategien bedient, die häufig als Charakteristika eines strukturellen Regierungspopulismus beschrieben werden. Glaubt man dem im letzten Jahr leider verstorbenen Parteienforscher Peter Mair, hat sich in Großbritannien längst eine Transformation von einer klassischen Parteien- zu einer „populistischen Demokratie“ ereignet. [4]

Eine Glorifizierung Thatchers werden ihre lautstarken Gegner allerdings kaum aufhalten können. Das hat bereits im vergangenen Jahr die unerträglich eindimensionale Filmbiographie The Iron Lady von der „Mamma Mia“-Regisseurin Phyllida Lloyd gezeigt. Darin wurde das Bild einer starken Kämpferin gezeichnet, die die Downing Street am Ende als gestürzte Heldin verlässt, verraten von ein paar eigensüchtigen Parteistrategen, die ihre Wiederwahl gefährdet sahen. Aber eben dieses Bild wird bleiben und es wird sich schon bald zu einem Mythos entwickeln. David Cameron hat kräftig dazu beigetragen, als er Thatcher in eine Reihe mit Lloyd George, Churchill und Attlee stellte, mit der Begründung, die Lady habe das Land vor seinem Niedergang bewahrt, es „gerettet“. Vor der Finanzkrise hätte es wohl nur wenige gegeben, die diesem Verdikt vehement widersprochen hätten. Aber heute, nachdem der Bankencrash von 2007/08 Großbritannien in eine schwere Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise gestürzt hat, sind die katastrophalen Folgen der unter Thatcher betriebenen Deindustrialisierung und Boom-and-Bust-Politik für jeden sichtbar geworden. Es ist unschwer zu erkennen, dass Cameron, der seinen „One-Nation“-Konservatismus in der Vergangenheit oft explizit mit Thatchers Marktradikalismus kontrastierte, das pompöse Gedenken am Mittwoch auch dazu nutzt, um seinem eigenen Sparkurs mit einem historischen Narrativ neuen Sinn zu verleihen. Allein, ein großer Teil der Briten hat offenbar verstanden, dass Thatcher für vieles steht, was heute Großbritanniens Schwächen ausmacht.

Danny Michelsen ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.


[1]    Nigel Farage zitiert nach: Robert Watts, UKIP celebrates with cheers, souvernirs and a rallying call to black and Asian voters, in: telegraph.co.uk, 23.03.2013 (online verfügbar unter: http://www.telegraph.co.uk/news/politics/ukip/9950323/Ukip-celebrates-with-cheers-souvenirs-and-a-rallying-call-to-black-and-Asian-voters.html)

[2]    Suzanne Moore, At least in Thatcher’s day we knew what we were up against, in: The Guardian, 11.04.2013.

[3]    Ed Miliband zitiert nach: Margaret Thatcher: Ed Miliband speech, in: The Guardian, 11.04.2013.

[4]    Vgl. Peter Mair, Populist Democracy vs. Party Democracy, in: Yves Mény/Yves Surel (Hrsg.): Democracies and the Populist Challenge. New York 2002, S. 139-154.