[kommentiert]: Benjamin Mayer und Ulf Meyer-Rewerts kommentieren die aktuelle Debatte zum Extremismus der Mitte.
„Demokratie ist kein Sockel, der – einmal erreicht – langfristig stabil bleibt.“ Diese Schlussfolgerung ist auch Leitmotiv der gerade veröffentlichten Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES): Die Mitte in der Krise.
Wenn in Deutschland über die Gefahren für die parlamentarische Demokratie diskutiert wird, verweist man meist auf die politischen Ränder, welche die eigentlichen Gegner des bestehenden demokratischen Systems seien. Der Grund hierfür ist nicht zuletzt in der dafür meist bemühten Extremismustheorie zu suchen, die in ihrer Gleichsetzung von „Rechtsextremismus“ und „Linksextremismus“ ein unterkomplexes Bild der Gesellschaft skizziert, welches eine Mitte als frei von Extremen kennzeichnet und somit für die wissenschaftliche Analyse eher Barrikaden errichtet statt einen klaren Zugang zu ermöglichen. Besonders in den letzten Monaten wurde immer wieder deutlich – nicht zuletzt durch die Sarrazin-Debatte –, dass Gefahren für die Demokratie, insbesondere den Gleichheitsgedanken betreffend, auch jenseits der politischen Ränder vorhanden sind. Entsprechend groß war das mediale Echo auf die Veröffentlichung der aktuellen FES-Studie.
Doch der Analyseansatz, welcher rechtsextreme Ideologiefragmente auch in der Mitte der Gesellschaft verortet, ist nicht neu. So verweist der Soziologe Theodor Geiger bereits 1930 darauf, dass nicht das Programm der Nationalsozialisten ihren Erfolg ausmachte, sondern es vor allem die „Sorgen und Lebensangst“ waren, die den Mittelstand bewegten – der „Verzweifelte ist leichtgläubig“. Wenn auch Ideologien wie der Antisemitismus tief in der deutschen Gesellschaft verankert waren, ist doch der Kontext, der sein Hervortreten befördert, von großer Bedeutung.
Geigers Ansätze wurden Ende der 1950er Jahre von Seymour Lipset systematisiert und als „Extremismus der Mitte“ bekannt. Lipset ergänzte die Vorstellungen von Links- und Rechtsextremismus um eben diesen „Extremismus der Mitte“. Er ging davon aus, dass alle drei Strömungen jeweils eine gemäßigte und eine extremistische Form aufweisen. Lipset analysierte dies auch anhand der Wählerbewegungen am Ende der Weimarer Republik: „Die Untersuchung der Verschiebung im deutschen Wahlverhalten zwischen 1928 und 1932 bei den nicht-katholischen und nicht-marxistischen Parteien zeigt […], daß die Nationalsozialisten weitaus mehr Stimmen auf Kosten der Parteien der Mitte und der liberalen Parteien gewannen als auf Kosten der Konservativen.“ Als Ergebnis seiner Analyse kommt er zu dem Schluss, dass der idealtypische Wähler der NSDAP ein „selbstständiger protestantischer Angehöriger des Mittelstandes“ war, der „entweder auf einem Hof oder in einer kleinen Ortschaft lebte und der früher für eine Partei der politischen Mitte oder für eine regionale Partei gestimmt hatte“.
Spätestens mit den rassistischen Ausschreitungen Anfang der neunziger Jahre ist das Schlagwort vom „Extremismus der Mitte“ wieder aktuell geworden. Unvergessen sind bis heute die Bilder des Mobs, welcher wie in Rostock-Lichtenhagen Asylbewerberheime anzündete und rassistische Parolen skandierte.
Die aktuelle Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung belegt im Vergleich zu den vorangegangenen Erhebungen einen Anstieg im Bereich antidemokratischer und rassistischer Einstellungen sowie eine leichte Zunahme sozialdarwinistischer Ungleichwertigkeitsvorstellungen. Auch der Trend, dass immer weniger Deutsche eine Diktatur befürworten, hat sich umgekehrt. Während dieser bis 2002 rückläufig gewesen sei, wünscht sich 2010 jede/r vierte Deutsche eine „starke Partei“ an der Spitze, welche die „Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“. Am deutlichsten sei ein Anstieg im Bezug auf die ablehnende Einstellung zu Menschen mit arabischem und/oder muslimischem Hintergrund zu verzeichnen. Besonders die Forderung nach Einschränkung der Religionsfreiheit muslimischer Glaubensgemeinschaften bewegt sich in Deutschland mit 58,4 % auf sehr hohem Niveau.
Was die FES-Studie abbildet ist also nichts gänzlich Neues, zeigt aber, dass die Betrachtung der Mitte als frei von Extremen ein falsches Bild vermittelt: Schließlich finden chauvinistische und ausländerfeindliche Einstellungen nicht nur bei den etablierten Parteien der Mitte hohe Zustimmungsraten zwischen ca. 20 bis 25 Prozent (bei der Ausländerfeindlichkeit sind es in Ostdeutschland bis zu knapp 40 %), sondern – in der gleichen Größenordnung – auch unter den Nichtwählern. Die Zustimmung zur rechtsextremen NPD bleibt bundesweit dennoch weiterhin deutlich unter 5%. Somit stellt sich die Frage, ob es einer neuen, rechtspopulistischen Formation gelingen könnte, jenes Nichtwähler-Potential zu mobilisieren.
Dabei könnte die schwindende Integrationskraft beider Volksparteien den Erfolg einer rechtspopulistischen Partei begünstigen. Das (inzwischen immer weiter schrumpfende) bundesrepublikanische Modell der Volkspartei, das sich nach dem Krieg zunächst in der CDU, dann auch in der SPD manifestierte, war schon immer darauf ausgerichtet, ein möglichst breites Spektrum an Milieus bzw. Schichten anzusprechen und zu integrieren. So gelang es, eine Demokratie mit einer starken „Mitte“ zu etablieren. Wohin das nichtintegrierbare Wählerpotential wandert, bleibt abzuwarten und ist auch von Stimmungen und Debatten abhängig.
Entsprechend ist Vorsicht geboten, wenn Union und SPD nun versuchen, die politischen Ränder einzufangen, wie es der verschärfte Ton der Parteien in der Integrationsdebatte zeigt. Einerseits muss eine demokratische Partei zwar darauf bedacht sein, Problemen und Ängsten der Bevölkerung entgegenzukommen und sie ernst zu nehmen; andererseits kann eine Öffnung dessen, was mach- und sagbar ist, den politischen Diskurs so weit enthemmen, dass demokratische Werte ausgehöhlt werden. Denn gerade in der Ausländer- und Integrationspolitik feiern die europäischen Populisten ihre größten Erfolge.
Hierbei stellt sich die Frage, wie man den beschriebenen Tendenzen entgegenwirken kann. Laut FES-Studie ist das Problem in der Bundesrepublik, dass die Menschen Demokratie nicht mehr als ihr Projekt begreifen und mit der Funktionsweise der Demokratie unzufrieden sind. Bestes Beispiel hierfür ist „Stuttgart 21“: Obwohl der institutionelle Weg des Projektes formal nach den Regeln der Demokratie ablief, fühlen sich die Menschen abgehängt von einem elitären, bürokratischen Apparat, der Partizipation kaum ermöglicht. Die Forderung der FES-Wissenschaftler ist, mehr Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen, damit die Menschen Demokratie wieder als ihr Projekt begreifen.
Ulf Meyer-Rewerts ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Benjamin Mayer ist Politikwissenschaftler.
Dieser Text erschien in ähnlicher Form auf dem Blog NPD-Blog.Info, einem Recherche- und Dokumentationsprojekt zu den Themen Rechtsextremismus, Neonazis, NPD sowie menschenfeindliche Einstellungen.