Revolution, Erdbeben, Zeitenwende – die Einschätzungen der Wahlen im Südwesten der Republik übertreffen sich gegenseitig. Und in der Tat, was in Baden-Württemberg passiert ist, verlangt nach Einordnung. Abgesehen von den Folgen für Land und Bund – die personellen Veränderungen in der FDP scheinen da nur der Anfang –, stellen sich zwei Fragen: Wie nachhaltig ist der Erfolg der Grünen? Schließlich erzielen die Grünen nun schon fast seit einem Jahr Zustimmungswerte in vorher unbekannten Höhen. Und welche Ursachen liegen dem Wählerzuwachs zu Grunde? Handelt es sich um einen kurzfristigen Zeitgeisteffekt – Fukushima, und, inzwischen abgeschwächt, die Katastrophe im Golf von Mexiko, scheinen hier allgegenwärtig – oder verbirgt sich hinter dem Zuwachs der Bündnisgrünen eine grundlegendere Verschiebung in den bundesrepublikanischen Mentalitätsströmen?
Ist etwa, wie Franz Walter fragt, das Ö das neue C, vermag das grüne Telos von Nachhaltigkeit und einem ökologische Morgen den Wertehaushalt der Gesellschaft so zu verändern, dass die Bündnisgrünen auch langfristig die ehemaligen Volksparteien CDU und SPD zu überflügeln vermögen?
Um Antworten hierauf zu finden, hat sich, in Zusammenarbeit mit der Heinrich Böll-Stiftung, eine Forschungsgruppe des Göttinger Instituts für Demokratieforschung gebildet, die in der Woche vor der baden-württembergischen Landtagswahl in qualitativen Untersuchungen neue – und auch alte – grüne Wähler nach ihren Einstellungsmustern und Werthaltungen befragt hat. Vor allem ein Wert schien hier über alles hinweg verbindenden Charakter zu besitzen: die Gerechtigkeit.
Dies ist überraschend, geht man doch gemeinhin davon aus, dass die „Nachhaltigkeit“ als Konfliktlinie quer zu den alten Lagern liege und deshalb am anschlussfähigsten sei. Zumal es, das zeigen die Erhebungen der Wahlforscher ebenso eindrucksvoll wie die Untersuchungen des Instituts für Demokratieforschung, das Umweltthema war, welches den Grünen vordergründig die höchste Zustimmung einbrachte. 69 Prozent hiervon glauben, die Grünen stünden für gute Umweltpolitik. Zustimmungs- und Kompetenzwerte, die bei der Baden-Württembergwahl auch zu großen Teilen in Wählerstimmen ihren Niederschlag gefunden haben.
Die Parteien indes, welche mit dem Thema „soziale Gerechtigkeit“ viel stärker verbunden werden, SPD und Linke, haben auf niedrigem Niveau nochmals verloren. Immerhin: Soziale Gerechtigkeit rangierte bei den wahlentscheidenden Themen auf Rang drei. Andererseits weisen in puncto Gerechtigkeit nur zehn Prozent der Nachwahlbefragten den Grünen hohe Kompetenzwerte zu. Trotzdem war das Thema Gerechtigkeit bei allen Befragten durchgängig der wichtigste Wert. Grund genug, sich diesem Wahrnehmungsmuster zu nähern und zu fragen: Welche Gerechtigkeit ist es denn eigentlich, die die neuen wie alten Grünenwähler meinen? Die Ergebnisse zeigen die Brisanz, die in diesem Thema steckt.
Denn hier wird Gerechtigkeit in einem breiten Spektrum diskutiert, das zum Teil augenfällig analog zur Einkommenssituation der Befragten, irgendwo zwischen FDP und Linkspartei changiert: Die Figur des Hartz-IV-empfangenden Mietnomaden, der mit Steuermitteln des Vermieters selbigen verklagt, generell die in der Wahrnehmung gestiegene materielle Anspruchshaltung der „Unterschicht“ auf der einen trifft hier auf die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens und der Solidarität mit ausgebeuteten Zeitarbeitern und Opfern des ungleichen Bildungssystems auf der anderen Seite. Bemerkenswert selten wird die Idee der Gerechtigkeit frei von Voraussetzungen verhandelt.
Denn auch wenn man sich im Ländle selbstbewusst und selbstzufrieden auf der Sonnenseite der Republik wähnt, ist man nicht sogleich bereit, den Länderfinanzausgleich ohne Vorleistungen der Nehmerländer zu akzeptieren. Eigenverantwortliches Entgegenkommen ist bei besserverdienenden Neuwählern Grundvoraussetzung für Gerechtigkeit, ebenso bei den grünen Stammwählern. Bedingungslose Solidarität ist in diesen Gruppen kaum zu vernehmen, wird vom Gedanken der Hilfe zur Selbsthilfe weit überlagert. Aber auch die Idee der Eigenverantwortung ist hier bunt schattiert, wird sowohl – über Eigenständigkeit und Begrenzung der Politik – als Befreiung verhandelt, als auch als Anleitung für eine bessere Welt, in der verantwortliches (Konsum-)Handeln – auch als Verzicht – die zentrale Rolle spielt. Die Idee der gerechten, solidarischen Gesellschaft trifft auf einen individualistischen Abschied von der Gesellschaft.
Nun sind diese Debatten in der Tat nicht neu, vor allem nicht für die Grünen. (Auch die Sozialdemokratie, mindestens seit Schröder, kann ein Lied hiervon singen.) Vor allem das Thema Chancengerechtigkeit vs. Verteilungsgerechtigkeit ist in der grünen Partei schon lange heftig umkämpft und umstritten. Denn anders als das Ökologiethema ist die Gerechtigkeitsfrage auch innerhalb der grünen Partei weitgehend ungeklärt. Wie viel Bürger-, mithin Eigenverantwortung ist zumutbar, wie viel Umverteilung zu ertragen und vor allem: wie viel Verteilung notwendig oder eben womöglich gar hinderlich? Noch verstecken sich die Bündnisgrünen hinter dem Peter-Siller’schen Formelkompromiss des „erweiterten Gerechtigkeitsbegriffs“, womit es gelungen ist, die sozialpolitischen Gräben zuzuschütten. Schließlich flammt dieser Konflikt bisher nur selten auf, zuletzt bei der Bundesdelegiertenkonferenz in der Kontroverse um die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze.
Noch scheint der Streit beherrschbar, doch die Werthaltungen der neuen grünen Wähler stellen die Frage, wie es die Grünen mit welcher Gerechtigkeit halten, erneut in aller Deutlichkeit. Und dennoch scheint nichts gefährlicher, als hierauf eine Antwort zu liefern. Die Architekten der Agenda 2010 mögen als warnendes Beispiel genügen. Denn auch dies zeigte sich in den Befragungen: Ein konsistenter Gerechtigkeitsbegriff existiert für alte wie neue grüne Wählern nicht. So politisiert die Frage der Gerechtigkeit im linken Lager ist, so wenig scheint sie für grüne Wähler tatsächlich virulent. Kurzum, von den Grünen erwartet man die Lösung dieser Frage nicht – zumindest auch ein Zeichen dafür, dass diese sich allmählich aus dem linken Lager lösen.
Was man sich von der Partei indes erhofft, ist eine saubere, ehrliche und transparente Umweltpolitik, denn die Energiewende wird letztlich nur den Grünen zugetraut. Der Vertrauensverlust in die Südwest-CDU ist hier die Folie, vor der die Grünen eigentlich nur gewinnen können. Andererseits lagert man so das Füllen des Gerechtigkeitsbegriffs auf den jeweiligen Koalitionspartner aus. Doch hier liegen noch immer Welten zwischen schwarz-grüner Bürgerverantwortung und rot-(rot-)grüner Staatsverantwortung. Der jeweils andere Teil der Wählerschaft dürfte ob einer zu starken Nuancierung in die eine oder andere Richtung wieder von den Grünen abfallen. Doch solange diese Gräben durch Formelkompromisse zugeschüttet und eine konsequente, alle anderen Themenfelder überlagernde Ausrichtung auf die Umweltpolitik dominiert, solange dürften die Blütenträume einer grünen Kanzlerschaft weitergeträumt werden.
Dies ist die Herausforderung, an der die Grünen um Winfried Kretschmann gemessen werden. Und die Bewertungsmaßstäbe sind ob der heterogenen Wählerschaft nur mit einem riesigen Spagat zu bewältigen. Die neuerstarkte Partei wird sehr viel sehr schnell, sehr unterschiedlich, sehr richtig machen müssen, um die neu gewonnen Wähler auch auf lange Sicht an die Partei binden zu können.
* Mitarbeit: David Bebnowski, Klaudia Hanisch, Lea Heyne, Daniela Kallinich, Katharina Rahlf, Elena Segalen, Christian von Eichborn, Andreas Wagner und Benjamin Wochnik.
In Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung führt das Göttinger Institut für Demokratieforschung derzeit ein Projekt zum Thema „Zeitgeisteffekt oder grüner Wertewandel? Die neuen grünen Wähler_innen“ durch. Dieser Text präsentiert erste Ergebnisse dieser Forschung.