Der Reichstag – ein Ort der Demokratie

Beitrag verfasst von: Marika Przybilla

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[kommentiert]: Marika Przybilla über den deutschen Bundestag als Ort der Demokratie.

Hinterzimmermauscheleien, „die da oben“, „Politik fern ab von der Wirklichkeit“. Betrachtet man Umfragen der letzten Jahre und Jahrzehnte, wird deutlich, dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland das Gefühl haben, die Politik und ihre Vertreter würden sich von ihnen und ihrer Lebenswirklichkeit immer weiter entfernen. Schon 1992 wurde „Politikverdrossenheit“ zum Wort des Jahres gewählt.[1] Viele scheinen den Eindruck gewonnen zu haben, dass die Politiker ihre Pläne weit ab von der Bevölkerung schmieden und trotzdem den Anspruch vertreten, allgemeinverbindliche und am Allgemeinwohl orientierte Entscheidungen zu treffen. Diese Wahrnehmung steht jedoch nicht nur in krassem Gegensatz zu der eigentlichen Intention von Demokratie, der Herrschaft des Volkes, sondern sie erscheint auch noch geradezu paradox in Anbetracht von Lage und Anlage des deutschen Parlamentssitzes: dem Reichstag in Berlin-Tiergarten inmitten der Bundeshauptstadt, der für jedermann sichtbar und besuchsoffen ist, zudem den Schriftzug „Dem deutschen Volke“ trägt. Aber inwieweit kann ein Gebäude deshalb als Garant für die Qualität der demokratischen Verfasstheit innerhalb des Landes fungieren?

Zunächst: In einer repräsentativen Demokratie soll der Volkswille vertreten werden, sollen die politischen Vertreter im Sinne der jeweiligen Bürger und Wähler handeln. Diese gewählten Repräsentanten bilden das Parlament, das sich an einem bestimmten Ort versammelt. In Deutschland ist dieser Ort heute das Reichstagsgebäude, welches von dem englischen Architekten Paul Wallot innerhalb von zehn Jahren errichtet und 1894 fertiggestellt wurde. Dieser geschichtsträchtige Ort hat bis dato einiges miterlebt und ist bis in die Gegenwart stiller Zeuge der deutschen Politikgeschichte. Hier tagte bereits das Parlament des deutschen Kaiserreiches, später auch das Parlament der Weimarer Republik. Das Reichstagsgebäude diente als Ausstellungsort der Nationalsozialisten, wobei der Plenarsaal von ihnen ungenutzt blieb. Der Reichstag überstand zwei Weltkriege, einen großen Brand, wurde mehrmals modernisiert, verhüllt, war Kunstprojekt und seit den 1990er Jahren dient er erneut als Sitzungsort des nationalen Parlaments. Gemeinsam mit dem Land legte er auf dem Weg zu Demokratie einen bisweilen äußerst steinigen Weg zurück.

Schon die Entstehung des Gebäudes war von unterschiedlichsten Interessen beeinflusst und gezeichnet. Zunächst sorgte die Entscheidung für den Standort am damaligen Königsplatz in Berlin für hitzige Debatten zwischen dem Kaiser, der Reichstagskommission und dem damaligen Nutzer des Grundstückes, dem preußische Diplomaten Raczynski. Dieser wollte keineswegs das Grundstück verlassen, geschweige denn verkaufen. Kurzzeitig geriet innerhalb der Kommission auch die Entscheidung für den Standort Berlin ins Wanken, da einige ihrer Mitglieder der Überzeugung waren, dass „der Berliner an sich“ im Vergleich zur übrigen Bevölkerung Deutschlands zu eigenartig sei und es daher fraglich wäre, in Berlin zu bauen, da diese Stadt nicht repräsentativ für das Land sei.[2] Und auch die Planung des Gebäudes war von Diskussionen begleitet: Die Ausschreibung erregte die Architektengemeinde, denn der Wettbewerb sollte auch für internationale Bewerber offen sein, wogegen sich die deutschen Architekten allerdings sträubten. Ein Gebäude für die Deutschen, das deutsche Parlament, gebaut von einem „Fremden“? Dies erschien als unmöglich.[3]

Das Tauziehen, Allianzenschmieden, das Überreden, Überzeugen sowie das Debattieren nahmen ihren Lauf. Letztlich erlangte der Staat das Grundstück des mittlerweile verstorbenen Raczynski und der Architekt Paul Wallot aus Großbritannien gewann mit seinem Konzept die Ausschreibung. Doch auch dieser Entwurf wurde auf das Heftigste diskutiert. So wurden Personenaufzüge gefordert, da der Sitzungssaal zu weit oben läge, und sich um die Helligkeit im Plenarsaal gesorgt. Aus der zunächst als steinern geplanten Kuppel über dem Sitzungssaal wurde letztlich eine gläserne, die über den Politikern thronen und für genügend Licht im Saal sorgen sollte.[4] Für das Gebäude folgte alsdann eine von Konflikten und Kriegen geladene Zeit, die an ihm nicht spurlos vorüberging.

Nach dem Zweiten Weltkrieg mutete der Zustand des Gebäudes fast schon symbolisch für jenen Deutschlands an: Der Reichstag war eine Ruine, von den Verheerungen des Kriegs gezeichnet. Während allerdings das Land samt seiner Politik wiederaufgebaut wurde, blieb das Schicksal des maroden Gebäudes lange unklar, seine Rolle sowie sein Verbleib waren umstritten. Für einige symbolisierte es die Nation, welche so viel Unheil über das Land und die Welt gebracht hatte. Für andere wiederum war es ein Gebäude, welches die deutsche Geschichte schon lange vor dem Nationalsozialismus symbolisiert hatte und das sie deshalb nicht mit den nationalsozialistischen Verbrechen assoziierten, sondern als Teil einer sich schon zuvor entwickelnden Demokratie sahen.

Im Laufe der Diskussionen setzten sich die Verfechter des Reichstags durch und er wurde auf die Liste für instandsetzungsfähige Gebäude gesetzt. Schließlich wurden 1957 durch den Bundestag 25 Millionen Mark für das Projekt „Wiederaufbau Reichstagsgebäude“ bewilligt.[5] Die Trennung des Landes und die Verlagerung des westdeutschen Regierungssitzes nach Bonn bedeuteten dabei nicht das Ende für die Wiederinstandsetzung – diese wurde weiter vorangetrieben, weil es sich beim Reichstag um ein nationales Symbol handelte. In der DDR hingegen blieb Berlin zwar die Hauptstadt, doch Regierungshauptsitz wurde der Palast der Republik. Nach dem Fall der Mauer und den damit einhergehenden Diskussionen über die zukünftige Hauptstadt rückte auch der Reichstag zurück in den Fokus der politischen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Nach der Wiedervereinigung wurde in seinem Plenarsaal die erste Sitzung des gesamtdeutschen Bundestags abgehalten und mit dem Berlin-Beschluss 1991 wandelte sich die Rolle des Gebäudes erneut: Die politische Zukunft Deutschlands sollte in Berlin, an diesem geschichtsträchtigen Ort stattfinden und dabei auf den demokratischen Grundwerten basieren. Diese sollten auch in der Architektur des Gebäudes zu erkennen sein, sodass im Juni 1992 der Wettbewerb „Umbau des Reichstagsgebäude zum Deutschen Bundestag“ ausgelobt wurde.[6] Der Reichstag sollte Transparenz, Bürgernähe und Kommunikationsfreude zum Ausdruck bringen[7] – Werte, die auch für eine funktionierende Demokratie gelten. Auch diesmal gewann mit dem Architekten Norman Foster ein Brite den Wettbewerb für die Gestaltung des Gebäudes.

Im endgültigen Entwurf Fosters ist viel von der Geschichte und Symbolik des Reichstags wiederzufinden. So ist der Schriftzug „Dem deutschen Volke“ erhalten geblieben, Glas als Inbegriff von Transparenz dominiert die Architektur. Die markante Glaskuppel sticht sofort ins Auge, gerade sie verbindet die gewünschte Transparenz mit der Geschichte des Reichstages. Die Kuppel ist direkt über dem zentralen Plenarsaal platziert und versorgt diesen mit Tageslicht und Frischluft. So entsteht eine Verbindung, gar ein Austausch mit der Außenwelt und findet – so zumindest der Anspruch – keine Abschottung der tagenden Politiker von ihrer Umwelt statt.

Nach seiner Fertigstellung war der Besucheransturm enorm, jeder wollte das Resultat mit eigenen Augen betrachten. Diese Nähe zur Bevölkerung, die freien Einlass in das Gebäude und somit in das Herz der Demokratie hatte, war beeindruckend. Der Besucherandrang wurde auch im Laufe der Zeit nicht geringer. Die weitläufige Rasenfläche vor dem Reichstag wurde von Besuchern und Bewohnern der Hauptstadt genutzt. Das Gebäude war den Menschen nah und erlaubte, Demokratie und Politik vor Ort mitzuerleben und zu betrachten.

Bis heute kann der Reichstag besucht werden, allerdings unter neuen Sicherheitsauflagen. Warteschlangen bilden sich nun nicht mehr direkt auf der Treppe, sondern an den weit vorgelagerten Sicherheitsschleusen. Besucher müssen sich zuvor anmelden, auch die Rasenfläche darf nur noch bedingt betreten werden; zu beschädigt war sie durch die Nutzung der Bürger. Der Reichstag hat inzwischen – trotz seiner gläsernen und offenen Architektur – an Nähe für die Bürger verloren. Er ist und bleibt aber Symbol der deutschen Geschichte und gilt auch wegen seiner Aufschrift „Dem deutschen Volke“ manch einem als stiller Mahner der Geschichte. Ein Garant für eine stabile und funktionierende Demokratie ist er jedoch nicht, er erinnert immer nur wieder an ihre Werte.

Marika Przybilla ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

 

[1] Vgl. http://gfds.de/aktionen/wort-des-jahres/ [Website der Gesellschaft für die deutsche Sprache, Zugriff am 17.05.2015]

[2] Vgl. Cullen, Michael (1995). „ Reichstag. Parlament, Denkmal, Symbol“. S. 45 ff.

[3] Ebd. S. 49 f.

[4] Ebd. S. 85 ff.

[5] Ebd. S. 259 f.

[6] Vgl. Körner, Sabine (2003). „Transparenz in Architektur und Demokratie“, S. 80ff.

[7] Vgl. ebd. S. 124.