[kommentiert]: Stephan Klecha über das Wahlrechtsurteil des Bundesverfassungsgerichts.
Es gibt wohl kaum ein essentielleres Recht in einer repräsentativen Demokratie als das Wahlrecht. Der Wahlakt ist die ursprüngliche Willensäußerung der Bevölkerung darüber, wie sie repräsentiert werden soll. Nun ist kein Wahlrecht frei von Absurditäten oder Nachteilen. Seine Ausgestaltung kann die Mehrheitsbildung im Parlament beeinflussen und darüber den Wählerwillen ad absurdum führen. Die im Parlament vertretenen Parteien handeln bei (Neu-)Regelungen des Wahlrechts zudem immer auch in eigener Sache. Daher erliegen sie schnell der Versuchung, das jeweils für sie passende Wahlrecht zu beschließen. Genau das haben die Koalitionsfraktionen nun versucht. Anlass dazu war das negative Stimmengewicht, welches eine Änderung des Wahlrechts erforderlich werden ließ. Diese Absonderlichkeit des deutschen Wahlrechts bewirkt im Kern, dass ein Zugewinn von Zweitstimmen im Zusammenspiel mit erlangten Überhangmandaten zu einem Verlust von Mandaten führen kann (und umgekehrt). Nachdem dieser Effekt 2005 bei der Bundestagswahl unzweifelhaft erkennbar geworden war, hatte das Bundesverfassungsgericht ihn als Verstoß gegen die Prinzipien der Erfolgswertgleichheit der Stimmen gewertet, der nicht mehr hinnehmbar sei.
Nun hat die Regierungsmehrheit die sich daraus ergebende Gelegenheit nicht verstreichen lassen und das Wahlrecht ihren Bedürfnisse angepasst. Die Unionsseite wollte dabei die für sie gegenwärtig hohe Zahl an Überhangmandaten sichern. Als Ausgleich dafür wollten die Liberalen eine so nicht nachvollziehbare Reststimmenverwertung erhalten. Herausgekommen ist ein Konstrukt, welches zur Folge hätte, dass Stimmengewinne der einen Partei einen Mandatsgewinn bei einer anderen nach sich ziehen können und faktisch zwei Grundmandate für alle Fraktionen festgelegt werden. Ein derart groteskes Wahlrecht konnte schwerlich vor dem Verfassungsgericht Bestand haben. Einstimmig sahen die Karlsruher Richter in der Tat darin einen Verstoß gegen die Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl, wie sie Artikel 38 des Grundgesetzes verlangt.
Nun hätte der Senat unter Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle die Gelegenheit nutzen und dem Bundestag ein neues Wahlrecht dekretieren können. Eine solche Entscheidung wäre allzu verständlich gewesen, schließlich hat der Bundestag die zuvor gesetzte Frist zur Beseitigung des negativen Stimmengewichts untätig verstreichen lassen. Trotzdem hat das Gericht klugerweise davon Abstand genommen, sich an die Stelle des Parlaments zu setzen. Es ist ja gerade der Kern demokratischer Souveränität, dass die Organisation des Staatswesens eben nicht via Oktroi verkündet wird, sondern Teil des demokratischen Aushandlungs- und Entscheidungsprozesses ist, ja sein muss. In der Urteilsbegründung hat das Gericht nun dem Gesetzgeber nochmals erläutert, welche Optionen er grundsätzlich hat. Soweit aber Elemente verschiedener Wahlsysteme kombiniert würden, sind Verstöße gegen die Erfolgswertgleichheit zu begründen oder auf ein unausweichliches Maß zu begrenzen. Eigentlich ist das eine klare Handlungsanleitung – wobei der Gesetzgeber aus den genannten Gründen gerne davon abweicht.
Das Gericht hat nicht nur aus dieser grundlegenden Erwägung heraus darauf verzichtet, weitere Vorgaben zu machen, sondern auch aus rechtsdogmatischen Gründen. Eine Rückkehr zum alten Recht ist nämlich abgeschnitten. Unmissverständlich hat das Gericht verfügt, dass dieses auch nicht hilfsweise zur Anwendung gelangen kann, selbst wenn es zu einer vorgezogenen Neuwahl des Bundestags käme. Nur in diesem besonderen Falle würde das Gericht sich dazu verleiten lassen und ein Wahlrecht verordnen. Doch davor möge der Gesetzgeber sowohl das Gericht als auch die politische Kultur im Lande bewahren; denn es wäre ein Armutszeugnis für die Demokratie. Der Ball ist somit korrekterweise wieder im Spielfeld der Politik.
Diese muss sich gleichwohl mit einer Regelung herumschlagen, die ihr die Verfassungsrichter erwartungsgemäß noch nebenbei aufgetragen haben. In partieller Revision ihres früheren Urteils haben sie nämlich für die anfallenden Überhangmandate eine neue Obergrenze gesetzt. Mit maximal 15 solcher zusätzlichen Mandate ist die bislang aus dem Schrifttum überlieferte Größenordnung faktisch halbiert worden. Etwas unwohl war dem zweiten Senat bei dieser Setzung schon. Dabei hatte er zwar augenscheinlich weniger Probleme, ein früheres Urteil zu revidieren. Vielmehr missfällt ihm, dass die Grenze willkürlich gezogen ist, wie in der Urteilsbegründung auch unumwunden zugegeben wird. Dennoch ist diese Vorgabe nachvollziehbar.
Schließlich wurde auf zwei unterschiedliche Problemlagen reagiert. Die meisten Überhangmandate sind internen Ursprungs. Sie fallen an, weil es im Zusammenspiel von Ober- und Unterverteilung bei der Mandatszuteilung vorkommen kann, dass eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erlangt als ihr proportional eigentlich zustünden. Hier wäre Abhilfe durch eine Verrechnung oder einen Ausgleich möglich. Allerdings kann dabei die Zahl der Ausgleichsmandate immens anwachsen. Noch viel mehr gilt das aber für den Fall externer Überhangmandate. Diese entstehen, sobald die Gesamtzahl der Direktmandate einer Partei deren Proporzanspruch aus der Oberverteilung übersteigt. Bislang ist das einmal der Fall gewesen: 2009 bei der CSU. Ein Ausgleich dieser Überhangmandate hätte aber gleich etliche Ausgleichsmandate erfordert. Die neue Obergrenze von 15 bewirkt nun zweierlei: Erstens lässt sie dem Gesetzgeber einen Toleranz-Spielraum, hinsichtlich einer möglichen Unwucht gerade bei den externen Überhangmandaten. Zweitens eröffnet sie ihm aber auch die Möglichkeit, das einheitliche Wahlgebiet in 16 eigenständige Wahlgebiete aufzuteilen, wodurch interne Überhangmandate sämtlich in externe transformiert würden. Um aber einem etwaigen Folgeproblem gleich vorzugreifen, ist durch die neue Obergrenze die latente Gefahr einer Umkehrung der Mehrheiten ebenfalls minimiert worden. Auch wenn dieses Problem 2009 nicht eintrat, haben die gegenwärtig 24 Überhangmandate doch einen mehrheitsverstärkenden Effekt für die Koalition, was in Anbetracht der jüngst verfehlten Kanzlermehrheiten überaus relevant ist.
Alles in allem ist dem Verfassungsgericht eine nicht einfache Operation gelungen. Ein in der Sache eindeutiges Verwerfen eines absurden Wahlrechts kombinieren die Richter mit einem klaren Plädoyer für die demokratische Souveränität und einer Akzeptanz von Restunschärfen, was dem Bundestag einen weiterhin großen Gestaltungsspielraum gewährt. Insgesamt betont das Urteil also den demokratischen Gehalt der deutschen Verfassungsordnung. Die Richter erkennen die diesem innewohnende menschliche Präzisionsschwäche und vielleicht auch ein Stück weit machtspezifische Motivation an. Das alles gehört zweifelsfrei zu einer Demokratie. Entscheidend ist aber am Ende: Wahl- und Entscheidungsverfahren sind eben keine abstrakt technokratischen Regelungsfragen, sondern Kernbestandteil einer demokratischen Ordnung.
Dr. Stephan Klecha ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.