„Dem Bundesverfassungsgericht kommt kein politisches Mandat zu“

[kommentiert]: Till Patrik Holterhus über die Debatte zum ESM-Verfahren des Bundesverfassungsgerichts.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat gesprochen. Wie von vielen Seiten erwartet, wurden die zur Ratifikation des ESM-Vertrages und Fiskalpaktes notwendigen und so häufig als „alternativlos“ bezeichneten Gesetze für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt.

Aus verfassungsrechtlicher Perspektive mag dies überraschen – hatte das Bundesverfassungsgericht doch noch in seinem großen Urteil zum neuen Lissabonner Vertragswerk betont, dass das Grundgesetz bei weiteren Integrationsschritten wohl an seine Grenzen stoße. Dieser Linie ist das Bundesverfassungsgericht nun jedoch zumindest insoweit treu geblieben, als dass es sein aktuelles Vereinbarkeits-Urteil an bestimmte Bedingungen geknüpft und dabei erneut auf die Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages gepocht hat. So wurde der Bundesregierung aufgegeben, auf völkerrechtlicher Ebene zweierlei sicherzustellen: Zum einen, dass die im ESM-Vertrag geregelte mitgliedstaatliche Haftungsbeschränkung nicht ohne die Zustimmung des Deutschen Bundestages überwunden werden dürfe, und zum anderen, dass die berufliche Schweigepflicht der für den ESM tätigen Personen einer umfassenden Unterrichtung des Bundestages und des Bundesrates nicht entgegenstehe. Von diesen Auflagen abgesehen, waren die Anträge auf Erlass einer einstweiligen, den Ratifikationsprozess aussetzenden Anordnung im Ergebnis jedoch ganz überwiegend erfolglos.

Dass sich nach der Urteilsverkündung nichtsdestotrotz – wie es ja mittlerweile auch nach verlorenen Wahlen zur politischen Übung gehört – praktisch alle Beteiligten als Sieger des Verfahrens verstanden, war dennoch zu erwarten. Der Niedergang der Europäischen Union erfreulicherweise abgewendet, der Ausverkauf des deutschen Demokratieprinzips gerade nochmal gestoppt. Man darf wieder ruhig schlafen. Diesen Eindruck erwecken jedenfalls die Äußerungen der Verfahrensbeteiligten als Grundlage der Urteilsbewertung. Jedoch steht vielmehr fest: Welche konkrete (verfassungsrechtliche) Bedeutung dem Richterspruch bzw. der daraus folgenden Ratifikationserlaubnis im Kontext der Finanzmarktstabilisierung und gesamtheitlichen Entwicklung der Europäischen Union im Ergebnis tatsächlich zukommt, wird sich erst in Jahren zeigen.

Bereits zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich hingegen bedauerlicherweise konstatieren, dass die deutsche Verfassungskultur jedenfalls einen nicht unerheblichen Schaden genommen hat. Denn wie auch immer man zur Karlsruher Interpretation des Grundgesetzes im konkreten Fall steht, das eigentliche Ärgernis ist in der vorausgegangenen Debatte um Art und Ausmaß der grundgesetzlichen Mandatierung des Bundesverfassungsgerichts zu sehen. So wurden Verantwortliche und Befürworter der zur Rede stehenden Gesetze nicht müde, kundzutun, das Bundesverfassungsgericht solle doch tunlichst seine Kompetenzen im Auge behalten und bitte so vernünftig sein, ein den schwierigen politischen Umständen angemessenes Urteil zu fällen. Es ginge schließlich um nicht weniger als den Fortbestand der europäischen Währung, ja gar der Europäischen Union insgesamt. Auch wurde in Politik und Presse mitunter der Eindruck erweckt, Gegenstand des Verfahrens wäre nicht die – zugegeben nicht einfache – Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der zur Ratifikation notwendigen Gesetze, sondern die Europäische Idee als solche. Dabei wurde nicht selten versucht, dem Bundesverfassungsgericht einen gewissen Selbsterhaltungstrieb zu unterstellen. Schließlich wäre klar, dass ein Mehr an europäischer Integration immer auch ein Weniger an verfassungsgerichtlichem Einfluss aus Deutschland bedeute.

Eben jene Behauptungen – mitunter muss man sie wohl als Einschüchterungsversuche bezeichnen – sind dem Gericht jedoch nicht nur unwürdig, sondern haben auch mit der Realität recht wenig gemein. Dem Bundesverfassungsgericht kommt kein politisches Mandat zu. Seine verfassungsmäßige Aufgabe besteht darin, über das Grundgesetz zu wachen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die politische Idee hinter einem Gesetzesvorhaben kann und darf für dessen verfassungsrechtliche Beurteilung daher niemals ausschlaggebend sein. Dies gilt selbst dann, wenn es um die angebliche Rettung der Europäischen Union geht. Hätte das deutsche Grundgesetz die nun für vereinbar erklärte europäische Integrationspolitik nicht länger getragen, so wäre dies aus verfassungsrechtlicher Perspektive mit all seinen Konsequenzen zu akzeptieren gewesen. Auch dann, wenn dies die grundlegende Neuschaffung eines erweiterten Grundgesetzes per direktem Volksentscheid erfordert hätte.

Der durch den Stil der Debatte angerichtete Schaden besteht jedenfalls in der öffentlichen Verschleierung des rein verfassungsrechtlichen Mandats und – so ist es zu befürchten – dem daraus folgenden Vertrauensverlust der Bevölkerung in das höchste deutsche Gericht. Schon dies ist – nicht nur demokratietheoretisch – äußerst bedauerlich.

Als ungleich größerer Schaden wäre jedoch eine tatsächlich geglückte Einschüchterung des Gerichts zu bezeichnen. „Ich schwöre, daß ich als gerechter Richter allezeit das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland getreulich wahren und meine richterlichen Pflichten gegenüber jedermann gewissenhaft erfüllen werde.“ So lautet der richterliche Schwur zu Beginn der Amtszeit eines jeden Verfassungsrichters. Man sollte davon ausgehen, dass die Karlsruher Verfassungshüter ein an diesem Schwur und damit ausschließlich am Grundgesetz gemessenes Urteil gefällt haben. Alles andere wäre mit Fug und Recht als Niederlage des deutschen Rechtsstaates zu bezeichnen.

Till Patrik Holterhus, MLE, studierte Rechtswissenschaften in Göttingen, Galway (Irland) und Berkeley (USA). Zurzeit verfasst er seine Dissertation zu einem Thema aus dem europäischen Wirtschaftsrecht.