II. Julian Schenke: Sapere aude – „Wage es, weise zu sein“
Die Rolle, als Gegner einer allgemeinen Praxis des „Genderns“ aufzutreten, ist undankbar; dennoch nehme ich sie im Folgenden ein. Um es gleich vorweg zu sagen: Ich möchte dabei nicht auf die technischen Schwierigkeiten oder die unschönen Folgen der zahlreichen Gender-Regelungen eingehen. Ja, ich finde auch, dass Unklarheiten drohen, wenn der Dozent zum Dozierenden wird, während nicht alle Dozierenden auch (beruflich definierte) Dozenten sind. Ja, ich finde auch, dass Binnen-I’s, Backslashs, Sternchen, Unterstriche, x’e und ec’se einen Text bis zur Unlesbarkeit verunstalten können. Ich kenne die zugehörige Diskussionswelt aus diversen Politgruppen und einem mehrjährigen Studium der Geschlechterforschung, aus Zeitungsartikeln, Fernsehsendungen und Gesprächen. Ich habe im Studium erlebt, wie sich Sprachdebatten von ihrem soziologischen, politikwissenschaftlichen oder kulturwissenschaftlichen Gegenstand lösten, wie ganze Seminarsitzungen im Gewitter unversöhnlicher Fronten versanken, während Erkenntnisse über gesellschaftliche, auch demokratische Veränderungsprozesse immer unwichtiger wurden.
Aber ich sage es gleich vorweg: Ich bin in dieser Zeit weder zum Fundamentalisten der postmodernen Sprachkritik geworden, noch im Nachhinein zu einem jener Kreuzritter des gesunden Menschenverstandes, die sich in gespieltem Unverständnis über die Verrücktheiten des Faches echauffieren. Deswegen geht es mir auch nicht darum, mich künstlich über Details aufzuregen, indem ich den Befürwortern der so genannten gendergerechten bzw. geschlechtersensiblen Sprache vorhalte, wie unpragmatisch ihre Vorschläge sind. Ich möchte ihnen nicht Unrecht tun, indem ich ihre grundsätzliche Stoßrichtung durch kleinkarierte Sticheleien porös zu machen versuche, sondern mich auf einen einzigen Gedanken konzentrieren.
Dieser Gedanke umfasst meiner Auffassung nach das gesamte Problem der gendergerechten Sprache wie in einer Nussschale. Es ist ein Gedanke, der zum Kanon der klassischen deutschen Philosophie gehört hat, und der gerade nicht auf den Trümmerhaufen bildungsbürgerlichen Herrschaftswissens gehört – hatte doch sogar Nietzsche als schärfster Kritiker verbeamteter Philosophen ihn verinnerlicht: Sprache ist Geist. Oder moderner formuliert: Sprache ist die Welt ebenso wie sich selbst reflektierendes Denken.
Was soll das heißen? Man mag nun meinen, ich mache mir einen Spaß daraus, möglichst stereotyp aufzutreten: Der theorieversierte – oder zumindest Theorieversiertheit suggerierende – Macker, der etwas gegen geschlechtergerechte Sprache hat, mobilisiert nicht weniger als die Geistesgrößen des Abendlandes, um den zeitgemäßen, „kritischen“ Veränderungswillen zu erdrücken. Nein, mir geht es darum, die Diskussion von der Ebene der politisch-moralischen Glaubensfragen zu holen. Ich möchte dazu einladen, das Problem in seiner Widersprüchlichkeit – oder wenn man so will: Dialektik – zu durchdenken.
Nehmen wir den Eindruck des „Theorie-Mackers“ als Ausgangspunkt: Er selbst ist ja stereotyp, vorurteilsbeladen, weil er ein schematisches Bild evoziert. Wie alle Stereotype ist er falsch, erfüllt aber eine Orientierungsfunktion. Selbstverständlich kommen wir selten ohne komplexitätsreduzierende Schemata und Bilder aus, denn ihr Zweck ist es ja schließlich, die Eindrücke, die die Realität auf uns einprasseln lässt, zu ordnen. Aber es gibt doch auch eine weit verbreitete Neigung, die einst gewonnenen Schemata hartnäckig gegen die Welt zu verteidigen, von der sie einst abgezogen wurden, sie als unveränderliche Schubladen aufzufassen, in die absolut alles hineinzuzwängen ist, alle Widersprüche und Irritationen, die dem entgegenstehen, möglichst einzuebnen. Meiner Auffassung nach ist gerade die Vorstellung, Ungerechtigkeiten und Missstände durch die Anpassung der Sprache abzuschwächen oder zu bekämpfen, ein solches Schema, das ohne die Dogmen poststrukturalistischer Theorie gar nicht so populär hätte werden können.
Aber noch einmal: Warum meine Bezugnahme auf Sprache als Geist? Geist, verstanden als reflektiertes Denken, welches sich an den Wissensstand der Gesellschaft rückbindet – d. h. nicht bei subjektiven Meinungen stehenbleibt –, setzt die Urteile der Einzelnen in Bezug zum geltenden Wissen der Gesellschaft. Er prüft immer auch den Wahrheitsgehalt dessen, was er äußert. Daher ist er subjektiv und objektiv zugleich. Er registriert nicht nur Übereinstimmungen von Gedachtem und Wirklichkeit, sondern immer auch Widerstände. Und an solchen Widerständen sind moderne Gesellschaften reich: Wir als Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler haben die Aufgabe, all die Widersprüche, Irritationen, Antagonismen und Konflikte, die aus der Konfrontation denkender Subjekte mit der erdrückenden Objektivität sozialer Verhältnisse entstehen, in ihrem Gesamtzusammenhang reflektierend zu denken. Und all das können wir nur im Medium der Wörter, Begriffe, und Metaphern, kurz: der Sprache tun. Sprache wiederum ist kein bloßes Abkürzungssystem zur Vermittlung von Bedeutungen, an dem man nach Belieben herumschrauben kann. Das lässt sich nicht nur an Sprichwörtern zeigen, sondern auch an einzelnen Worten, ganz besonders im politikwissenschaftlichen Kontext: Aufklärung, bürgerliche Gesellschaft, Demokratie, Emanzipation, Freiheit, Radikalismus, Nation, uvm. sind Begriffe, die sich weder bündig definieren noch durch einen Eingriff „von oben“ beliebig umdeuten lassen.[1] Ebenfalls hat es keine der in philanthropischer Absicht geschaffenen Plansprachen (Volapük, Esperanto, Interlingue) jemals zur Verkehrsfähigkeit gebracht.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Mir geht es nicht darum zu postulieren, welch ein hohes Kulturgut die deutsche Sprache ist – wer das tut, macht sich allein schon angesichts des Faktums lächerlich, dass Sprache, auch die deutsche, sich natürlich historisch verändert, und zwar meist in wenigen Jahrzehnten –, sondern gerade darum, dass in der Sprache eine historisch bedingte Bewegung steckt, die so etwas wie Denken überhaupt erst ermöglicht. Sie ist gewissermaßen ein Konzentrat historischer Erfahrungsgehalte.
Ich will damit auf einen simplen Einwand hinaus: Das Gendern ist ein Eingriff in die Sprache, kein Eingriff in die Realität. Im Gegenteil: Gendergerechte Sprache neigt dazu, reale und bisweilen äußerst manifeste Missstände ihres sprachlichen Ausdrucks zu berauben, oder anders formuliert: sie diskursiv unsichtbar zu machen. Um das verständlich zu machen, muss man nicht einmal die Debatten um die Angleichung von Kinderbüchern an die Imperative der Political Correctness zitieren. Ganz offensichtlich mag es zwar manchen Genugtuung verschaffen, Sprache durch einen künstlichen Gewaltakt in das Prokrustesbett der politischen Korrektheit zu pressen. Aber diesen sich als „progressiv“ verstehenden Akt für moralisch geboten zu erklären (etwa im Stile von „Du als Linker, Du als Reflektierter, Du als erfolgreiche Frau, gerade Du müsstest doch…“), ist gerade alles andere als aufgeklärt: Man möchte den Widerstand derjenigen, die wider besseren Wissens renitent bleiben, mit dem Richtschwert der unbezweifelbaren Notwendigkeit brechen. Diesen Vorwurf erhebe ich schon: Denn es geht in dieser Auseinandersetzung weniger ums Diskutieren und Argumentieren, sondern eher um die Aufforderung zur Stellungnahme im manichäischen Gesinnungskampf. Es wird eine Richtlinie gefordert, der gemeinsame Beschluss – und das bedeutet gegenüber jenen, die das nicht für angebracht halten, allen „gut gemeinten“ Ursprungsgedanken zum Trotz, letztlich: die bürokratische Verfügung, den Zwang. Das aber ist, wie gut gemeint der initiale Impuls auch gewesen sein mag, neo-autoritäre Attitüde.
Damit will ich keineswegs sagen, dass man schief lächelnd auf die Errungenschaften der geschlechtlichen Emanzipation verweisen muss, um die heutige Kritik des Geschlechterverhältnisses zu ridikülisieren. Im Gegenteil: Die meisten Menschen bleiben aufgrund gesellschaftlicher Zwänge, sozialisatorischer Verhängnisse, mangelnder Selbstreflexion, traditionsgeprägter psychischer Strukturen und selbstverständlich auch biologisch beeinflusster Trägheiten zumeist weit hinter dem zurück, was ich angesichts der nach wie vor rapiden sozialen und kulturellen Evolutionsprozesse als „ihre Möglichkeiten“ bezeichnen würde. Sprache als Geist bedeutet, genau diese Dialektik aus gedachter, aber praktisch unerfüllter Gleichberechtigung in ihrer Widersprüchlichkeit – d. h. auch unter geistiger Durchdringung der Bedingungen unerfüllter Gleichberechtigung – auszuhalten. Ich kann nur empfehlen, einmal Nietzsches Wunsch auf sich wirken zu lassen, dass das Denken einem Tanz gleichkomme, mitsamt seiner spielerischen, ja erotischen Komponente. Sicher haben viele schon die Erfahrung gemacht, dass man erst beim Schreiben, beim Formulieren, beim Ordnen, beim Einschränken, Kontextualisieren und Hypothetisieren, beim „aber“, „wenngleich“ und „indes“, erst wirklich ins Denken gerät. Wer aber Sprache beschneidet, und sei es in der besten Absicht, beschneidet auch das Denken.
Ich möchte also mit dem Plädoyer schließen, sich weder in der einen noch in der anderen Hinsicht dumm machen zu lassen: Wir leben nicht mehr im Patriarchat, aber wir leben auch nicht in der vollendet geschlechtergerechten Gesellschaft. Diese Gesellschaft herbeizuführen bleibt eine politische Aufgabe, sie ist nicht durch eine Sprache zu lösen, die vor lauter schlechtem Gewissen über sich selbst jene Ambivalenzen verdeckt, die sich in einer über lange Zeit gewachsenen Sprache tatsächlich verdichten. Insbesondere, wenn dieses schlechte Gewissen in moralischen Rigorismus umschlägt. Man kann das gerade bei den „radikalen“ Sprachkritikerinnen wie Lann Hornscheidt sehen, die in ihrer preußischen Humorlosigkeit im Grunde gar nicht mehr politisch denken können, oder gar an einer praktischen Veränderung der gesellschaftlichen Zustände interessiert sind, sondern immer und immer wieder nur an ihrem nächsten Triumph der Deutungshoheit in poststrukturalistisch-dekonstruktivistischen Nebelwelten.
Zuallerletzt: Ich möchte niemanden davon abbringen, in seinen oder ihren Texten zu gendern. Gewisse Textsorten lassen es eher zu als andere. Oft ist es auch einfach eine Frage der Höflichkeit oder der empirischen Angemessenheit, die sprachliche Repräsentation beider Geschlechter sicherzustellen, etwa wenn von „Autorinnen und Autoren“ bestimmter Publikationen die Rede ist. Doch zuletzt sollte der Autor – und hier wende ich das generische Maskulinum an, da der folgende Satz sonst seinen Schwung verliert – allein entscheiden. Denn vom eigenen Denken ist er – gerade er – nicht durch Richtlinien und Vorschriften zu entlasten.
Julian Schenke arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
Die Positionierung von Jeanina Fischbach können Sie hier lesen.
[1] Vgl. eindrücklich Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, 8 Bde., Stuttgart 1972-1998.