Das französische Schreckgespenst der Europawahlen

Beitrag verfasst von: Daniela Kallinich

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[analysiert]: Daniela Kallinich über den Front National auf dem Weg der „Normalisierung“.

„Warten Sie nur die Ergebnisse der Europawahlen ab“, donnerte Marine Le Pen ihren Kollegen aus den anderen Parteien entgegen. In einer Politik-TV-Show nach den erst kürzlich stattgefundenen Kommunalwahlen verteidigte sie ihren Front National (FN). Dabei scheint sie derzeit gar kein Grund dafür zu haben, würden doch Umfragen zufolge bis zu 22 Prozent der Franzosen der rechtsextremen Partei ihre Stimme geben.[1] Doch welche Perspektiven hat die Partei tatsächlich?

Das Damoklesschwert des potentiellen Erfolgs des FN als möglicherweise stärkste Partei bei den Europawahlen 2014 schwebt seit einigen Monaten über der politischen Landschaft Frankreichs. Eingeläutet wurde es mit dem Wahlergebnis Marine Le Pens bei den Präsidentschaftswahlen 2012 (17,9 Prozent). Seitdem hält sich die Partei in den Umfragen für die Europawahlen über zwanzig Prozent, wurde zwischenzeitlich sogar als stärkste Kraft gesehen.[2] Dass sich diese Umfragewerte jedoch in Wahlstimmen für die Partei ummünzen lassen, ist alles andere als sicher, unterliegen die Europawahlen doch als Second-order-Wahlen[3]  besonderen Gesetzmäßigkeiten.

Als Second-order-Wahlen werden bezogen auf Frankreich insbesondere Europa- und Regionalwahlen bezeichnet; dieser Begriff ergibt sich aus der Tatsache, dass sie für die Bürger weniger relevant sind als zum Beispiel Wahlen zur Nationalversammlung. Bei Europawahlen  entscheiden sich die Wähler – so sie denn zur Urne gehen[4] – entweder ehrlich und nicht strategisch, das heißt, sie wählen die Partei, der sie inhaltlich tatsächlich am nächsten stehen. Die andere Motivation kann eine Protestwahl sein, mit dem Ziel, die etablierten Parteien abzustrafen.[5] Dies sind Aspekte, die dem FN durchaus viele Stimmen versprechen.

Gleichzeitig wird dieser Effekt in Frankreich noch durch das Wahlsystem verstärkt:  Europawahlen werden im Gegensatz zu den Kommunal- oder Nationalversammlungswahlen im Verhältniswahlrecht ausgerichtet, d.h. dass alle Parteien ihren Stimmanteilen nach im Parlament vertreten sind und dadurch keine Stimmen verlorengehen. Dies hat zur Folge, dass die Wähler auch bei nicht mehrheitsfähigen Parteien keine nutzlose Wahl befürchten müssen; die Regierungs- und Oppositionsparteien in der Nationalversammlung, die zuvor noch wegen des vote utile (aus strategischen Gründen) gewählt worden waren, werden dabei für ihre Performance abgestraft. Erscheint es vielen doch als ungefährlich und unproblematisch, ihre Stimme kleineren, exotischen, radikalen oder Protestparteien zu geben. Gerade dieses Jahr und angesichts der massiven Unzufriedenheit mit der Regierung in Verbindung mit einem generellen Misstrauen gegenüber der Politik wird dieser Aspekt eine besondere Rolle spielen. Der FN, aber auch andere Kleinparteien in Frankreich könnten davon profitieren.

Allerdings war der FN bislang besonders von der niedrigen Wahlbeteiligung, einer weiteren Gesetzmäßigkeit von Second-Order-Wahlen, betroffen. Die Partei konnte ihr Potential, erkennbar in den ersten Wahlgängen der Präsidentschaftswahlen, bei Europawahlen nie voll ausschöpfen.[6] Das liegt insbesondere an der Zusammensetzung der Wähler, welche zumindest bislang v.a. aus den unteren Schichten mit geringer Schulbildung und besonders wenig politischem Interesse[7] kamen  und damit jene Gruppe bilden, die sich in Frankreich bei Europawahlen massiv enthält.[8]

Profitieren könnte der FN dieses Jahr allerdings in zweierlei Hinsicht: einerseits von einer stärkeren Mobilisierung seiner Stammwählerschaft im Zuge der großen Unzufriedenheit im Land. Und andererseits von der Vergrößerung seines Wählerpools in Bevölkerungsgruppen, deren Wahrscheinlichkeit, sich zu enthalten, weniger groß ist. Besonders deutlich wird das – neben wachsenden Stimmenanteilen z.B. bei den Angestellten – insbesondere daran, dass der bis 2012 bei allen Wahlen zu beobachtende “gender effect“ sich nahezu aufgelöst hat:[9] Frauen wählen mittlerweile fast genauso häufig wie Männer den Front National.

Diese Entwicklung liegt an unterschiedlichen Aspekten und insbesondere an Marine Le Pen, der neuen Vorsitzenden. Sie weiß sich als „geschiedene Mutter von nebenan“, die die Sorgen und Nöte der Normalbevölkerung kennt, zu inszenieren. Ihre Rhetorik und ihr Habitus erscheinen den Menschen vertraut. Ihr Auftreten in Jeans und Blazer, gepaart mit einer gehörigen Portion franc-parler (das entspricht in etwa dem Deutschen „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“), spricht vielen Menschen aus dem Herzen, wenn sie die Konsequenzen der Wirtschaftskrise, die schlechte wirtschaftliche Lage Frankreichs oder das Verhalten der Regierung oder großen konservativen Opposition UMP kritisiert.

Inhaltlich kommt zudem die Strategie der dédiabolisation zum Tragen: Im Gegensatz zur Generation des Parteigründers Jean-Marie Le Pen, die antisemitische Äußerungen ebenso pflegte wie offenen Rassismus gegenüber maghrebinischen Einwanderern, hat sich die Argumentation verändert: Der Islam wird im Namen der Verteidigung des französischen Laizismus kritisiert; die préférence nationale reiht sich nahtlos in Debatten um die Finanzierbarkeit des französischen Nationalstaats ein.

Allerdings sind die Themen nahezu gleich geblieben. Wahlversprechen drehen sich um Immigration und Unsicherheit, Arbeitslosigkeit und Prekarität, die Angst vor dem Fremden, um Globalisierungsängste und die europäische Integration. Dies greift die allgemeine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Stimmung im Land auf, während sich ein Teil der Wählerschaft von den anderen Parteien und Politikern weder verstanden noch repräsentiert fühlt.

Indem sich der FN deren linke und rechte Werte zu eigen macht, gewinnt und bindet er seine Wähler: Auf den Pfaden der sozialen Linken werden die „Kleinen gegen die Großen“ verteidigt, während gleichzeitig der Kampf um Sicherheit und Ordnung, der für die gemäßigte Rechte typisch ist, geführt wird.[10] So gelingt es der Partei, Lücken zu füllen, die die etablierten Parteien PS und UMP, aber auch die kommunistische Linke nicht mehr zu schließen wissen, und sich immer stärker als ernst zu nehmende Alternative zu etablieren.

Daniela Kallinich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.


[1] Opinion publique: Elections européennes : l’UMP et le FN toujours en tête dans les sondages, in: Opinion Publique, 25.03.2014, abrufbar unter http://opinionpublique.wordpress.com/category/elections-2/elections-europeennes-de-2014/ [eingesehen am 10.4.2014].

[2] Ebd.

[3] Vgl. Reif, Karlheinz/Schmitt, Hermann: Nine national second-order elections: A systematic framework for the analysis of European election results, in: European Journal of Political Research, 8/1980, S. 3-44.

[4] In Frankreich ist die Wahlbeteiligung bei Europawahlen sehr niedrig: Rouet, Gilles: L’abstention aux élections européennes de juin 2009. Une affaire de citoyennetés, d’identités et de cultures, in: Cahiers Sens public, 2009/3-4 (n° 11-12), abrufbar unter http://www.cairn.info/revue-cahiers-sens-public-2009-3-page-239.htm [eingesehen am 16.04.2014].

[5] Vgl. Hobolt, Sara B./Spoon, Jae-Jae: Motivating the European voter: Parties, issues and campaigns in European Parliament elections, in: European Journal of Political Research, 51/2012, S. 701-727.

[6]  Vgl. Delwit, Pascal: Le Front National, in: Ders. (Hrsg.) : Les partis politiques en France, Brüssel 2014, S. 187-213.

[7] Ebd., S. 205.

[8]  Vgl. Roger, Patrick: Le NPA, le MoDem et le FN sont les principales victimes de l’abstention, in : lemonde.fr, 8.6.2009, abrufbar unter http://abonnes.lemonde.fr/elections-europeennes/article/2009/06/08/le-npa-le-modem-et-le-fn-sont-les-principales-victimes-de-l-abstention_1203923_1168667.html [eingesehen am 10.04.2014].

[9] Vgl. Mayer, Nonna: The far right in France, and the gender gap, in: Extremis Project, 04.10.2014, abrufbar unter http://extremisproject.org/2012/10/the-far-right-in-france-and-the-gender-gap/ [eingesehen am 10.04.2014].

[10] Lebourg, Nicolas : „Les droites se cherchent un logiciel“, in: mediapart.fr. 08.02.2014, abrufbar unter http://www.mediapart.fr/journal/france/060214/nicolas-lebourg-les-droites-se-cherchent-un-logiciel [eingesehen am 15.04.2014].