„Conny heute von den Bullen ermordet“

Beitrag verfasst von: Teresa Nentwig

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[analysiert:] Teresa Nentwig über den Tod von Kornelia „Conny“ Wessmann vor 25 Jahren

Göttingen, Weender Landstraße auf der Höhe der Diskothek „Alpenmax“. Ein schlichter Stein mit der Aufschrift „17.11.89. Conny stirbt durch einen Polizeieinsatz bei einer Antifaaktion. Du warst dabei aufzustehen“ steht dort. Direkt daneben eine Metallskulptur, die den Titel „Trauer – Wut – Widerstand“ trägt. Jeden Tag fahren unzählige Autos, Busse und Fahrräder daran vorbei. Was ist damals, an diesem 17. November 1989, genau passiert?

Seit 1987 kam es in Göttingen verstärkt zu Auseinandersetzungen zwischen Neonazis und Linksautonomen. Denn zum einen gab es in der südniedersächsischen Stadt und ihrer Umgebung ein starkes rechtsradikales Milieu – der niedersächsische Landesvorsitzende der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP) Karl Polacek scharte in Mackenrode gewaltbereite Skinheads um sich, darunter den jungen Thorsten Heise, der bald eine der Führungsfiguren der rechtsextremen Szene in Niedersachsen wurde. Zum anderen existierte in Göttingen eine starke linksradikale Szene. Ende der 1980er Jahre verübten die Skinheads immer wieder Anschläge auf Asylantenunterkünfte, Passanten mit Migrationshintergrund, links-alternative Studentenwohnheime und das 1982 gegründete „Jugendzentrum Innenstadt“ (JuZI), das als Zentrum des autonomen Antifaschismus galt. Dagegen setzten sich die Angehörigen der autonomen Szene zur Wehr. Immer wieder kam es deshalb zu Konfrontationen der beiden Lager, wobei das Ziel der Autonomen darin bestand, „möglichst viele Leute schnell zusammenzubringen“ und auf diese Weise die Neonazis in die Flucht zu jagen. Vor allem am Wochenende befand man sich damals in „Alarmbereitschaft“: Man traf sich abends zum Reden und Kochen, und sobald das Telefon klingelte und man erfuhr, dass es irgendwo eine Auseinandersetzung mit Rechtsextremen gebe, machte man sich gemeinsam auf.

So war es auch am Abend des 17. November 1989. Mitten in der Göttinger Innenstadt, vor der Kneipe „Apex“, kam es zu einer Schlägerei zwischen Neonazis und Autonomen, bei der es mehrere Verletzte gab. Als eine davon in Kenntnis gesetzte Gruppe von Autonomen, darunter die 24-jährige Studentin der Geschichte und Sozialwissenschaften Kornelia „Conny“ Wessmann, den Ort des Geschehens erreichte, waren jedoch nur noch Beamte des „Zivilen Streifenkommandos“ (ZSK) da. Die Autonomen gingen deshalb wieder weg, bemerkten aber bald, dass sie vom ZSK verfolgt wurden. Mit dem Ziel, sich auf dem nahe gelegenen Gelände der Universität zu verstreuen, verließen die Autonomen die Innenstadt. Kurze Zeit später stießen sie auf zum Teil mit Schlagstöcken bewaffnete Polizisten, die ihre Personalien feststellen wollten. Wessmann lief davon – sie wollte die vierspurige Weender Landstraße überqueren, um den gegenüberliegenden weitläufigen Uni-Parkplatz zu erreichen. Da die viel befahrene Straße nicht abgesperrt und das Blaulicht der Streifenwagen nicht eingeschaltet war, konnten heranfahrende Autos die Lage nicht eindeutig erkennen – gegen 21.20 Uhr wurde Wessmann von einem Auto erfasst und dabei tödlich verletzt.

Über eine Telefonkette informiert, versammelten sich schon wenig später viele ihrer Bekannten an der Unglücksstelle, zündeten dort Kerzen an und legten Blumen nieder. Noch in der gleichen Nacht hängten sie an der Fußgängerbrücke, die damals am Unfallort die Weender Landstraße überquerte, ein Transparent mit der Aufschrift „Conny heute von den Bullen ermordet“ auf. Unmittelbar nach dem Unfall war nämlich ein Funkspruch des ZSK-Leiters – „Ich würde sagen, wenn wir genug Leute sind, sollten wir die ruhig mal platt machen, hier“ – bekannt geworden. Wessmanns Freunde aus der autonomen Szene sahen in ihrem Tod deshalb einen Mord – verübt von knüppelschwingenden, Tränengas sprühenden Beamten des ZSK und dabei unterstützt von einem Staat, der gegen Linke einen anderen Maßstab anlege als gegen Rechtsextreme.

Ganz anders sah es die Polizei: Für sie handelte es sich um einen bedauerlichen Unfall. Mit „Plattmachen“ sei lediglich die Personenkontrolle gemeint gewesen. Aufgrund dieser unterschiedlichen Interpretationen wurde Wessmanns Tod zu einem Politikum – allein im Niedersächsischen Landtag war er zwischen Mitte Dezember 1989 und Anfang März 1990 dreimal Thema. Hier standen die Grünen allein auf weiter Flur: Der damalige Fraktionsvorsitzende der Grünen Jürgen Trittin beklagte, eine „große Koalition“ – bestehend aus den Regierungsparteien CDU und FDP sowie der Oppositionspartei SPD – wolle „die Wahrheit über die Polizeipraxis in Göttingen abwürgen – eine Polizeipraxis, die immerhin zum Tod eines Menschen geführt hat“.

Zum Teil kam es aber auch zu Bündnissen zwischen der Linken und dem Göttinger Bürgertum. So gründete sich unmittelbar nach Wessmanns Tod die Initiative „Göttinger BürgerInnen gegen Rechtsextremismus und Gewalt“, deren Mitglieder – u.a. Pädagogen und Pastoren – in den folgenden Jahren aktiv an Demonstrationen gegen Rechtsradikale mitwirkten. Und es kam sogar vor, dass die sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Hulle Hartwig gemeinsam mit Jürgen Trittin hinter dem Lautsprecherwagen des sogenannten „Schwarzen Blocks“ durch Göttingen marschierte. Auch die Göttinger Studenten zeigten Einigkeit: Während einer uniweiten Vollversammlung am 23. November 1989 verabschiedeten sie eine Resolution, in der sie unter anderem die Ablösung des Göttinger Polizeichefs verlangten und die Stadt aufforderten, Mittel für Projekte bereitzustellen, „damit verstärkt und breiter gegen Faschismus und Neofaschismus gearbeitet werden kann“[1].

Göttingen blieb in der Folgezeit eine Hochburg der linksautonomen Szene – zu ihrer Ikone wurde Conny Wessmann. Dies zeigte sich vor allem darin, dass sich das noch am Abend des 17. November 1989 eingesetzte Gedenken an die junge Frau danach fortsetzte – mehr als ein Jahr lang fanden zunächst täglich, dann am 17. jeden Monats Mahnwachen am Unfallort statt, wofür die Straße sogar halbseitig von der Polizei gesperrt wurde. Das Gedenken verlief jedoch nicht immer friedlich und brachte die Stadt Göttingen teilweise sogar an den Rand des Ausnahmezustands. So gingen neun Tage nach Wessmanns Tod etwa 20.000 Menschen schweigend zur Unfallstelle. Es folgten schwere Verwüstungen in der Innenstadt, verübt durch Autonome, die aus dem gesamten Bundesgebiet angereist waren: Schaufenster von Banken und Geschäften gingen zu Bruch. Außerdem wurden Polizisten mit Pflastersteinen, Flaschen, Stahlkugeln, Leuchtraketen und Molotowcocktails beschossen.

Auch im November 1990, zum Jahrestag ihres Todes, liefen 6.000 bis 7.000 Personen durch die Göttinger Innenstadt. Da Ausschreitungen erwartet worden waren, befanden sich an diesem 17. November 1990 mehr als 3.000 Polizisten in der Stadt; der Schulunterricht fiel aus; Geschäfte blieben geschlossen und waren zu einem großen Teil verbarrikadiert; die Innenstadt wurde für den Autoverkehr gesperrt. Bis Ende der 1990er Jahre kam es dann regelmäßig zu Gedenkveranstaltungen, die zum Teil unfriedlich verliefen und bei denen nach und nach nicht mehr das Erinnern an Wessmanns Tod im Vordergrund statt – es ging vielen Teilnehmern insbesondere darum, ihren Hass auf „das System“ zum Ausdruck zu bringen.

Erst im November 2009, aus Anlass von Wessmanns 20. Todestag, fand wieder eine Gedenkdemonstration statt, die unter das Motto „Kein Vergeben, kein Vergessen! Kein Frieden mit dem Polizei- und Überwachungsstaat“ gestellt war. Rund 1.200 Personen nahmen daran teil, darunter „etwa 850 Gewaltbereite aus Göttingen und dem gesamtem Bundesgebiet“, so der damalige niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann. Vereinzelt schossen sie Leuchtraketen und Signalmunition in die Luft. Später zündeten sie Müllcontainer an und beschädigten unter anderem das Gebäude einer Burschenschaft.

Und fünf Jahre später? Diesmal scheint alles ruhig zu bleiben. Graffitis, die in Göttingen noch vereinzelt an Wänden und Mauern zu sehen sind, zeugen weiterhin von Conny Wessmanns Tod, aber sie verblassen mehr und mehr. Der Gedenkstein und das Denkmal aber werden bleiben. Und ab und zu wird man dort wohl auch in Zukunft Blumen sehen, wie an jenem Tag Ende Oktober 2014, als die hier zu sehenden Fotos entstanden sind.

Dr. Teresa Nentwig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

[1] Resolution, verabschiedet am 23.11.1989 von der Uni-Vollversammlung, in: Fachschaftsräteversammlung der Universität Göttingen (Hrsg.): Dokumentation Antifaschistischer Widerstand in Südniedersachsen 1989. Erklärungen, Dokumente, Berichte, Plakate, Presse, Fotos, Göttingen 1990, S. 171 f., hier S. 172.