[analysiert]: Florian Finkbeiner über das schwierige Verhältnis der CDU zum Konservatismus
Unlängst ist die CDU siebzig Jahre alt geworden. Angesichts einer christdemokratischen Kanzlerin und eines konstanten Umfragehochs böte dies für die Partei eigentlich Anlass zum Feiern. Doch unter der Oberfläche gärt es. Verdeckt durch die Hybris des allgemeinen Erfolgs lauern Konflikte, die spätestens nach der Merkel-Ära zu Grundsatzproblemen führen dürften: Neben der schwierigen Lage auf Länder- und Kommunalebene, der unterhalb der Chefin äußerst dünnen Personaldecke, der Entmachtung von CDU/CSU im Bundesrat und der Frage nach dem Koalitionspartner wird sich die Partei dem Problem stellen müssen, wieder zu einem konsistenten politischen Profil zurückzufinden. Die Partei wird programmatisch klären müssen, wofür sie eigentlich steht und stehen will.[1]
Dabei ist gerade angesichts von aktuellen Phänomenen wie Pegida oder der AfD wichtig zu klären, inwiefern die CDU heute noch konservativ ist; denn gerade solche Gruppierungen kritisieren das mangelnde konservative Profil der Partei und bieten einen politischen Sammlungsort außerhalb der Unionsparteien. Allein das Wort „noch“ offenbart schon die Probleme, die mit dieser Entwicklung verbunden sind – setzt es doch voraus, dass die Partei einstmals per se konservativ gewesen ist. Dabei muss aber berücksichtigt werden, in welch schwierigem Verhältnis die CDU zum Konservatismus geschichtlich wie gegenwärtig stand und steht. Vor allem von ihren politischen Gegnern wird die Union gerne polemisch und diffus als „konservativ“ bezeichnet. Jedoch verrät das nicht, inwiefern das konservative Element in der Partei tatsächlich einmal vertreten gewesen ist und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, dass die CDU offenbar nicht mehr glaubhaft den Konservatismus repräsentieren kann.
Historisch war die deutsche Christdemokratie zunächst eine Sammlungsbewegung, war in der Nachkriegszeit mehr Dachorganisation denn wirkliche Partei. Ihre programmatische Spannbreite reichte vom Sozialkatholizismus über den Wirtschaftsliberalismus bis hin zum Konservatismus. Unter ihrem Banner sammelten sich ursprünglich durchaus konträre politische Ausrichtungen. Möglich war dies v.a. durch die Führungsqualitäten des damaligen Kanzlers Konrad Adenauer und die enge Verbindung zur Kirche. Diese moralische Autorität sicherte der Partei die Loyalität ihrer Anhänger. Durch die Klammer des Antikommunismus und der Vermarktung des „Wirtschaftswunders“ als Erfolg der Christdemokraten konnte die Partei somit langfristig verschiedene gesellschaftliche Schichten integrieren und erst damit zur Volkspartei neuen Typs avancieren.[2] Und erst in dieser Gemengelage konnte die Union – verstärkt durch taktisches und rhetorisches Geschick des Kanzlers – andere konservative (Klein-)Parteien integrieren und zur alleinigen Partei für die Konservativen werden. Doch war sie dabei ihrem Selbstverständnis nach nie eine konservative Partei. Selbst Adenauer hat den Begriff, der unbestimmt blieb und gesellschaftlich aufgrund der Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus diskreditiert war, stets zurückgewiesen.
Dass die Partei programmatisch recht unbestimmt blieb – zumindest solange sie auf intakte Strukturen der verschiedenen milieuübergreifenden Vorfeldorganisationen zurückgreifen konnte –, war für sie lange Zeit eine Kraftquelle. Erst in den 1970er Jahren, im Zuge der fortschreitenden Säkularisierung wie Liberalisierung, erodierten diese gesellschaftlichen Grundlagen ihrer Stärke. Dadurch herausgefordert, wandelte sich die CDU mehr und mehr zur Mitgliederpartei. Auch programmatisch musste sie nun festlegen, welchen politischen Kurs sie verfolgte, wollte sie aus der Opposition wieder herausfinden. Doch die von Helmut Kohl versprochene „geistig-moralische Wende“ blieb in den 1980er Jahren de facto aus – was gerade die Konservativen enttäuschte. Nachdem das letzte große Projekt, die „Wiedervereinigung“, realisiert worden war, fehlte fortan ein Paradigma, ein übergeordnetes Ziel bzw. ein großes Versprechen, mit dem die CDU die Konservativen an sich hätte binden können. Stattdessen folgte seitdem vielmehr eine schleichende Liberalisierung ihrer Programmatik, die innerhalb der Partei zu einer „spirituellen Leere“[3] geführt hat, wie es Franz Walter beschreibt.
In der Partei des deutschen Bürgertums bröckelte die konservative Säule und hinterließ eine Leerstelle, die bis heute nicht ausgefüllt werden konnte.[4] Freilich gehen diese Entwicklungen einher mit gesamtgesellschaftlichen Umwälzungsprozessen gerade seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus und den prinzipiellen Fragen, was überhaupt ein moderner Konservatismus sein soll und ob konservative Politik angesichts allumfassender Individualitäts- und Mobilitätspostulate überhaupt noch Geltungskraft beanspruchen kann. Aber unabhängig davon bedeuten diese Prozesse, dass die CDU als einstige große Partei der Sammlung an weltanschaulicher Integrationskraft verloren hat. Sie regiert vielmehr kraft des Pragmatismus.
Gerade dadurch wird ersichtlich, warum es in der Union in den letzten Jahren zwar durchaus Ansätze und kleinere Versuche gegeben hat, an konservativem Profil zurückzugewinnen, diese aber (bislang) gescheitert sind. Das Konservative zeigt sich in der CDU meist nur noch auf wenigen Politikfeldern oder in weltanschaulichen Versatzstücken, die diese Sammlungsfunktion aufrechterhalten sollen: auf dem Feld der Familienpolitik und der Frage nach der Homo-Ehe, dem Embryonenschutz oder in der Migrationspolitik. Doch diese Ansichten sind nicht nur innerparteilich umstritten, sie können auch nach außen hin nicht mehr glaubhaft beansprucht und vertreten werden. Das Alleinstellungsmerkmal als Repräsentantin eines bürgerlichen Konservatismus ist der Union längst abhandengekommen.
Der letzte größere programmatische Versuch war 2007 die Denkschrift „Moderner bürgerlicher Konservatismus“ von den vier damals jungen Politikern Stefan Mappus, Markus Söder, Philipp Mißfelder und Hendrik Wüst. Doch trotz ihrer wirtschaftsliberalen Auslegung erlangten kulturkonservative Ansätze in der neuen Merkel-CDU keine größere Relevanz.[5] Damit scheiterte der Versuch, das Konservative in der Union zu bestimmen, ebenso wie die 2010 inszenierte Basisbewegung „Linkstrend stoppen“, die letztlich als Anti-Merkel-Bündnis relativ schnell wieder an Bedeutung verlor. Seitdem gibt es nur noch wenige, die als Konservative eben dieses Profil ihrer Partei schärfen wollen. Eine kleine Gruppe um Wolfgang Bosbach und Erika Steinbach sammelt sich derzeit im „Berliner Kreis in der Union“, hat aber parteipolitisch kaum Einfluss.
Und so gelingt der CDU der Spagat immer weniger, auch „kleinen Leuten“ mit Traditionsorientierung eine politische und weltanschauliche Heimat zu sein und sie durch konservativ ausgerichtete oder zumindest für Konservative auch ansprechende Politikinhalte zu integrieren.[6] Die Versuche in der Merkel-CDU, mit gesellschaftspolitischer Symbolik die Angebotslücke auf dem konservativen Flügel zu schließen, werden immer seltener und wirken zunehmend hilfloser, können mithin nicht überzeugen.
Nun ließe sich dieses Problem schnell mit dem Erfolg der AfD erklären. In Teilen ist deren Erstarken auch darauf zurückzuführen, dass die AfD in die konservative Lücke gestoßen ist, welche die CDU nach ihrer Modernisierung hinterlassen hat. Das übergeordnete Problem liegt aber vielmehr darin, dass sich die tektonischen Platten der Gesellschaft selbst zu verschieben scheinen. Parteien wie gesellschaftliche Organisationen insgesamt verlieren ihre soziale Identifikations- und Repräsentationsfunktion. Sie entfremden sich überdies zunehmend von ihrer sozialen Basis, wodurch sich der Eindruck nur noch verschärft, dass Parteien kein konsistent politisches Profil mehr vertreten können und dabei weltanschaulich orientierungslos wirken. Kurz: Der CDU fehlt ein Kompass, ein identitätsstiftendes Paradigma – aber den anderen Parteien geht es genauso.
Florian Finkbeiner ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Vgl. Maxwill, Peter: 70 Jahre CDU. Fakten gegen die Feierstimmung, in: Spiegel Online, 26.06.2015, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/grafiken-statistik-spricht-gegen-cdu-csu-und-angela-merkel-a-1039547.html [28.06.2015].
[2] Vgl. dazu auch den Text von Malte Lübke in dieser Reihe.
[3] Walter, Franz: Modern zur falschen Zeit, in: Rotary Magazin, H. 1/2015, URL: http://rotary.de/gesellschaft/modern-zur-falschen-zeit-a-6929.html [eingesehen am 30.06.2015].
[4] Vgl. Lucke, Albrecht v.: Leerstelle Konservatismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 2/2009, S. 5-8.
[5] Vgl. Walter, Franz/Werwath, Christian/D’Antonio, Oliver: Die CDU. Entstehung und Verfall christdemokratischer Geschlossenheit, Baden-Baden 2014, S. 198 ff.
[6] Walter, Franz: Was an der Union noch konservativ ist, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, H. 7-8/2009, S. 46-49, hier S. 48.