Bundesrepublik reloaded

Thema: 20 Jahre Berliner Republik (1)

[kommentiert]: Oliver D’Antonio über die Argumente in der Debatte um den Umzug der deutschen Hauptstadt von Bonn nach Berlin ein.

Meine Generation kennt Bonn zumeist nur aus dem Fernsehen, zumal das politische. Man erinnert sich an den „Bericht aus Bonn“, den Friedrich Nowottny lange Jahre in der ARD moderierte und an die in scheinbar jeder Nachrichtensendung präsente Toreinfahrt vor dem Bundeskanzleramt. In Berlin hingegen, im neuen Regierungsviertel am Spreebogen, bewegt man sich mittlerweile fast traumwandlerisch sicher. Man kennt den stattlichen Reichstag, das monströse Bundeskanzleramt, das Paul-Löbe-Haus. Berlin wirkt hier gigantisch und wichtig und gibt der Wirtschaftsmacht Deutschland einen würdigen Anstrich. Wer das Berliner Regierungsviertel kennt und nach Bonn kommt, der ist erstaunt darüber, dass es möglich war, die Republik über Jahrzehnte von diesem idyllischen Ort aus zu regieren.

Berlin gilt heute bei der großen Mehrheit der Deutschen als die anerkannte Hauptstadt der Republik. Mehr als 65 Prozent der Westdeutschen und sogar 82 Prozent der Ostdeutschen hielten im Jahr 2007 den Umzugsbeschluss vom 20. Juni 1991 für richtig. Zwei Jahrzehnte zuvor zeigte sich Deutschland in dieser Frage tief gespalten. Im Dezember 1990 wollten nur 31 Prozent der Westdeutschen Berlin als neuen Regierungssitz sehen, 65 Prozent der Ostdeutschen votierten dagegen für den Umzug an die Spree. In der politischen Arena schien die Stimmungslage noch unübersichtlicher. Gerade die beiden Volksparteien zeigten sich in den Wochen vor der Abstimmung innerlich zerrüttet. Bei einer Probeabstimmung der SPD auf einem Parteitag im Frühjahr 1991 votierten 203 Delegierte für den Verbleib in Bonn, 202 stimmten für den Umzug nach Berlin. Auch die Führungsfiguren innerhalb der CDU waren sich in der Frage uneins: Kanzler Kohl zauderte lange, ehe er sich für den Umzug aussprach. Hingegen galt sein Kanzleramtschef Wolfgang Schäuble als Promotor des Umzugs, während sich der rheinländische Arbeitsminister Norbert Blüm an die Spitze einer Volksbewegung setzte und einen Protestmarsch für Bonn initiierte.

Zehn Stunden dauerte die Redeschlacht an jenem 20. Juni 1991, ehe Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth gegen 21:45 Uhr bekannt gab, dass 338 Abgeordnete für den Antrag „Vollendung der Einheit“ gestimmt hätten, welcher einen Parlaments- und Regierungsumzug vorsah, 320 hingegen votierten für den Verbleib in Bonn. Es war ein knappes Ergebnis für Berlin, das angesichts der heutigen klaren Positionierung der Deutschen nach einer Erklärung sucht.

Vielfach wurde bereits argumentiert, dass vor allem die nord- und ostdeutschen, die protestantischen und die älteren Abgeordneten für Berlin stimmten, die süd- und westdeutschen, die katholischen und jüngeren für Bonn.[1] Die Maßstäbe, welche die einzelnen Abgeordneten an ihre Entscheidung anlegten – die mitunter vielleicht nicht viel mehr waren als ein Bauchgefühl –, dürften nie vollständig zu ergründen sein. Doch die Argumentationslinien in der Debatte können gewisse Aufschlüsse darüber geben, wohin die Debatte gelenkt wurde.

Wer für Bonn war, dies scheinen die Reden am 20. Juni nahezulegen, der dachte zuvorderst ans Geld. Die Kosten der Einheit seien bereits so hoch, dass verantwortliche Politik den Umzug und Neubau einer hauptstädtischen Infrastruktur nicht genehmigen könne. Zudem wurde das Bild eines Niedergangs der Region Bonn, ja sogar des gesamten Niederrheins gezeichnet. In mehreren Reden wurde jedoch deutlich, dass es auch um den Symbolgehalt Bonns ging. Die Bundesstadt stand für eine erfolgreiche und stabile Demokratie, für eine wirtschaftlich starke und doch sozialstaatlich orientierte Industrienation. Die Bonner Republik symbolisierte eine zurückhaltende, fast demütige Grundhaltung. Die bescheidene Hauptstadt signalisierte vor allem nach außen eine Abkehr Deutschlands von nationalistischem und militaristischem Größenwahn und eine Hinwendung zu sachlich-nüchterner, pragmatischer Politik. Eben dies brachten auch die Reden der Abgeordneten zum Ausdruck, als sie sich mit Pathos zurückhielten und die finanziell verantwortliche Politik dem Repräsentationsbedarf Berlins gegenüberstellten.

Auf der anderen Seite stand die Gruppe der Berlin-Befürworter. Diese führten die Debatte mit Emphase und spitzten den Diskurs dramatisch zu: Dem Entscheid wurde eine historisch-nationale, wenn nicht gar europäische Dimension  zugeschrieben. Demgegenüber hätten Regionalismen und bundesdeutscher Provinzialismus zurückzustehen. Konkreter wurden die „Berliner“ selten. Wolfgang Schäuble brachte in seiner viel beachteten Rede auf den Punkt, worum es aus seiner Sicht ging: „Es geht auch nicht um Arbeitsplätze, Umzugs- oder Reisekosten, […] in Wahrheit geht es um die Zukunft Deutschlands.“[2] Berlin wurde zum Symbol des Aufbruchs und der Erneuerung.

Konservative und marktliberale Kräfte hatten sich bereits in den 1980er Jahren an den trägen Strukturen gestört, für die die alte Bundesrepublik und in erster Linie das „Provinznest“ Bonn standen. Sowohl die korporatistischen und sozialstaatlichen Arrangements, als auch die defensive Haltung in der Außen- und Verteidigungspolitik sowie die ängstliche Umgang mit der nationalen Identität standen in der Schusslinie. Die Ablösung Bonns durch Berlin erschien diesen nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Symbol für einen solchen Neuanfang zu bieten. Sicherlich trieben diese Motive nicht alle Bundestagsabgeordneten an, die für Berlin sprachen. Aber tendenziell standen sie einem Ausbruch aus dem Raumschiff Bonn recht offen gegenüber.

Ein Aufbruchsignal erhofften sich in jenen Tagen auch ostdeutsche Politiker von Berlin. Allerdings ging es ihnen eher um eine „gleichberechtigte“ Vereinigung beider Landesteile, die aber von westdeutscher Seite nie angestrebt wurde. Eine neue Verfassung und eine neue Hauptstadt sollten aus Ostperspektive die Symbole eines geeinten Deutschlands darstellen. Auch wurden nicht alle Prinzipien des westdeutschen Staates in Frage gestellt, eine Ergänzung durch die demokratischen Ansätze in der DDR nach dem Revolutionsherbst von 1989 wurde aber durchaus erhofft. Zudem sahen viele Ostpolitiker die Präsenz der Politik in der Hauptstadt Berlin als Zeichen dafür an, dass das zentrale Problem der Republik, der Aufbau in Ostdeutschland, erkannt und lebensnäher behoben werden könnte. Mit der Entscheidung für Berlin zogen zwar Parlament und Regierung in den Osten, doch es sollte der einzige Erfolg der Ostdeutschen in der Neugründungsphase des geeinten Deutschlands bleiben. Eine neue Verfassung bekam die vergrößerte Bundesrepublik nie.

Sicherlich kann nicht per se behauptet werden, dass alle Fürsprecher Berlins eine grundlegende Revision der Republik anstrebten, während die Bonner jeden Erneuerungsbedarf negierten. Tendenziell lässt sich in der Rhetorik des Berliner Lagers jedoch eine größere Offenheit für ein neues Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der Bundesrepublik nach 1990 erkennen. Zunächst knüpfte die Bundesrepublik in den 1990er Jahren an das Erbe der rheinischen Republik an. Jedoch ging ein schleichender Wandel vor sich. Die zunehmend positive Konnotation Berlins in den Jahren nach der Entscheidung zeigte, wie stark Berlin nun auch im Westen Momente wie Bewegung, Dynamik, Modernität und Offenheit zugeschrieben wurden. Bonn hingegen verkam rasch zum Relikt einer untergehenden Ära. Es stand für Statik, Reformunfähigkeit und Langeweile.[3] Der geistige Boden für die ambivalente Wahrnehmung der 1990er Jahre war gelegt: Vereinigungskrise und Reformstaukritik gingen einher mit globalistischer Aufbruchstimmung, New-Economy und Börsenboom-Euphorie. Natürlich hat die neue Hauptstadt Berlin diesen Wandel nicht ausgelöst, aber sie war das Symbol eines Aufbruchs

Oliver D’Antonio ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.


[1] Wengst, Udo: Bonn oder Berlin? Abstimmungsverhalten am 20. Juni 1991, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 3, 1991

[2] Das vollständige Protokoll aller Reden dieser Plenarsitzung findet sich auf der Internetseite http://webarchiv.bundestag.de/cgi/show.php?filetoload=757&id=1082.

[3] Vgl. Caborn, Joannah: Schleichende Wende. Diskurse von Nation und Erinnerung bei der Konstituierung der Berliner Republik, Münster 2006, S. 102ff.