Blick in die Black Box

[präsentiert]: Roland Hiemann über institutionelle Machtstrukturen in Nordkorea und die Studie „Inside the Red Box“.

Autoritäre, vor allem totalitär regierte Staaten umwittert gewöhnlich ein besonderer Mythos: Anders als demokratische Systeme, in denen Gewalten geteilt und Regierungen dem Druck innerstaatlicher Interessenordnungen ausgesetzt sind, handeln diese Regime scheinbar nach innen und außen als monolithische Einheit. Im politikwissenschaftlichen Jargon gelten sie oft als unitäre Akteure, die gemeinhin vom Willen ihrer diktatorischen Potentaten an der Spitze der Macht gesteuert werden.

Nordkorea bietet wohl das beste Beispiel für diese Deutungsweise: Nach dem Tod des „ewigen Präsidenten“ und „Großen Führers“ Kim Il-sung im Jahr 1994, so die häufige Annahme, hätten seine Nachfolger, Sohn Kim Jong-il und Enkel Kim Jong-un (seit 2011), die Geschicke des Landes mit der gleichen ungeteilten Macht gelenkt wie der charismatische und bis heute ehrwürdig gehuldigte Staatsgründer. Dieser Sichtweise folgen nicht nur etliche wissenschaftliche Arbeiten über den international fast völlig isolierten „Einsiedlerstaat“. Vor allem wird dieser Mythos in westlichen Medienberichten – wenn Nordkorea mal wieder wegen Atombombentests oder gigantischen Militärparaden in die Schlagzeilen gerät – über Pjöngjangs „Ein-Mann-Diktatur“ gehegt und gepflegt.

Zugegeben: Regimeinterne Machtstrukturen und Entscheidungsprozesse sind von außen wohl in keinem anderen Land der Welt so schwer zu durchblicken wie im Falle Nordkoreas. Und doch scheint das nicht gänzlich unmöglich, wie Patrick McEachern in Inside the Red Box: North Korea’s Post-Totalitarian Politics unter Beweis gestellt hat. Über 4000 Propagandaschriften, Zeitungsartikel und Reden hochrangiger Regimeangehöriger hat der noch junge amerikanische Politikwissenschaftler durchforstet – vorrangig im Zeitraum von Kim Jong-ils Herrschaft. Zwar haben seine Erkenntnisse unter Nordkoreaexperten sicher nicht wie eine Bombe eingeschlagen, doch zeigt McEachern ergiebig wie pointiert, dass man auch Nordkoreas Politik durch einen unkonventionellen, aber gleichwohl empirisch fundierten Blick in die Black Box nachvollziehbar machen kann.

McEachern argumentiert folgendermaßen: Während Kim Il-sung tatsächlich noch als totalitärer Diktator herrschte, hat sich die Volksrepublik unter dessen Sohn zu einem post-totalitären System entwickelt, in dem verschiedene Institutionen um Einfluss und Macht ringen. Genauer handelt es sich um die Partei (die Koreanische Arbeiterpartei), das Militär (die Koreanische Volksarmee) und um den zivilen Regierungsapparat. In verschiedenen Politikbereichen haben diese drei regimeinternen Machtblöcke zumeist divergierende Interessen verfolgt, artikuliert und unter der Ägide des „lieben Führers“ auch durchsetzen können, wobei sich ihre jeweiligen Präferenzen über die Zeit hinweg kaum verändert haben.

Die Partei ist die Basis der Ideologen, die sich ganz traditionalistisch dem revolutionären Kampf gegen die äußeren Feinde des Sozialismus nordkoreanischer Provenienz verschrieben haben. Chuch‘e, die in den 1960er Jahren dekretierte Ideologie der Selbstbehauptung, ist für sie kein massenmobilisierender Ausruf längst vergangener Tage, sondern streng nationalistische Leitlinie hinsichtlich jeder Art des staatlichen Handelns – bis zum heutigen Tag. Annäherung mit dem Süden, Entspannung mit den „imperialistischen“ USA oder grundlegende Marktreformen stoßen in der Partei auf taube Ohren, und zwar aus Prinzip. Etwas anders, etwas pragmatischer sieht es das Militär. Wie in vielen (demokratischen) Staaten gewöhnlich auch, nimmt die Verteidigung des Landes hier höchste Priorität ein; das in Nordkorea horrend hohe Militärbudget zugunsten wirtschaftlicher Reformen zu kürzen, würde in den Augen der Generäle die Sicherheit der Volksrepublik existentiell untergraben. Im Kabinett schließlich dominiert der nach außen hin und wieder aufflackernde Wille, das Land vorsichtig zu öffnen und zu modernisieren. Diplomatische Verhandlungen und Kooperationen mit den USA und Südkorea werden von den zivilen Machtstellen (etwa im Außenministerium) als ein legitimes Instrument unter vielen anerkannt.

McEachern legt detailliert dar, wie die Eliten in Partei, Militär und Regierung zu verschiedenen Zeiten verschiedenen Einfluss auf Nordkoreas Politik genommen haben; mithin trat das auch nach außen sichtbar zutage. Ein Beispiel: Als im Oktober 2002 Unterhändler der US-Regierung Kim Jong-ils Diplomaten mit dem Vorwurf konfrontierten, ein zweites, geheimes Atomprogramm zur Urananreicherung zu betreiben, entlud sich dieser Streit in einer handfesten Nuklearkrise. Während das Außenministerium verlautbaren ließ, man wolle an kürzlich auf den Weg gebrachten Reformen festhalten und den Atomstreit diplomatisch beilegen, sparte die Armee nicht an flammender Drohrhetorik und beschuldigte Washington seiner „arroganten und rüpelhaften Manöver“, die „unsere nationale Souveränität ernsthaft gefährden“ (S. 166). Wie der weitere Verlauf des Atomkonflikts zeigen sollte, behielten die auf Konfrontation und nukleare Aufrüstung pochenden Kräfte für viele Jahre die Oberhand.

Die Erkenntnis, dass auch in Nordkorea – in gewiss ganz eigener Spielart – das Phänomen von „bureaucratic politics“ zu finden ist, widerspricht dem konventionellen Verständnis Nordkoreas als undurchschaubares System auf bedeutsame Weise. So ist etwa Pjöngjangs langjährig praktizierter Zick-Zack-Kurs zwischen Konfrontation und Kooperation nicht, wie oftmals kolportiert, einer unberechenbaren, gar verrückten Führung geschuldet, die zu „rationalen“ Entscheidungen überhaupt nicht in der Lage sei. Stattdessen verbirgt sich hinter diesem scheinbar widersprüchlichen Verhalten häufig auch das Spiel intern konkurrierender Institutionen.

Natürlich: Die Analogie zu regierungsbürokratischen Aushandlungsprozessen westlich-demokratischer Art sollte – aus vielerlei offensichtlichen Gründen, die mit den autoritären und ideologischen Systemeigenschaften zu tun haben – gewiss nicht überstrapaziert werden. Und an der herausragenden und dominanten Position des dynastischen Führers an der Spitze des nordkoreanischen Staates kann kein Zweifel bestehen; das vergisst auch McEachern nicht zu unterstreichen. Und dennoch konnte Kim Jong-il nicht immer per diktatorischem Dekret herrschen. Auch er musste auf die verschiedenen Interessenlagen von Partei, Militär und Regierung, die allesamt im Agenda-Setting mitmischen, im Sinne seines eigenen Machterhalts stets Rücksicht nehmen. Das gilt im Übrigen wohl umso mehr für seinen Sohn, dem noch sehr jungen Kim Jong-un. Der muss sich seine Meriten als neuer Führer und den Respekt der Nomenklatura erst noch erarbeiten – was ihm bisher jedenfalls auch zu gelingen scheint.

McEacherns Ansatz, Nordkoreas Politik aus dem Inneren heraus und mit Blick auf seine Institutionen zu deuten, bringt aber offensichtlich einige Schwierigkeiten und vor allem auch methodische Fallstricke mit sich. So ist es etwa das eine, Interessenkonkurrenzen durch die Analyse öffentlicher Äußerungen (mit ohnehin stets unklaren Intentionen) festzustellen, ein gänzlich anderes jedoch, verlässliche Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie diese Interessen von der Führungsclique tatsächlich ausgehandelt werden. Letzteres bleibt auch weiterhin schier unmöglich. Allerdings hat McEacherns innovative und hervorragend dokumentierte Analyse in vielerlei Hinsicht große Vorzüge vor konventionellen Lesarten – und sie sollte uns vor allzu simplen Nordkoreaporträts, die den Staat als klassisch totalitären Monolithen zeichnen, bewahren.

Roland Hiemann arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Rezension zu:

Patrick McEachern, Inside the Red Box: North Korea’s Post-Totalitarian Politics, New York [u.a.] 2010.

Eine gekürzte Fassung dieses Textes wird in der kommenden Ausgabe von ASIEN – German Journal on Contemporary Asia als Rezension erscheinen.