[kommentiert]: Jan Kotowski über Obamas Immunität gegenüber politischen Skandalen
Wie groß müsste eigentlich der politische Skandal sein, der Barack Obama zu Fall bringen, oder vielleicht etwas weniger drastisch: ihm ernsthaften politischen Schaden zufügen könnte? Nimmt man Obamas noch junge zweite Amtszeit als Ausgangspunkt solcher Überlegungen, dann ergibt sich fast zwangsläufig die Erkenntnis, dass Obama eine erstaunliche Immunität gegenüber politischen Skandalen besitzt. Jedenfalls ist unverkennbar, dass viele politische Entwicklungen, die sich für andere Politiker zweifelsfrei zu Skandalen ausweiten würden, an dem Präsidenten einfach abperlen.
Nun sind Skandale freilich ihrem Wesen nach mit einer normativen Dimension ausgestattet. Das heißt, dass es zum einen politische Entwicklungen und Verhaltensweisen gibt, die von der Öffentlichkeit oder den Medien als skandalös – oder zumindest als sehr problematisch – empfunden werden (man denke beispielsweise an die jüngsten Vorgänge um den deutschen Verteidigungsminister) und als Reaktion eine entsprechende politische Verurteilung und Druckausübung nach sich ziehen. Zum anderen gibt es aber auch politische Prozesse oder Handlungen, die man mit Fug und Recht als skandalös betrachten könnte, die jedoch öffentlich gar nicht als Skandal wahrgenommen werden oder deren „Skandalisierung“ – aus welchen Gründen auch immer – scheitert.
Zur ersten Kategorie gehören die Skandale, die Mitte Mai 2013 in eine „Skandalwoche“ für die Obama-Administration kulminierten, ohne jedoch dauerhaften politischen Schaden anzurichten: (1) der „Benghazi-Skandal“ um den Tod des amerikanischen Botschafters in Libyen am 11. September 2012, (2) das gezielte Vorgehen der Steuerbehörde IRS gegen die Tea-Party-Bewegung und (3) die vom Justizministerium unternommenen Zwangsvorladungen von Journalisten von Associated Press und Fox News.
Zur zweiten Kategorie gehören drei grundlegende policies der Obama-Regierung, die zwar allesamt mit reichlich Kritik bedacht worden sind, ohne jedoch den Grad breiter politischer Empörung hervorzurufen, der ihnen eigentlich gebührt: (1) der Drohnenkrieg in Pakistan, (2) die Militarisierung der Landesgrenze zu Mexiko und die Intensivierung des Deportationsregimes und (3) die jüngsten Enthüllungen bezüglich der weitreichenden Überwachungstätigkeiten der National Security Agency.
Während die ersten drei „Skandale“ vor allem durch ihre zeitliche Parallelität auffielen (auch wenn die Skandalisierungsversuche bezüglich Benghazis seitens der politischen Rechten bereits deutlich länger zurückliegen), sind die „Skandale“ der zweiten Kategorie primär Konstanten in Obamas Außen- und Innenpolitik. Das jüngste Aufheben um die NSA hat zwar durchaus hohe mediale Wellen geschlagen. So konstatierte beispielsweise die New York Times der Obama-Regierung einen völligen Glaubwürdigkeitsverlust in Bezug auf Geheimdiensttätigkeiten. Was dabei jedoch ausblieb, und dies ist der springende Punkt, war eine breite, auf Obama persönlich ausgerichtete politische Druckausübung.
Nun unterscheiden sich die beiden Skandalkategorien aber auch in einem weiteren entscheidenden Punkt: Obamas persönlicher Verantwortung. Während er sicherlich auch die letztendliche politische Verantwortung für das Verhalten von hochrangigen Mitarbeitern im Außen- und Justizministerium sowie des IRS zu tragen hat, so unterscheiden sich diese Skandale doch grundlegend von den politischen Leitlinien, die Obama in Pakistan, an der mexikanischen Grenze und im Internet vorgibt. Niemand zwingt den Präsidenten, einen Drohnenkrieg zu führen, Millionen von Menschen zu deportieren oder eine neue Dimension der Alltagsüberwachung zu etablieren. Vielmehr sind dies allesamt politische Abwägungsentscheidungen. Und dass all diese in einer Art und Weise ausfallen, die eher einem konservativen Hardliner gebühren als einem ehemaligen Jura-Professor, der seine Wahlerfolge zuvorderst einer Koalition von Minderheiten und Jungwählern verdankt, ist der eigentliche Skandal.
Woran liegt es nun, dass Obama sich niemals persönlich zu verantworten hat? Einen wesentlichen Grund meine ich aus den anekdotischen Erfahrungen meiner Lehrtätigkeit an einer kalifornischen Universität ableiten zu können: Dass nämlich Obamas Image als „guter Mensch“ ihn vor politischen Schuldzuschreibungen in einer unvergleichlichen Weise schützt. Es ist zum Beispiel wenig überraschend, dass Studenten aus der Mittelklasse sich nicht mit den Problemen undokumentierter Einwanderer auseinandersetzen. Konfrontiert man sie jedoch mit den politischen Realitäten, so bricht für sie eine Welt zusammen – oder sie reagieren apologetisch und nehmen Obama in Schutz.
Der US-Präsident ist für viele Bürger nach wie vor eine Projektionsfläche für ein besseres Amerika. Von ihnen, die an diesem Weltbild festhalten, wird Obama von jeglicher persönlicher Verantwortung freigesprochen; alles Unerfreuliche sei den vermeintlichen Zwängen des hässlichen Politikgeschäfts geschuldet.
Obama thront über solchen Niederungen mit unverdienter moralischer Erhabenheit. Eigentlich ein Skandal.
Jan Michael Kotowski ist Dozent an der University of California Santa Cruz.