[analysiert]: Bettina Munimus über den politischen Aufstieg von Heide Simonis zur ersten Ministerpräsidentin Deutschlands
So phänomenal und unerwartet Heide Simonis zur ersten Ministerpräsidentin im Mai 1993 gekürt wurde, so grotesk und ungeahnt war ihr Sturz im Jahr 2005. Ihr unschönes Ende als Spitzenpolitikerin besiegelte ein unbekannter Landtagsabgeordneter aus den eigenen Reihen, der ihr die entscheidende Stimme für die Wiederwahl in vier Wahlgängen verwehrte. Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Sozialdemokratin Simonis zwölf Jahre an der Spitze in Schleswig-Holstein stand und damit länger als ihre männlichen Vorgänger.
Ihr Aufstieg zum ersten weiblichen Staatsoberhaupt eines Bundeslandes wurde durch die „Barschel-Affäre“ begünstigt: Ministerpräsident Björn Engholm und dessen Stellvertreter Günter Jansen hatten zugegeben, nicht die ganze Wahrheit im Fall Barschel gesagt zu haben – und traten daraufhin von ihren Posten zurück. Die allein regierende SPD musste rasch eine Nachfolge für den durchaus beliebten Landesvater Engholm finden. Die Wahl fiel auf Heide Simonis. Als Finanzministerin war sie zwar Mitglied in Engholms Kabinett gewesen, gehörte jedoch nicht zu seinem engsten Umfeld und galt nicht als Mitwisserin.
Mit Simonis an der Spitze konnte die SPD eine Frau präsentieren, die als Novum den moralischen Neuanfang im affärengeplagten Schleswig-Holstein verkörperte. Und tatsächlich war Simonis’ Ernennung ein historisches Ereignis: Sie war die erste Frau im Amt des Ministerpräsidenten – keine Frau hatte zuvor ein ähnlich hohes Regierungsamt inne.
Viele sahen in ihr jedoch auch die Alibifrau, die nur zum Zuge kam, weil die Männer zuvor die Sache in den Sand gesetzten hatten. Sie sagte das auch von sich selbst. Doch Simonis’ Aufstieg gelang nicht allein durch den Zufall eines Skandals.
Schon früh hatte sie ihre politische Karriere sukzessiv vorangetrieben: Auf ihrem Karriereweg nach oben durchlief sie die innerparteiliche Ochsentour, übernahm in ihrer politischen Anfangszeit ein kommunales Mandat und sicherte sich als Mitglied im Kreisvorstand der SPD in Kiel innerparteilich ab. Mit dem Entschluss, sich in der SPD zu engagieren, war Simonis angestrengt danach bestrebt, politisch aufzusteigen. Sie konnte sich auch deshalb intensiv der Politik widmen, da sie frei war von familiären Verpflichtungen: Ihr Mann Udo arbeitete als Professor in Berlin und das Paar hatte keine Kinder.
Sie bemühte sich im Bundestagswahlkampf 1976 um ein Mandat in Bonn. Mit dem Kontrastprogramm „jung, links, akademisch, weiblich“ im konservativen, agrarisch geprägten Wahlkreis Rendsburg-Eckernförde konnte die damals 33-Jährige gegen den etablierten Bauernpräsidenten und CDU-Gegenkandidaten Karl Eigen punkten. Sie wurde direkt gewählt.
Gleich nach ihrem Einzug in den Bundestag bestand die junge Abgeordnete selbstbewusst darauf, in den Haushaltsausschuss entsandt zu werden – damals eine reine Männerdomäne. Bereits im darauffolgenden Jahr stieg sie zur Sprecherin der SPD-Fraktion im Haushaltsausschuss auf. Die Diplom-Volkswirtin verfügte neben ihrer fachlichen Qualifikation auch über notwendige Durchsetzungsstrategien. Während ihrer Zeit als Bundestagsabgeordnete von 1976 bis 1988 profilierte sie sich auch auf bundespolitischer Ebene, etwa als sie sich zusammen mit einigen Kollegen öffentlich gegen die Erhöhung der Mandatsdiäten aussprach.
Um letztlich politisch zu reüssieren und in der männlich dominierten politischen Machtarena zu bestehen, adaptierte Simonis bestimmte Verhaltensweisen:. Sie war darauf bedacht, durch fachliche Kompetenz und fundierte politische Standpunkte ihr Können unter Beweis zu stellen und Männern auf Augenhöhe zu begegnen. Als Frau wurde sie von ihren männlichen Kollegen häufig unterschätzt und musste sich deshalb zunächst den Respekt als ebenbürtige Mitspielerin erwerben.
Ohne die gesellschaftliche und auch innerparteiliche Diskussion der siebziger und achtziger Jahre über die politische Beteiligung von Frauen hätte Simonis wohl nicht in dieser Form politisch aufsteigen können. Simonis selbst gehörte allerdings keiner der ausgewiesenen Frauenorganisationen der SPD an und vermied frauenpolitische Themen. Ihren Weg zur Macht verdankte Simonis keiner innerparteilichen Frauenquote.
Indes: Das Leitmotiv der „einzigen Frau unter Dutzenden Männern“ war eines ihrer wesentlichen Charakteristika. Das Frausein versuchte Simonis in Situationen für sich zu nutzen, in denen ihre „exotische“ Wirkung in den Reihen der schwarzen Anzugträger zur Geltung kam. Sie stach durch ihre schillernde Erscheinung optisch hervor und unterstrich ihr Frausein, allerdings hütete sie sich stets davor, keine Angriffsfläche für sexistische Äußerungen zu bieten.
1988 wurde Simonis Finanzministerin in der Regierung Björn Engholms. Dies wurde sie nicht nur, weil Engholm einige Frauen an seinen Kieler Kabinettstisch holen wollte. Vielmehr sprachen andere Qualitäten für ihre Ernennung: Als eine der wenigen SPD-Politikerinnen war sie sowohl in der Landespartei als auch in Bevölkerung bekannt. Zudem hatte die Diplom-Ökonomin sich in finanzpolitischen Fragen einen Namen gemacht. Vor allem aber erschien Simonis durch ihre frische, zuweilen auch provokative Art und ihre verbale Unkonventionalität als eine Exotin mit Entertainer-Qualitäten im deutschen Politikbetrieb. Sie galt als schlagfertig, kess und eloquent.
Simonis’ politischer Aufstieg scheint also nur auf den ersten Blick eine Anhäufung von Zufällen gewesen zu sein. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich: Sie vermochte die sich ihr öffnenden „Fenster der Gelegenheiten“ geschickt zu nutzen. Und es steckte auch harte Arbeit dahinter. Es war die Kombination aus der aufkommenden Bedeutung des Faktors „Frau“ in der Politik, Simonis’ anfänglich linke Dogmatik im Einklang mit dem SPD-Landesverband Schleswig-Holstein, das Mittel der rhetorischen Provokation und nicht zuletzt ihre Sachkompetenz und das erworbene Ansehen im „harten“ Männerbereich Finanzen, die das Image der agilen und führungsstarken Powerfrau prägte und sie sukzessiv bis zur ersten Ministerpräsidentin Deutschlands aufstiegen ließ.
Bettina Munimus hat eine politische Biographie zu Heide Simonis geschrieben. Das Buch erscheint im November 2010. Bettina Munimus: Heide Simonis – Aufstieg und Fall der ersten Ministerpräsidentin Deutschlands. Mit einem Geleitwort von Heide Simonis, Göttinger Junge Forschung 5, ibidem-Verlag, Stuttgart 2010, 206 Seiten.